zum Gedenken

Dieter Noll

Die Abenteuer des Werner Holt

Roman einer Jugend

Erstes Buch

1

   Die Stadt war bestürzend fremd. Die Kulisse der Berge fehlte; nur Hügel zogen sich am Horizont hin. Betreten, unlustig und niedergedrückt sammelte sich die Klasse vor dem Bahnhof, einem nüchternen Backsteinbau, über dessen flachem Dach die Nachmittagssonne stand.

   Im Einberufungsbefehl hieß es: "Schwere Heimatflakbatterie 107/111, Großkampfbahn." Das klang geheimnisvoll. Wolzow fragte einen Passanten. Großkampfbahn? Es war außerhalb der Stadt, sehr weit draußen, ein Sportstadion. "Da siehst du´s", sagte Holt zu Gomulka. "Was habe ich mir nicht alles darunter vorgestellt! Und nun ist es ein Fußballplatz." Warum kümmert sich keiner um uns? dachte er. Noch nie hatte er seine Heimatlosigkeit so deutlich empfunden wie nach dem Abschied von Uta. Wolzow erklärte: "Unaufgefordert tu ich keinen Schritt. Die wissen ja, dass wir kommen!" Um ihn scharten sich Holt, Gomulka, Vetter und Zemtzki, auch Rutscher, Weber, Branzner, Kirsch, Glaser, Gutsche, Kattner, Moebius, Schachner und Thiele. Die anderen, Nadlers Gefolgschaft, Schenke, Schönfeldt, Schulz, Götze, Grubert, Hampel, Kieback, Klein, Kuhlmann, Ebert, Kunert und Schlemm, erklärten wie auf Verabredung, es sei besser, zur Batterie hinauszumarschieren. Nadler, die grüne Führerschnur an der Uniform, ließ antreten, und die kleine Kolonne verschwand um die Ecke.

   "Lass sie doch gehn, die Speichellecker, die verdammten!" sagte Wolzow mit einer wegwerfenden Handbewegung. Er überlegte. Dann ging er in eine Telefonzelle.

   Holt saß bei seinem Glas Bier und hörte nicht auf das Gespräch der anderen. Der Abschied war noch nicht verwunden. Keiner wusste, was kam... Schon war der Bruch da. Nur Wolzows Faust hatte die Klasse zusammengehalten. Was hier au den Tischen saß, das waren auch bloß Statisten, die vorläufig Wolzows Macht vertrauten und doch sofort ins andere Lager überlaufen würden, wenn es der Vorteil verlangte. Auf Gomulka ist Verlass, dachte Holt. Der wird sich nie von mir und Gilbert lossagen. Auch Vetter nicht, der hängt an Gilbert wie ein Hund. Und Zemtzki? Wer weiß?

   Wolzow setzte sich zu Holt. "Das wär geschafft. In einer halben Stunde ist ein Lastwagen hier." Er erzählte. Da sei ein Mädchen am Telefon gewesen, er habe es sehr wichtig gemacht, mit "Transportleitung und so". "Sie hat mich 'Herr Leutnant' angeredet." - Angeredet? Hoffentlich geht´s gut aus!

   "Da wern die andern aber giften!" rief Vetter.

   Gomulka spielte nachdenklich mit einem Bierdeckel. "Wir müssen uns vorsehen, sonst ziehn wir den kürzeren! Zu Hause konnten wir notfalls sagen, lasst uns in Ruh, in vier Wochen geht´s zur Flak... Aber hier...?"

   Wolzow knallte das Bierglas auf den Tisch. "Ich werde ein erstklassiger Soldat, das steht fest."

   Draußen warf die Sonne nun schon lange Schatten über den Platz. Ein graugestrichener Lastwagen klapperte um die Ecke. Aus dem Führerhaus sprang ein Soldat, am Kragen die roten Spiegel der Flakartillerie, auf dem Ärmel einen Gefreitenwinkel. "ich soll hier´n Leutnant Wolzow und siebenundzwanzig Mann abholen."

   Wolzow tat erstaunt. "Da muss sich das Fräulein verhört haben!" Der Gefreite schaute misstrauisch. "Los... rauf!" Sie warfen das Gepäck auf den Wagen. Wolzow und Holt stiegen vorn ein. Zu dritt saßen sie auf der harten Sitzbank.

   Die Stadt zeigte enge, winklige Gassen, kopfsteingepflastert, und der Wagen rumpelte und holperte, ehe er die lange Chaussee zwischen Lauben und Schrebergärten hinausrollte. Der Gefreite saß stumm und mürrisch hinter dem Lenkrad. Wolzow kramte eine Handvoll Zigarren hervor. Der Gefreite schob sie gleichmütig in die Brusttasche. Nun taute er auf.

   "Wie ist´s da draußen?" fragte Wolzow. "Schieben ´ne ruhige Kugel", antwortete der Gefreite, der höchstens neunzehn Jahre alt war. "Ist ja nischt los hier!"

   Der Wagen hatte eine Anhöhe erklommen. Das Gelände lag weit und offen vor ihnen. Verdrossen marschierte Nadler mit seinen Leuten den Weg entlang. "Fahr weiter!" befahl Wolzow. Der Gefreite gab Gas. Enttäuschtes Geschrei blieb hinter Ihnen zurück. "Verdammte Radfahrer", sagte Wolzow. Der Gefreite antwortete nicht.

   Weit vor ihnen, auf der Anhöhe zwischen Wiesen und Äckern, zeichnete sich das Oval des Sportstadions ab und ein vielstöckiges, hohes Tribünengebäude.

   Auf dem flachen Dach waren ein paar winzige, graue Gestalten erkennbar und ein großes, von einer Plane überdecktes Gerät.

   "Sieht aus wie´n Horchgerät, nicht?" sagte Holt.

   "Horchgerät?" Wolzow schnob durch die Nase. "Quatsch! erstens heißt das Ringrichtungshörer, zweitens benutzt so´n Ding heut keine Sau mehr. Das ist ein Funkmessgerät." - Fu-MG sagen wir", meinte der Gefreite. Der Wagen bog von der Chaussee in einen breiten, mit Schlacke bestreuten Fahrweg. Sie näherten sich dem Stadion.

   Hier, auf der Anhöhe, schien noch hell und gleißend die Abendsonne und blendete Holt. Genauso hatte das Licht die Landschaft überflutet, als er mit Uta durch den Wald gegangen war... Vor vierundzwanzig Stunden!

   "Wir sind gleich da", sagte der Gefreite.

   Holt sah ein paar Baracken. Jenseits des Stadions, auf dem blanken Acker, erhoben sich im Kreis um eine größere Erdaufschüttung sechs graue Hügel. Der Gefreite hielt vor einer der Baracken. "Raus!" Sie sahen dem davonklappernden Wagen nach. Niemand kümmerte sich um sie.

   "Wird schon stimmen!" sagte Wolzow. Er trat als erster durch die Barackentür. Ein schmaler Korridor und zwei einander gegenüberliegende Türen, zwei große Stuben, mit Doppelbetten und Spinden eingerichtet, unbewohnt, verdreckt und unordentlich. "Schlimmstenfalls müssen wir umziehen. Aber rumstehen demoralisiert." Wolzow beschlagnahmte die Stube, die nach Süden lag.

   Holt hatte sich ein Bett am Fenster gesichert, oben, weitab von der Tür, durch ein paar Spinde gegen Sicht gedeckt. Wolzow belegte das Bett daneben, Gomulka begnügte sich mit der unteren Lagerstatt. Der Unrat, der überall in Haufen herumlag, deprimierte Holt. Aber Wolzow nahm das Heft in die Hand. "Los, erst mal weg mit der Sauerei! Ich will mal sehn, ob ich einen Besen organisieren kann!"

   Es war mäuschenstill in der Stube, aber Wolzow konnte nicht sehen, dass da ein stämmiger Mann von vielleicht fünfunddreißig Jahren breitbeinig in der Tür stand, das Käppi schief auf dem Kopf, die blaue Uniform voller Silber. Die Jungen glotzten ihn mit aufgerissenen Augen an. Holt versuchte, Wolzow ein Zeichen zu geben, aber hinter den Spinden brüllte es ungehemmt weiter: "Saustall! Da müssen ja Hottentotten drin gehaust haben!" Dann erst sah Wolzow, dass jemand in die Stube getreten war.

   Gar nicht schlecht", sagte der Fremde. "Hottentotten ist wirklich nicht schlecht!" Er trat zwischen die Spinde, sein Blick ging über die Jungen hinweg und blieb an Kirsch hängen. "Name?"

   Kirsch würgte das Brot hinunter, an dem er kaute, versuchte den Stern auf den silbergeränderten Schulterklappen zu deuten und antwortete: "Kirsch, Herr Feldwebel!"

   "Schade. Bei uns heißt der Feldwebel Wachtmeister. Also noch mal: Ihr Name?"

   "Kirsch, Herr Wachtmeister!"

   "Jammerschade! Taucher? Frauenarzt? Kalfaktor?"

   Wolzow wagte zu grinsen, und er grinste dem Vorgesetzten mitten ins Gesicht. Der zog ein wenig die Brauen hoch. Kirsch schrie, zum dritten Mal: "Luftwaffenhelfer Kirsch, Herr Wachtmeister!"

   "Herrlich!" Der Vorgesetzte strahlte. Holt beobachtete ihn unablässig. "Richtig! Sie sind gut! Sie merk ich mir! Aber eine Eins gibt das nicht, weil´s erst beim dritten Mal geklappt hat. Eine Zwei sollen Sie haben!" Er zog ein Notizbuch aus dem Waffenrock und notierte. Dann wandte er sich Wolzow zu. "Name?" - "Luftwaffenhelfer Wolzow, Herr Wachtmeister!" - "Beruf des Vaters, Wolzow?" - "Oberst, Herr Wachtmeister! Er ist..."

   "Au!" rief der Wachtmeister. "Das durfte nicht kommen, das will ich lieber nicht gehört haben! Sagen Sie schnell den Beruf Ihres Onkels, vielleicht passt er besser!" - "Generalmajor, Herr Wachtmeister!" - "Grauenhaft!"

   Holt überlegte, was daran wohl so grauenhaft sein könne, und hörte den Wachtmeister betrübt sagen: "Jetzt muss ich Ihnen Nichtgenügend geben. Wissen Sie, warum?" - "Nein, Herr Wachtmeister!"

   "Diese Burschen" - er deutete auf die umstehenden Jungen - "behaupten sonst, ich ziehe Sie vor, weil Sie einen Onkel bei der Generalität haben!" Er schrieb wieder in sein Notizbuch. "Ich bedaure Sie, Wolzow! Sie werden´s bei mir sehr schwer haben!" Dann schob er das Notizbuch zwischen zwei Knöpfe seines Waffenrockes und schaute von einem zum anderen. "Ich bin Gottesknecht. Wachtmeister Gottesknecht. Ausbildungsleiter..." Das Gesicht blieb ernst und ungerührt. "Die mich kennen", fuhr er fort, "die sagen, ich sei wirklich Gottes Knecht, aber wer hier groß angibt, der wird meinen, ich sei des Teufels."

   Er schlenderte durch die Stube. "Ich brülle nie, aber ich verteile pausenlos Zensuren, von eins bis sechs, wie in der Schule. Wer fünfmal Eins hintereinander schafft, der bekommt Extraausgang. Kommt sehr selten vor." Er blieb vor Holt stehen, musterte ihn und fragte: "Ihr Name?"

   "Luftwaffenhelfer Holt, Herr Wachtmeister!" Gottesknecht zog das Buch und notierte. "Beruf des Vaters?" - "Lebensmittelprüfer, Herr Wachtmeister", sagte Holt vorsichtig. - "Enorm! Da müssen Sie mal den Harzer Käse hinschicken, den´s hier gibt, darin soll Gips sein, und... sonst was, damit er besser stinkt."

   Holt lachte los, Gomulka und Wolzow lachten gleichfalls, die anderen zogen verlegene Gesichter. Der Wachtmeister strahlte. "Wahrhaftig! Sie lachen über meinen Witz! Das bringt Ihnen Sehrgut!" Er fragte Gomulka nach dem Namen und notierte. "Bei mir darf gelacht werden. Aber wer falsch lacht, bekommt Mangelhaft. Wer gar nicht lacht, bekommt pausenlos Nichtgenügend wegen Feigheit!... Gomulka, Beruf des Vaters?"

   Gomulka sagte nach kurzem Zögern: "Gerichtsmitarbeiter, Herr Wachtmeister!" - "Richter?" fragte Gottesknecht misstrauisch, "Nein, Herr Wachtmeister, Rechtsanwalt!" - "Da haben Sie aber Glück! Die Söhne der hohen Obrigkeit haben bei mir nichts zu lachen!" Er ging zur Tür. "Zwei Mann mitkommen. Besen holen, Decken holen. Revierreinigen, dann Feierabend." Rutscher und Branzner folgten ihm.

   Holt sagte zu Gomulka: "Sag bloß... Was hältst du von dem?" - "Alles Theater, alles Mache", antwortete Wolzow. "Der ist ganz anders! Der ist eiskalt!"

   Die Stube war sauber aufgeräumt, als endlich Nadler mit seinen Leuten in den Korridor polterte. Er zog ein verbittertes, gekränktes Gesicht und trug keine Führerschnur mehr. Wolzow wies ihm die gegenüberliegende Stube an. "Das war ganz unkameradschaftlich, dass ihr uns nicht mitgenommen habt", klagte Nadler. "Wer sich von der Hauptmacht absondert, hat immer mit bösen Folgen zu rechnen", erklärte Wolzow. Der semmelblonde Kattner knallte Nadler die Tür vor der Nase zu. "Die Heinis", erzählte Rutscher, "sind Gottesknecht in die Arme gerannt. Er hat ihnen allen Mangelhaft gegeben, weil sie später gekommen sind a-a-als wir! Der Nadler hat Nichtgenügend, weil ein Luftwaffenhelfer keine F-f-führerschnur tragen darf."

   Holt winkte Gomulka nach draußen. Vor der Baracke sah er sich vorsichtig um. Die Sonne war am Versinken und stand als große, blutrote Scheibe in einer Dunstschicht über den Hügeln. Unmittelbar vor der Baracke lief der breite, schlackebestreute Weg entlang, an vier oder fünf weiteren Baracken vorbei, hinter denen sich das Stadion erhob. Rechts davon, im Norden, lag die Feuerstellung.

   Vom Wege führten Lattenroste zu den Geschützständen. Vor einem der grauen Erdwälle blieben Holt und Gomulka stehen. Die Erde war etwa zwei Meter hoch aufgeschüttet, der Eingang, sauber mit Brettern verschalt, im Zickzack durch den Wall geschnitten.

   Holt ging voran, Die Wände des Geschützstandes waren mit Balken abgesteift, der Boden mit Schlacke bestreut. Schwarz gähnte der Eingang eines Unterstandes. Die Kanone war mit einer erdfarbenen Persenning zugedeckt, und nur das schlanke Rohr und die Holme der Kreuzlafette schauten darunter hervor. An der Kanone stand ein großer, hagerer Bursche, der nicht viel älter als Holt sein mochte, gekleidet in eine schmucklose, graublaue Uniform ohne Spiegel und Schulterklappen. Am rechten Ohr trug er einen großen, mit dickem Gummiwulst abgedichteten Kopfhörer, um den Hals ein Kehlkopfmikrophon, dessen Schalter mit einer Klemme vorn an der Feldbluse befestigt war. Der Bursche ging einer unverständlichen Tätigkeit nach. Er lockerte die Plane, steckte ein Kabel in einen Kontakt, hob einen zweiten Kopfhörer an das freie Ohr, lauschte angestrengt, legte den Kopfhörer weg, und während er schon am Kehlkopfmikrophon schaltete, sagte er: "Anton... Zünder gut!" Dann stieg er über einen Holm, hob an einer anderen Stelle die Plane hoch, und das unverständliche Spiel wiederholte sich. "Anton... Seite gut!" Er nahm die blaue Schimütze ab, riss die Hörgarnitur und das Kehlkopfmikrophon herunter und hängte beides in den Unterstand. Dann sagte er, mit einem Blick auf Holt und Gomulka: "Na?"

   "Wir sind heut angekommen. Ich heiße Holt." - "Oberhelfer Berger." Der Fremde deutete eine Verbeugung an. "Schon länger dabei?" fragte Holt. - "Halbes Jahr." - Holt kramte Zigaretten hervor. Sie rauchten. "Was hast du denn eben gemacht?" fragte Gomulka. - "Na, halt Leitungsprobe. Ewiger Mist. Jeden Tag dreimal, früh, mittags, abends." - "Und sonst?" fragte Holt. "Wie ist es sonst?" - "Hier ist nichts los", sagte Berger. "Ruhige Tour. Vormittags Schulunterricht, nachmittags Dienst." - "Und schießen? Schießt ihr manchmal?" - "Schießen? Hierher hat sich höchstens mal´n Aufklärer verirrt. Geschossen haben wir bloß in der Ausbildung, auf´n Luftsack!"

   "Miese Aussicht", sagte Holt. Aber da verzog Berger den Mund. "Ihr werdet die Schnauze noch früh genug vollkriegen", sagte er. "Ihr bleibt doch nicht hier!"

   Holt wechselte einen Blick mit Gomulka. "Erzähl mal. Wo kommen wir denn hin?"

   "Ihr werdet hier ausgebildet, weil in dieser Gegend Ruhe herrscht", sagte Berger. "Ihr seid Batterie 107/III, wir sind 329/XII, mit uns habt ihr gar nichts zu tun. Eure Untergruppe liegt woanders." - "Wo?" fragten Holt und Gomulka gleichzeitig. "Bisher in Hamburg. Dort ist eure Batterie angegriffen worden. Elf Tote, sechzehn Schwerverletzte."

   Tote? Schwerverletzte? Holt sagte: "Vielleicht sind das bloß Gerüchte!" - "Da sind doch Leute hier, die euch ausbilden, ein Wachtmeister und drei Obergefreite. Frag sie doch!" Holt versuchte, sich Mut zuzusprechen. "Hamburg ist ja nun drangewesen. Da wird sich nicht mehr viel abspielen!"

   "Eben, eben!" sagte Berger, sog an seiner Zigarette und blickte spöttisch. "Deshalb werden die Batterien aufgefüllt und im Ruhrgebiet eingesetzt." Holt bemerkte, dass seine Hand, in der er die Zigarette hielt, zu zittern begann. "Dort ist was los", hörte er. "Köln und Essen hatten ja die ersten Nachtangriffe mit tausend Bombern... Da ist das ruhige Leben hier schon was wert", meinte Berger noch, aber Holt sagte schnell: "Bange machen gilt nicht!" und: "Erst mal abwarten!" und: "Wer weiß, was kommt!" Berger lächelte. Gomulka fragte: "Wie kann denn eine Batterie solche Verluste haben?" - "Na, halt ´n Bombenteppich drüber... Da kannst du dir nachher deine Knochen zusammensuchen!" - "Nachts? War das ´n dummer Zufall?" - "Zufall?" rief Berger. "Gezielt war das! Meinst du, die da oben sind blind? Wenn die Spritzen losdonnern, mit ihren Mündungsbremsen, das siehst du bis zum Mond!" Er trat den Zigarettenstummel aus. "Warte noch", sagte Holt. Werden wir alle am Geschütz ausgebildet? Oder kommen auch welche ans... Fu-MG?" - "Funkmessgerät, Kommandohilfsgerät, E-Messer", sagte Berger, "Flakfernrohr, Flug-Malsi, Telefon... die Robusteren für die Geschützstaffel, zur Messstaffel die besten Mathematiker, da werdet ihr eingeteilt, wie sie´s brauchen. Es ist überall derselbe Mist. Ich zieh´s Geschütz vor." Er deutete auf die kastellartige Erhebung in der Mitte der Feuerstellung. "Auf der B 2" - er sagte "Beh-zwo" - "da krebst immer der Chef rum, und wenn was nicht klappt, heißt´s gleich Häschen-hüpf. Man sieht dort ja mehr, aber am Geschütz ist man schön unter sich. Ruhige Kugel, sanfte Tour, wenn der Geschützführer spurt."

   Es wurde Nacht. Ein Flugzeug mit bunten Positionslichtern brummte über sie hinweg. Berger verabschiedete sich bei den Baracken am Stadion. Holt und Gomulka gingen den Fahrweg entlang.

   Gottesknecht stand in der Dämmerung, unbeweglich. Er schaute, den Kopf ins Genick gelegt, nach dem Flugzeug, das über der Stadt kreiste. Sie mussten an ihm vorbeigehen. "Herkommen!" - "Das gibt Mangelhaft!" flüsterte GomulkaÂ… "Herr Wachtmeister?" - "Kleinen Abendspaziergang gemacht?" - "Mal die Lage gepeilt, Herr Wachtmeister!" - "Na, und was Neues gehört? Von wegen... Einsatz und so?"

   "Jawohl, Herr Wachtmeister!" Wozu lügen? dachte Holt.

   "Erzählen Sie mal! Da bin ich doch gespannt, was Sie zugammengehorcht haben!"

   "Von Hamburg, Herr Wachtmeister", antwortete Holt, "dass es... ein tüchtiges Debakel gegeben hat... Und vom Ruhrgebiet."

   "Da haben Sie doch tatsächlich alles herausbekommen! Debakel ist übrigens glänzend gesagt... Sie kenn ich doch schon", wandte er sich an Holt. "Sie heißen Holt, und Sie... warten Sie mal... Ihr Vater war Rechtsgelehrter, das hab ich mir gemerkt, aber der Name..." - "Luftwaffenhelfer Gomulka, Herr Wachtmeister", brüllte Gomulka.

   "Warum schreien Sie denn so? Ist Ihnen nicht gut? Wer wird denn an einem so friedlichen Abend derartig brüllen?" Gottesknecht holte eine Zigarette hervor, und Holt reichte ihm nach kurzem Zögern Feuer.

   "Passen Sie auf", sagte Gottesknecht. "Ich geb Ihnen einen guten Rat. Lernen Sie unterscheiden, das ist beim preußischen Kommiss das wichtigste! Vor versammelter Mannschaft muss nun mal auch bei mir alles ruck, zuck! gehn, im Dienst ist das nötig, sonst sähe eine militärische Einheit aus wie eine Horde Papuas..." Holt und Gomulka lachten. "Sehen Sie! Aber am Abend, wenn ich Sie privat anrede, und es schaut nicht gerade ein General zu, dann zeigen Sie, dass Sie gute Manieren haben, Kinderstube, Knigge, na, Sie verstehen schon."

   "Wir werden uns das merken, Herr Wachtmeister!" sagte Holt.

   "Großartig! Ich geb Ihnen jetzt Note eins, weil Sie so findige Burschen sind!" Gottesknecht zog das Notizbuch. Aber da geschah etwas Merkwürdiges, und Holt beobachtete es mit Verwunderung. Gottesknecht hielt das Notizbuch eine Weile sinnend in der Hand, dann steckte er es langsam wieder zwischen die Knöpfe seines Waffenrockes. Er blickte unbeweglich vor sich hin, ruckte mit den Schultern, als sei ihm der Rock zu eng, bewegte den Kopf, als drücke ihn der Kragen, und in seinem Gesicht ging eine seltsame Verwandlung vor: er wechselte die Miene, die Haltung, ja auch die Stimme, als lege er eine Maske ab. Er trat dicht vor sie hin, ein nun gar nicht mehr junger Mann, sehr müde, mit gefurchtem Gesicht und einem Ausdruck tiefer Sorge in den Augen.

   "Was Sie erfahren haben", sagte er leise, "das dürfen Sie nicht wissen. Versprechen Sie mir: kein Wort zu den anderen! Wenn es Gerüchte gibt... treten Sie dagegen auf. Sie müssen das verstehn. Ich werde den Leuten von der anderen Batterie verbieten, mit Ihnen zu sprechen. Sie sind zu jung. Es darf nicht sein, dass Ihre Moral untergraben ist, noch ehe es losgeht. Haben Sie mich verstanden?"

   "Wir sagen nichts... Bestimmt! Sie können sich auf uns verlassen!"

   "In Ordnung", sagte Gottesknecht. "Gehen Sie gleich ins Bett. Es wird sehr anstrengend. Ich soll Sie hinbiegen, so rasch es geht. Der Tommy wartet nicht. Er wirft jede Nacht Bomben. Die Batterie soll rasch wieder einsatzfähig werden. Sparen Sie mit Ihren Kräften, Sie werden genug Kraft brauchen! Gute Nacht... Haben Sie noch was, wollen Sie noch was?"

   "Ich weiß nicht, ob wir darum bitten dürfen... Wir möchten beide gern zur Geschützstaffel!" - "Bewilligt." Gottesknecht ging unvermittelt davon, langsam, die Hände auf dem Rücken, den Kopf auf die Brust geneigt.

   Holt sah ihm nach. Die Dunkelheit ringsum war undurchdringlich. Er hörte Utas Stimme: Es ist ja doch alles umsonst. Ihn fröstelte.

2

   Holt stand angekleidet im Freien. Er liebte die Morgenstunde, die kurze Spanne Zeit vom fahlen Dämmerlicht bis zum Erwachen des Tages, wenn die ersten Drosseln schlugen und an den Gräsern funkelnd der Tau hing. Er dachte an Uta.

   Am vergangenen Abend hatte er einen Brief schreiben wollen, aber er war todmüde auf seinen Strohsack gesunken. Das frühe Morgenlicht hatte ihn geweckt. Zehn Kniebeugen, wie üblich, dann draußen am Wasserhahn gewaschen, angekleidet und Gomulka und Wolzow wachgerüttelt. Nun, da in der Baracke eine Klingel rasselte, trat Gomulka zu Holt. "Herrlich, so früh am Morgen! Drin raufen sie um die Waschschüsseln!"

   Holt pfiff ein Lied vor sich hin. "Und die Morgenfrühe, das ist unsere Zeit." Er dachte den Text mit. Auf einmal verstummte er. "Warum pfeifst du nicht weiter?" fragte Gomulka und zitierte den zweiten Vers: "...'Neue Lande, neue Lande wollen wir uns gewinnen'. Ich hab zwar seit vorgestern keinen Wehrmachtbericht gehört..." - "Die Russen haben das ganze Donezbecken zurückerobert." - "Und Sizilien ist endgültig hin", brummte Gomulka.

   "Da ist der italienische Verrat dran schuld", sagte Holt. Gomulka schwieg und scharrte mit einem Fuß in dem schwarzen Boden. Holt fühlte sich unbehaglich, und dieses Gefühl verstärkte sich, als Gomulka sagte: "Wenn man über die... Kapitulation Italiens nachdenkt, dann... ich weiß nicht, es ist ein böses Zeichen." - "Man muss auch mal Rückschläge hinnehmen können", erwiderte Holt. "Der Führer hat gesagt, ohne Italien sind wir stärker." Gomulka nickte, stumm, nachdenklich.

   Holt dachte: Ich darf mich von diesen pessimistischen Stimmungen nicht beherrschen lassen, ich muss mich zusammennehmen.

   Sieben Uhr steckte ein Obergefreiter den Kopf durch die Tür. "Raustreten, a bisserl schnell, wann i bitten darf!" Draußen rief er: "Antreten, der Größ nach, kruzitürken! I bin der Obergfreite Schmüdling, i bitt mir aus, dass i als Ausbülder mit Herr angsprochen wer.,. was gibt´s da zu feixen? Schaun S´ net so, der Dritte im zwoaten Glied!" - "Ich hab nicht gelacht!" rief Nadler beleidigt. Schmiedling schrie: "I bitt mir halt Düszüplün aus!" Das Wort bereitete ihm Schwierigkeiten. "Herhörn! I les jetzt die Namen vor von denen, wo hier mit beisein müssen, und wann i so an Namen vorglesen hab, so ruft sich derjenige, dem sein Nam i vorglesen hab, der ruft Hier!, verstehen S´?" - "Jawohl, Herr Obergefreiter!" brüllte Holt wie die anderen. Der Obergefreite las die Namen vor, von Ebert bis Zemtzki. "So! Da fehlt sich nix und alles hat sei Ordnung. Jetzt wem S´ erst amol eingkleidt!"

   In der Kammer musterte ein übellauniger Unteroffizier Holt mit einem kurzen Blick, warf ihm drei lange, graue Unterhosen in die Arme, Unterhemden, Wäschestücke von kratzigem, hartem Gewebe, eine Turnhose, drei Paar wollene Socken. "Schuhgröße?" Schon flogen ihm ein Paar hohe schwarze Schnürschuh zu und ein paar Gamaschen aus Segeltuch. "Raus!" Im nächsten Raum gab es Drillichzeug, eine blaugraue Luftwaffenuniform ohne Spiegel und Schulterklappen, einen blaugrauen, zweireihigen Mantel, Schimütze, Stahlhelm, Koppel mit Schloss, Kochgeschirr, Butterdose aus gelbem Kunststoff, eine Garnitur blaugewürfelter Bettwäsche. "Raus! Worauf warten Sie noch?"

   Draußen maulte Wolzow: "Keine Ausgehuniform?" Schmiedling fuhr ihn an: "Meinen S´, Sie bekommen Ausgang, jetzt wo Sie während dem S´ in der Ausbüldung sind?" Er pflegte manchen Satz anders zu beenden, als er ihn begonnen hatte. "Worauf warten S´ denn?" Er rief ihnen nach: "Ziehen S` Ihnen das Drühlüch wird zur Ausbüldung getragen, wann I bitten darf!"

   "Der ist halb so wild", sagte Wolzow. "Ein Obergefreiter ist bei der Wehrmacht gar nichts. Bei uns denkt er, er kann angeben." - "Ich glaub, er ist ganz gemütlich", meinte Holt. Da brüllte es schon wieder: "Raustreten!"

   Zwei weitere Obergefreite stellten sich an den rechten Flügel. Als Gottesknecht bei den Baracken auftauchte, verdoppelte eich Schmiedlings Eifer, und sein faltiges Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung. "Ausbüldungskmando... stüllgstann! Zur Meldung an den Herrn Wachtmeister die Augen... links!" Er grüßte und meldete. "Danke, lassen Sie rühren!" Gottesknecht neigte die Würde eines Generals. "In diesem denkwürdigen Augenblick beginnt Ihre Ausbildung. Lange soll sie nicht dauern, vier Wochen, höchstens sechs. Der Dienst wird anstrengend, von früh sieben bis abends acht, eine Stunde Mittag. Die Nachtruhe von zehn bis sechs wird eisern eingehalten, sonst steig ich Ihnen aufs Dach. Preisskat und so weiter gibt´s nicht, haben Sie mich verstanden?... Richtig, das wissen Sie noch nicht... Wenn ich 'verstanden' sage, dann ist das nur Gerede, hab schließlich meine Redensarten. Sag ich aber: 'Haben Sie verstanden?', dann erwarte ich eine Antwort! Haben Sie das verstanden?"

   "Jawohl, Herr Wachtmeister!"

   "Na also! Zweimal wöchentlich drei Stunden Nachtexerzieren. ihre Ausbildung besteht fast ausschließlich in Geschütz- und Geräteexerzieren, gefechtsmäßig, mit allem Drum und Dran. Außerdem muss ich Ihnen ´n bisschen Flakschießlehre einbleuen, da können Sie mal zeigen, dass Sie intelligente Menschen sind! Was sonst noch ist, Unterschied zwischen Vorgesetzten und gewöhnlichen Menschen, Gaskram, Spionageabwehr und all das Zeug, das erledigen wir mit der linken Hand. Ordnungsübungen heute und morgen zwei Stunden, das muss genügen; wenn das Antreten nicht klappt, holen wir es sonntagnachmittags nach. Ein bisschen Bewegung wird ihnen gut tun. Sie, ja, der Dicke mit den Schweinsäuglein, wie heißen Sie?"

   "Luftwaffenhelfer Vetter, Herr Wachtmeister!"

   "Entzückend!" rief Gottesknecht. "Herrlich, einfach unbezahlbar! Fett wie ein Schweinchen aus der Herde des Epikur und heißt Vetter! Dafür gibt´s Sehrgut!" Er zog das Notizbuch, und während er notierte, sagte er: "Hoffentlich werden Sie uns nicht noch fetter, Vetter, fetter können wir Sie bei der Flak nicht gebrauchen!" Er quittierte das Gelächter mit einem Kopfnicken. "Weiter im Text. Wenn Sie heimschreiben wollen: Absender hiesige Ortsanschrift, Großkampfbahn, Porto brauchen Sie keins, ist Feldpost. Schreiben Sie nichts über den Dienst, ich hab das Recht, Briefe zu öffnen, und mach Stichproben. Verpflegung wird abends nach Dienstschluss in der Küche geholt. Mittags wird in der Kantine gegessen." Er winkte die Obergefreiten zu sich. "Wir brauchen achtzehn Mann für die Geschütze, den Rest fürs Feuerleitgerät."

   In die Reihen der Jungen kam Bewegung. Schmiedling brüllte: "Wern S´ wohl glei - ...!" - "Schmiedling!" fiel ihm Gottesknecht ins Wort, und obwohl er die Stimme dämpfte, konnten es die Jungen hören. "Sie haben keine Rekruten vor sich, sondern Luftwaffenhelfer, wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?" Holt stieß Gomulka an, und Gomulka nickte unmerklich.

   Der Wachtmeister sonderte die Kleinsten und Schwächsten aus, auch Zemtzki war darunter, und blickte auf die Uhr. "Bis zwölf Uhr Geschütz- und Geräteexerzieren, nach dem Essen zwei Stunden Ordnungsübungen, da verdaut sich´s besser." Er winkte den Jungen, die fürs Feuerleitgerät bestimmt waren, und zog mit ihnen und einem Obergefreiten davon. Wolzow, Holt, Gomulka und Vetter achteten darauf, dass sie nicht getrennt wurden. Rutscher, Weber, Branzner, Kirsch und Kattner gesellten sich zu ihnen. In zwei Gruppen zu neun Mann zogen sie in Richtung Feuerstellung davon.

Neun Mann und ein Obergefreiter waren eine Bedienung. Schmiedling ließ sie im Geschützstand antreten, ließ das Geschütz abdecken und begann.

   Was mag er im Zivilberuf sein? dachte Holt. Menschen wie Schmiedling waren ihm fremd. Vielleicht hat er einen Hof im Gebirge, dort braucht so ein Bergbauer kaum ein Wort zu sprechen beim Pflügen und Säen, und nun muss er Unterricht geben... Er wär wohl lieber auf seinem Hof geblieben, er ist ja ganz außer sich vor Aufregung. Aber es ist Krieg, und er muss tun, was man verlangt.

   Schmiedling ließ einen der Munitionsbunker öffnen, man folgte mit Feuereifer. Alles war neu, alles war interessant. Eine Kanone, eine richtige Kanone, das war doch etwas anderes als die Schule mit ihren unregelmäßigen Verben und dem mathematischen Formelkram!

   "Ist das scharfe Munition?" fragte Vetter mit einem ehrfürchtigen Blick auf die handtellergroßen Patronenböden, die glänzend aus den Körben hervorsahen. Schmiedling antwortete nicht. Er zeigte den Mannschaftsbunker, er zeigte die Holztafeln mit den Zahlen von eins bis zwölf, die ringsum im Geschützstand angebracht waren und die Richtungen markierten, zwölf Norden, sechs Süden, drei Osten, neun Westen. Wenn das Kommando laute: "Fliegeralarm, Flugzeug neun!", dann müsse das Rohr auch schon nach Richtung neun weisen. Er kratzte sich den Hinterkopf, nahm das Käppi ab, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, und befahl fünf Minuten Pause, die man im Mannschaftsbunker verbrachte.

   Der Unterstand, den Holt gebückt durch einen schmalen Eingang betrat, nahm die volle Breite des Geschützstandes ein. An den Wänden entlang waren Holzbänke aufgestellt. Holt sah einen Verbandkasten, an eisernen Haken die Hörgarnituren der Richtkanoniere und des Geschützführers, einen Kasten mit Werkzeug und Putzlappen und in einer Ecke einen schweren stählernen Vorschlaghammer. Wolzow, Holt und Gomulka rauchten. "Man muss es dem Schmiedling leicht machen", sagte Holt, "er ist ein guter Kerl..." - "Aber wenn das nicht etwas flotter geht", sagte Wolzow, "dann mach ich den Unterricht weiter." Schmiedling steckte den Kopf in den Bunker und rief: "Für Ihnen is Rauchen verboten!" Holt hielt ihm die Schachtel hin; tatsächlich, Schmiedling bediente sich...

   Dann quälte er sich weiter ab. "Jetzt wird dös schwierig! Dös is a Flakgeschütz, net wahr. Aber dös Gschütz is ka Gschütz net, verstehen S´?" Wolzow entwirrte den Knoten, und Schmiedling war begeistert. "Wenn S´ so gnau Bscheid wissen, dann könn S´ dös erklärn, und i spar mir´s viele Gered!" Geschütz, das sei ein Sammelbegriff für schwere Feuerwaffen, Geschütze im engeren Sinne seien schwere Feuerwaffen für indirekten Beschuss mit großem Abschusswinkel, so etwa hatte Wolzow erklärt. Dies hier sei eine Kanone, flachfeuernd, mit langem Rohr und hoher Mündungsgeschwindigkeit des Geschosses. Dass es sich bei der Flak um eine Steilfeuerwaffe handle, könne nur ein Idiot aus der großen Rohrerhöhung schließen, befinde sich doch das Ziel in der Luft!

   Schmiedling nickte zufrieden und fuhr fort. Flak acht-fünfacht-acht heiße die Kanone. Sie sei in den zwanziger Jahren von Krupp gebaut und nach Russland geliefert worden. Merkwürdig, dachte Holt, die Bolschewiken sind unsere Todfeinde, das sagt doch jeder, und da lieferte ihnen Krupp Kanonen?... Das Kaliber habe damals 7,62 Zentimeter betragen, der Russe aber habe den Kanonen ein neues Rohr vom Kaliber 8,5 Zentimeter gegeben, und da dieses Rohr für die Lafette ein wenig zu großkalibrig sei, habe man es mit einer Mündungsbremse versehen. "Was dös ist dös erfahren S´ nachher." 1941 seien die Kanonen erbeutet und von 8,5 auf das übliche Kaliber von 8,8 Zentimetern aufgebohrt worden. Daher der Name "Flak 8,5/8,8", genannt "Russenspritze". "Aber wann a Bsüchtgung is, da muss dera richtge Nam gsagt wern!"

   Für diese Erklärung brauchte Schmiedling eine halbe Stunde. "Wann Bsüchtgung ist", sagte er, "dann müssen S´ dös halt auf Anhieb von Ihnen verlangt, net wahr!" Er sprach oft und im Ton tiefer Sorge von der Besichtigung.

   Den weiteren Unterricht übernahm Wolzow, dem es viel zu langsam voranging. "Falls ich was falsch mache, können Sie mich ja verbessern", sagte er. Schimiedling fand kaum etwas zu korrigieren, als Wolzow loslegte: Kreuzlafette, Fahrgestell, Unter- und Oberlafette, Justierspindeln, Sockel.

   "Sie sin a fixer Kopf!" lobte Schmiedling, während Wolzow die Verankerung der Lafette im Boden und die Funktion der Justierspindeln erklärte. Wolzow ging zum Richtmechanismus über. Er setzte sich auf den stählernen Sessel der Seitenrichtmaschine, der an der rechten Seite der Oberlafette angebracht war, stemmte die Füße auf die Fußraste, drehte am Handrad und fuhr mit der Kanone im Kreise herum wie mit einem Karussell. Jeder wollte es nachmachen, aber Schmiedling scheuchte sie wieder hinters Geschütz.

   Wolzow erläuterte, als habe er niemals im Leben etwas anderes getan, die Rohrrücklaufbremse, auf der das Rohr ruhte, den Luftvorholer, der das Rohr nach dem Schuss wieder in die normale Stellung zu bringen habe und mit "Bremsflüssigkeit braun" gefüllt sei. Er stellte sich links an die Höhenrichtmaschine, drehte das Rohr steil in die Höhe und wieder hinab, und dann war die Zünderstellmaschine dran. So ging es fort. Das Tempo mochte Schmiedling unheimlich sein, denn er ließ immerfort wiederholen.

   "Gell, dös wissen S´ net, wie die Mündungsbremsn funktioniert?" fragte Schmiedling schließlich. Wolzow sagte: "Das ist doch ganz einfach." Da stand plötzlich Gottesknecht im Geschützstand; wer weiß, wie lange er schon zugehört hatte. Schmiedling brüllte: Achtung!" Gottesknecht winkte ab. "So so, Wolzow. Das ist also ganz einfach? Lassen Sie hören. Aber wenn Sie es nicht genau wissen, gibt es Nichtgenügend."

   Wolzow sah den Wachtmeister mit zusammengekniffen., Augen und schräggelegtem Kopf an. "Herr Wachtmeister, kann ich vorher noch was anderes sagen?" - "Da bin ich aber gespannt", meinte Gottesknecht. Wolzow blinzelte mit den Augen. Sein Kopf schob sich langsam vor. "Ich hab das niemals gelernt. Die vorgeschriebenen Worte kenn ich nicht. Wenn Sie gerecht sind, dürfen Sie nur achtgeben, ob meine Erklärung sachlich richtig ist." Auf Schmiedlings Stirn standen Schweißtropfen.

   "Wenn ich gerecht bin, darf ich..." wiederholte Gottesknecht träumerisch. Dann sagte er: "Fangen Sie an."

   "Die Mündungsbremse", begann Wolzow konzentriert, in einem Tonfall, als habe er ein Gedicht aufzusagen, "die Mündungsbremse ist an der Rohrmündung angeschraubt und wird beim Abschuss vom Geschoß durchlaufen. Während der Geschossboden die vordere Öffnung der Mündungsbremse zeitweilig verschließt, sind die hinter dem Geschoß herstürmenden Pulvergase, in ihrem Bestreben, sich auszudehnen..."

   Jetzt verheddert er sich, dachte Holt.

   "...gezwungen, durch seitlich in der Mündungsbremse angebrachte Öffnungen auszutreten. Diese Öffnungen sind in einem Winkel in die Mündungsbremse eingeschnitten, der, in Schussrichtung gesehen, nach hinten weist. Das heißt", sagte Wolzow nun siegessicher, "die Pulvergase verlassen die Mündungsbremse schräg nach hinten und erteilen so dem Rohr einen nach vorn gerichteten Impuls, welcher einen Teil des Rückstoßes auffängt."

   Schmiedling atmete tief und erleichtert auf. Gottesknecht sah Wolzow an, Wolzow gab den Blick zurück.

   "Aufs Haar richtig", sagte Gottesknecht. Er zog das Notizbuch. "Note eins... Aber Sie haben meinen Gerechtigkeitssinn herausgefordert, Wolzow, und so kann ich´s nun doch nicht auf sich beruhen lassen, dass sich ein Luftwaffenhelfer zum Leutnant macht, um einen Wagen zur Bahn zu bekommen."

   Wolzows Gesicht wurde blass.

   "Sie werden sich also jeden Abend pünktlich einundzwanzig Uhr melden, um mir die Schuhe zu putzen. Sie werden zugehen, dass die Strafe gerecht ist."

   Schweigen.

   Dann Wolzow: "Herr Wachtmeister, Sie werden zugeben, dass Sie nicht befugt sind, persönliche Dienstleistungen als Strafe zu verhängen. Ich bitte um eine Bestrafung, die den militärrechtlichen Vorschriften entspricht."

   Das geht schief, dachte Holt.

   "Wolzow", sagte Gottesknecht, "ich hätte Lust, Ihnen noch eine Eins zu geben für soviel Mut. Aber das kann kein Mut sein. Das ist Unkenntnis! Sie wissen nicht, was Sie sich antun!" Und nun mit anderer, mit beiläufiger, üblicher Stimme: "Sie melden sich nach Dienstschluss bei mir zur Bestrafung."

   "Jawohl, Herr Wachtmeister!"

   Gottesknecht sagte nur noch freundlich: "Weitermachen!", denn verließ er den Geschützstand. Kaum war er außer Sichtweite, atmete Schmiedling so hörbar auf, dass Holt dachte: Warum hat er solche Angst? Er hat als Ausbilder doch nichts zu fürchten.

   "A böse Sach, Wolzow, die was S´ Ihnen sich da eben einbrockt ham!"

   "Ach scheiß...", sagte Wolzow mit einer wegwerfenden Handbewegung.

Granatpatron-Munition, Sprengringe, Zünder... Zeitzünder S 30, maximale Laufzeit dreißig Sekunden... in den Patronen Diglykolröhrenpulver... das war der Rest des heutigen Pensums.

   Dann trafen sich die Jungen vom Geschütz und Feuerleitgerät in der Kantine, der früheren Gaststätte des Stadions, wo die Oberhelfer der anderen Batterie noch beim Essen saßen. Auf den rohen Holzplatten häuften sich Kartoffelschalen, dazwischen lagen Zigarettenstummel und Knochenreste. Wolzow fegte mit einer Handbewegung den Unrat vom Tisch, ein paar Oberhelfern auf die Knie. Den Protest erstickte er mit der Drohung: "Halt´s Maul, sonst kracht´s!"

   Es gab Pellkartoffeln und eine dünne Soße, in der ein paar Fleischstücke schwammen. "Mies, saumies!" maulte Vetter. Zemtzki, Schenke und Grubert, die am Feuerleitgerät ausgebildet wurden, saßen in der Nähe und warfen mit unverständlichen Begriffen um sich, Höhenvorhalt, Grundstufe, Gebrauchsstufe... Sie taten ungeheuer wichtig. Zemtzki erzählte: "Ich bin am E-Messer... Die Messoptik vergrößert vierundzwanzigfach!" - "Quatsch nicht rum, wen interessiert das schon?" sagte Wolzow. "Wer etwas auf sich hält, der geht ans Geschütz!"

   Am Nebentisch wurde immer noch von einem "Handstreich" in Italien erzählt, von einem Telefongespräch zwischen Hitler und Mussolini, schließlich von neuen Luftangriffen. "Essen erneut bombardiert! Sie haben starke Verluste und Verwüstungen gemeldet."

   Holt löffelte mechanisch die Kartoffeln in sich hinein. Der Gedanke: Verwüstungen, Essen, Ruhrgebiet verließ ihn auch später nicht, als er auf seinem Bett lag und Gomulka am Tisch über dem Schreibblock saß. Ich muss heut Abend bestimmt an Uta schreiben, dachte er. Der Gedanke an Uta tilgte nicht die heimliche Angst. Im Gegenteil. Alles umsonst... hörte er wieder. Und was wird aus Deutschland?

   Er war froh, als Schmiedlings Stimme in die Stube drang: "Raustreten!" Nach zwei Stunden Ordnungsübungen wurde im Geschützstand das Pensum so lange wiederholt, bis Holt die Worte Lafette, Mündungsbremse und Zeitzünder nicht mehr hören konnte. Es müsse im Schlaf sitzen, behauptete Schmiedling. Müsse unabhängig von Verstand und Gedächtnis in Fleisch und Blut übergehen, sagte auch Wolzow am Abend. "Der Verstand kann aussetzen, das Gedächtnis kann dich im Stich lassen, dann muss das trotzdem alles noch da sein, unwillkürlich, wie eine Reflexbewegung."

   Er zog los zu Gottesknecht, um seine Strafe entgegenzunehmen. Er war schlau genug, sich vorher von Schmiedling beraten zu lassen. "Dös is a Rapport! Da ziehen S´ den Dienstanzug an, und dann setzen S Ihnen an Stahlhelm setzen S´ Ihnen dann auf!" Der Zusammenstoß zwischen Wolzow und dem Wachtmeister hatte sich unterdessen herumgesprochen. Nadler beobachtete eine Weile schweigend, wie Wolzow Koppel und Schuhe blankputzte, und höhnte: "Wenn der Gottesknecht befiehlt, dann spurt der Wolzow!" Vetter schmiss ihm einen Schnürschuh ins Kreuz. Nadler flüchtete.

   Holt nahm den Brief block vor. Er kam über die Anrede nicht hinaus und auch diese war schon ein Problem. Wolzow kam zurück, gelassen wie üblich, aber insgeheim kochte er vor Wut. "Drei Monate Ausgangssperre! So ein gemeines Schwein!" Später erzählte er Einzelheiten. "Er war richtig enttäuscht, weil ich im vorschriftsmäßigen Anzug kam. Hat er mir eine Eins gegeben, der falsche Hund, für tadellosen Anzug, und anschließend drei Monate Ausgehverbot."

   Gomulka lachte. "Und dann hat er noch nachgeschlagen, ob die Strafe auch wirklich den Vorschriften entspricht. So ein Aas!"

   Holt wurde immer wieder von seinem Brief abgelenkt. "Ich hätt ihm halt vierzehn Tage lang die Schuhe geputzt, da wär Ruh gewesen", sagte Branzner, ein magerer Junge mit schwarzem Haar, krummer Nase und großem, hüpfendem Adamsapfel. Gomulka meinte: "Ich glaube, Gottesknecht ist nicht übel. Wenn wir erst im Einsatz sind..."

   Im Einsatz! Schon wieder das Stichwort, das Holt um seine Ruhe brachte. Er ertappte sich dabei, wie er sich nach der Geborgenheit der Kleinstadt sehnte, und schalt sich wankelmütig. Auf dem Briefbogen stand noch immer nichts als die Anrede "Liebe Uta"Â… Ich will in den Krieg, hab ich gesagt, und nun verlässt mich der Mut!

   Er schrieb endlich einen sachlichen Bericht über den ersten Tag, soweit er glaubte, davon berichten zu dürfen.

   Der Abschied, ist das wirklich erst gestern gewesen? Es liegt so weit zurück! Vorbei, für immer. Alles andere ist Illusion. Ich bin fast drei Jahre jünger als sie. Sie ist verlobt. Aber nun, da er schrieb, betrog er sich selbst. Es durfte nicht vorbei sein! "Lass mich nicht im Stich", schrieb er. "Uns steht vielleicht sehr Schweres bevor. Lass mich nicht allein."

   "Der Seitenrichtkreis", sagte Schmiedling, "hat vierasechzg Hundert Teilstrich!"

   Gomulka und Branzner, eifrig bei der Sache, in der Schule gute Mathematiker, rechneten den Richtkreis in Bogengrade um und brachten so ein wenig Abwechslung in die Hirne, die vom Drill ermüdet waren. Jeder redete, wie es ihm gefiel.

   "An der Höhenrichtmaschin stellen wir Grad ein", lehrte Schmiedling, "und a jeds Grad hat vier Strich!"

   An der Zünderstellmaschine hieß es "Grad vom Kreuz"; dreißig Sekunden Zünderlaufzeit entsprachen dreihundertsechzig Grad, die Gomulka in Sekunden und Flugstrecken umzurechnen versuchte. "Schade,... dazu braucht man wohl Differentialrechnung!"

   Schmiedling hatte noch nie so gelehrige Rekruten erlebt. "Die Granate... was die Anfangsgeschwindikeit is, die is am größten! Dös heißt die Vaunull! Dös Spritzen hat a Vaunull von achthundertsechzig..." - "Meter pro Sekunde", ergänzte Wolzow. Schmiedling war nicht gesonnen, sich das Durcheinander länger bieten zu lassen. Er scheuchte die Bedienung in Reih und Glied und ließ wiederholen: Seitenrichtkreis, Höhenrichtbogen und Zünderstellmaschine. Es dauerte Tage, bis sie das Geschütz bedienen lernten.

   Sie unterhielten sich immer wieder über diese Form des Drills. Wolzow sagte: "Es gibt Situationen, wo das Denken versagt. Da muss alles automatisch in den Gliedern sitzen. Die Ausbildungsmethoden sind für alles mögliche Kroppzeug, Müllkutscher, Straßenkehrer... Die sind so blöd, dass sie das nie kapieren würden, deshalb wird es bis zum Kotzen gepaukt!" Er berief sich auf die Autorität eines Obersten. "Mein Vater hat immer gesagt, die militärischen Ausbildungsvorschriften sind so beschaffen, dass es auch das größte Rindvieh noch kapiert!"

   Die Jungen, die am Feuerleitgerät ausgebildet wurden, spielten sich mächtig auf. "Mit uns macht der Wachtmeister den ganzen Tag Flakschießlehre, es ist hochinteressant!"

   Gomulka, als er einmal mit Holt allein vor der Barackentür stand, sagte: "Die Sache hat noch eine Kehrseite. Drill versüßt uns den Einsatz." - "Du hast recht. Wenn ich anfangs an den Einsatz dachte, war mir ziemlich komisch... Heute wollte Schmiedling zum fünfzigsten Mal wissen, welchen Seitenwert Richtung sieben hat. Da hab ich gedacht: Mag´s im Ruhrgebiet noch so schlimm werden... jedenfalls ist dann dieser sture Mist vorbei!"

   "Das wollen sie erreichen." Gomulka nickte. "Hier ist das recht harmlos", fuhr er fort, "ich staune, wie anständig sie mit uns umgehn. Die Rekruten in der Kaserne, die werden derartig geschliffen, dass ihnen die Front wie´s Paradies erscheint... Wer schon mal draußen war, lässt sich allerdings lieber schleifen", setzte er hinzu. Holt lachte. "Die große Wende wird schon kommen!"

   "Fragt sich bloß wie!"

   "Aber Sepp!" sagte Holt vorwurfsvoll. "So kann man nicht reden!"

   "Ich rede nur zu dir so", erwiderte Gomulka. "Ich überleg manchmal, ob wir nicht alle... die Augen zumachen, was den Krieg angeht!"

   "Solche Gespräche", sagte Holt,... und solche Gedanken... das untergräbt die Moral, Sepp!"

   Die Kanoniere hießen K 1 bis K 9 und wurden vom Geschützführer befehligt. Jeder hatte seinen Platz und seine Aufgabe. Der Geschützführer war durch eine Telefonleitung mit der Befehlsstelle verbunden, von dort erhielt er alle Anordnungen einschließlich des Feuerbefehls. Die Feuerglocke gab dem K 3, dem Ladekanonier, das Signal zum Laden und Feuern. "Dös heißt net Schuss, sondern Gruppe", erklärte Schmiedling und wiederholte zehnmal, dass dem Geschützführer absolut und bedingungslos zu gehorchen sei! Oft komme es vor, dass ein Luftwaffenhelfer die Funktion des Geschützführers übernehme; dann schulde man ihm den gleichen Gehorsam.

   Die neun Kanoniere mussten ihre Aufgaben erst einmal in Form von neun Sprüchen erlernen, und jeder musste jedes Sprüchlein auswendig wissen. K 1 war Höhen- und K 2 Seitenrichtkanonier. K 6 bediente die Zünderstellmaschine. K 3 war der Ladekanonier, nächst dem Geschützführer der angesehenste Mann. K 4, K 5, K 7, K 8 und K 9 nannten sich Munitionskanoniere, und sie genossen das geringste Ansehen. Das alles, verlangte Schmiedling immer wieder, müsse man im Schlaf beherrschen.

   "Weißt du was?" sagte Wolzow eines Abends zu Holt. "Von wegen 'im Schlaf beherrschen'! Wir probieren das mal!" Gomulka, der nachts halb zwei wach wurde, weckte Holt, und gemeinsam holten sie Wolzow aus dem Bett. "Wen nehmen wir?" -"Den Branzner, das Rindvieh", brummte Wolzow. Zu dritt umstanden sie Branzners Bett. Wolzows Taschenlampe leuchtete. Die Nachthemden reichten nur bis an die Knie, verwaschen und immer wieder geflickt. Holt sah auf Wolzow, dem das Hemd viel zu eng war. Ãœber dem mächtigen Brustkorb spannte es sich zum Zerreißen, unten schauten die stachlig behaarten Beine hervor.

   "Los!" Gomulka und Holt fassten Branzner links und rechts an den Armen, rissen ihn hoch, und Wolzow leuchtete ihm ins Gesicht und brüllte: "Los! K 2!"

   "K 2 stellt laufend... laufend...", stammelte Branzner erschrocken und schlaftrunken, dann kam er zu sich, und nun ging es wie am Schnürchen: "K 2 stellt laufend mit Hilfe der Seitenrichtmaschine die vom Kommandohilfsgerät durchgegebenen Seitenrichtwerte am Seitenteilkreis ein und beobachtet den Umdrehungsanzeiger!" So, das war geschafft, und Branzner fügte hinzu: "Mensch, ihr spinnt wohl... mitten in der Nacht!"

   "Schnauze! K 6, los!" Aber da weigerte sich Branzner. Sie sahen sich nach einem neuen Opfer um, das nicht von Wolzows Gebrüll erwacht war. "Los, den Rutscher, der stottert so schön!" Das Spiel, unter schadenfroher Anteilnahme der anderen, wiederholte sich. Rutscher hing ihnen sekundenlang verschlafen in den Armen, aber Wolzow knuffte ihn in die Rippen und brüllte: "Los, du Heini, K 6, wird´s bald?"

   "K 6... stellt... laufend die vom Ko-Ko-Kommandohilfsgerät durchgegebenen Zünderlaufzeiten auf der Zünderstellmaschine ein und be-betätigt die Schwungma-ma-masse!" stotterte Rutscher.

   "Tatsächlich!" rief Wolzow. "Es klappt im Schlaf!"

   Da wurde die Tür aufgestoßen, Licht flammte auf, und in der Tür stand Gottesknecht, in einem roten Bademantel, barhäuptig, an den Füßen Pantoffeln. Er sagte böse: "Hab ich Sie erwischt! Nachtruhe eisern einhalten, hab ich ausdrücklich befohlen! Und Sie? Rumtoben, nachts halb zwei!" Gomulka fasste sich zuerst und wollte melden, aber Gottesknecht sagte: "Quatsch, Meldung im Nachthemd, nächstens melden Sie noch auf der Latrine!" Jemand lachte, aber Gottesknecht rief: "Ruhe!" Er wandte sich an Holt: "Was ist hier los? Aber ehrlich: wen wollten Sie verdreschen, und warum?" - "Herr Wachtmeister", antwortete Holt, "wir wollten niemanden verdreschen! Wir haben nur mal ausprobiert, ob die Sprüche der Kanoniere wirklich aus dem Schlaf klappen, wie das der Obergefreite Schmiedling immer verlangt." Gottesknecht blickte eine Weile auf Holt, dabei entspannte sich sein Gesicht. "Na und? Geht´s?"

   "Jawohl, Herr Wachtmeister. Der Branzner hat den K 2 und der Rutscher den K 6 aus dem Schlaf aufgesagt, ohne Ãœberlegung."

   "Sie haben Humor!" sagte Gottesknecht. "Los, in die Betten!" Sein Blick haftete an Wolzow. "Kommen Sie her! Holt und Gomulka haben sich Schuhe angezogen, die kann ich ins Bett schicken, aber Sie, barfuss auf dem dreckigen Fußboden..." - "Herr Wachtmeister", sagte Wolzow, "egal haben Sie´s mit mir!" Gottesknecht, eine steile Falte auf der Stirn, rief: "Wolzow, jetzt reicht mirs!" Er stemmte die Hände in die Hüften, seine Stimme war wieder ganz ruhig: "Ich hätte Sie die Füße waschen lassen und dann ins Bett geschickt. Aber jetzt... los, ziehen Sie Drillich an, kommen Sie raus, aber schnell, jetzt sollen Sie mal sehn, wie das ist, wenn ich´s mit einem 'egal habe'!"

   Holt und Gomulka krochen gehorsam ins Bett. Gottesknecht löschte das Licht. Im Dunkeln zog sich Wolzow murrend an. Im Einschlafen hörte Holt ihn fluchend zurückkommen und zu Bett gehen.

   Am anderen Tag wusste auch Schmiedling davon. "Dös kenn i bei unserm Wachtmeister gar net, dass der a jemand schleifa tuat, in der Nacht scho gar net!" Er zeigte ehrliches Mitgefühl.

   In den Pausen der Ausbildung unterhielt er sich immer aufgeschlossener mit den Jungen und erzählte auch von sich selbst. So erfuhr Holt, dass Schmiedling Landarbeiter auf einem großen Gut war und daheim eine Frau mit vier Kindern auf ihn wartete. Als einziger Soldat der Batterie war er k. v., kriegsverwendungsfähig, also seit langem reif für die Front. Er behauptete, sich nur in der Heimat halten zu können, weil der Major, "was unser Kmandeur is", ihm gewogen sei. Das könne sich sofort ändern, die Sympathie sei schnell verscherzt. Daher müsse seine Bedienung die beste sein, dürfte bei der Besichtigung niemals auffallen und habe beim Schießen immer die besten Resultate zu erzielen. Holt hörte nachdenklich, was Schmiedling da erzählte.

   "Wenn einer nicht spurt", sagte er schließlich, "bekommt er´s mit uns zu tun!" Schmiedling nickte dankbar. Heimat sei eben Heimat, selbst im Ruhrgebiet.

   Holt und Gomulka wechselten einen Blick. Bisher hatte es Gerüchte gegeben, von einem Einsatz in Berlin, aber Holt und Gomulka waren dagegen aufgetreten. Nun plauderte Schmiedling alles aus. Die Wirkung war dementsprechend. Die Jungen schauten betreten vor sich hin. "Teifi, dös is mir halt rausgerutscht. Dös dürfen S´ gar net wissen!"

   In der Mittagspause wussten es alle.

3

   Holt wartete ungeduldig auf Post von Uta. Ich bin ihr gleichgültig, dachte er, sie denkt nicht mehr an mich. Als bei der Postverteilung endlich sein Name aufgerufen wurde, bekam er nur ein Päckchen von seiner Mutter. Sie schickte ihm die erbetenen Zigaretten. Warum schrieb Uta nicht?

   Zu seiner Mutter wünschte er sich nicht zurück. Aber er dachte häufiger als früher an seinen Vater, den er fast vier Jahre lang nicht mehr gesehen hatte. Utas Worte: "Jedenfalls scheint er ein Mann von Charakter zu sein", hatten auf Holt nachhaltig gewirkt. Vielleicht hatte er gar keinen Grund, sich seines Vaters zu schämen. Aber die Entfremdung wurde durch diesen Gedanken nicht geringer.

   Wieder verteilte der Wachtmeister beim Mittagessen Post. Holt erhielt als letzter einen Brief. Er wagte kaum, den Umschlag zu öffnen. In der Stube legte er sich auf sein Bett und las. In der kleinen Stadt ging das Leben weiter, als habe es die Jungen der Klasse VII niemals gegeben. Die Worte, die Holt ungeduldig überflog, waren blank und spöttisch wie immer. Aber zum Schluss wurden sie ernst. "Glaube nicht", schrieb Uta, "dass dieser Sommer spurlos an mir vorübergegangen ist, aber reden wir nicht davon. Das Wasser zwischen uns Königskindern ist tief. Aber solange Du daran Freude hast, kannst Du mit einer gewissen Anhänglichkeit meinerseits rechnen es wird Dich, wie ich Dich kenne, zu ungeheuren patriotischen Taten anspornen."

   Er setzte sich am gleichen Abend hin und schrieb, verliebt und überschwänglich.

   Sie wechselten nun regelmäßig Briefe. Auf seine Verliebtheit antwortete sie mit Spott und Ironie. Nie schrieb sie mehr als zwei Seiten, aber auch nie weniger. Er bewahrte den Briefpacken sorgfältig auf; das Kreuz trug er stets in der Brusttasche.

   Wolzow erklärte eines Tages: "Das einzig Wahre ist Laden!" Scharf zu laden, war für Luftwaffenhelfer verboten. "Dös is a z´ schwere Arbeit für a solche Jungs!" sagte Schmiedling. Die Patronen wogen etwa dreißig Pfund und mussten auch bei siebzig oder achtzig Grad Rohrerhöhung in drei Sekunden geladen und abgefeuert sein. Aber Wolzow setzte es durch, dass er sich den riesigen, aus fingerdickem Leder genähten Ladehandschuh auf die rechte Hand ziehen und vorführen durfte, was Holt als wohlformuliertes Sprüchlein zum hundertsten Mal in den Geschützstand brüllte: "K 3 fasst bei Ertönen der Feuerglocke eine in der Zünderstellmaschine ladefertig gemachte Patrone mit der rechten Hand am Patronenboden, mit der linken Hand am Schwerpunkt des Geschosses und führt sie mit der geballten rechten Faust ins Rohr ein. Unter gleichzeitiger Linksdrehung des Oberkörpers zieht er mit der rechten Hand ab."

   Das Feuerleitgerät gab nun beim Gefechtsexerzieren Richtwerte an die Kanonen. Eine uralte Klemm-Schulmaschine brummte als Ziel über der Stadt herum.

   Sie fühlten sich bald als erprobte Flaksoldaten. "Wir alten Krieger", sagte Wolzow immer häufiger im Gespräch. Was sie an den Geschützen gelernt hatten, das war in Fleisch und Blut übergegangen. Täglich lernten sie Neues. Es gab starres und bewegliches Sperrfeuer. Nahfeuer mit besonderer Munition, die durch gelbe Ringe auf den Patronenböden gekennzeichnet war. Mitten im gefechtsmäßigen Exerzieren mussten sie den Verschlusskeil ausbauen, weil angeblich der Schlagbolzen gebrochen war, was in der Praxis kaum jemals vorkam; aber Schmiedling bevorzugte gebrochene Schlagbolzen, weil dies eine beliebte Aufgabe bei der Besichtigung sei... Er stand dabei, die Uhr in der Hand und stoppte die Zeit. Gleicher Beliebtheit erfreuten sich Versager, welche hundert Meter weit aus der Stellung getragen werden mussten, was die Bedienung in Deckung abzuwarten hatte...

   Das Geschütz- und Munitionsreinigen war erträglich. Schmiedling hockte dabei und erzählte. Er zeigte Bilder seiner Frau und seiner vier Kinder. Man lobte, wie "kräftig" die Kleinen seien. Dieses Stichwort hatte Schmiedling selbst gegeben. Er hatte Holt das Bild seiner Frau gezeigt, ein kleines, vom vielen Herumreichen abgenutztes Photo. "Sehen S´ Ihnen die amol an, net wahr, dös is a kräftige Frau, wie S´ fei ka bessre net wem findn!" Warum hebt er so hervor, dass sie kräftig ist? dachte Holt. Darauf kommt es bei einer Frau doch nicht an! "Wissen S´, die schafft am sölbigen Hof, als Großmagd, da wo i als Schweizer gearbeit hab... Dös is a Glück, wenn a Frau so anpacken kann! Dös haut hin!" Er sagte noch mehrfach: "Dös haut hin... Die beiden Buabn arbeitn a scho mit, die treiben dös Vieh auf d´ Alm, net wahr!"

   Wieder sah Holt mit einem nachdenklichen Blick auf den Obergefreiten.

   Aber die Stunden am Geschütz, da man beieinandersaß, eine Patrone mit "Fliegerfett blau" einrieb und dabei plauderte, waren selten. Müde, wie zerschlagen, fielen die Jungen abends s Bett und rappelten sich ein paar Stunden später wieder auf, wenn die Glocke zur Nachtübung rief, und Gottesknecht setzte das nächtliche Gefechtsexerzieren stets ohne vorherige Benachrichtigung an.

   Schmiedling zeigte am Geschütz einen unerschöpflichen Einfallsreichtum. "Das kann er sich gar nicht alles ausdenken!" sagte Gomulka. "Das muss wohl alles vorkommen." Mitten im nächtlichen Exerzieren ließ Schmiedling das Funkmessgerät ausfallen: Düppel-Störung! "Dös is, wann die daheroben so a Silberpapierzeugs runterschütten, was die Stanniolstreifen sin, da kann dös Fu-MG net messen!" Er befahl eine neue Art des Sperrfeuers, Barrikadenfeuer, der Befehl lautete: "Barrikade - marsch!", und bei fest eingestellten Richtwerten mussten die Ladekanoniere laden und feuern, immerfort laden und feuernÂ… "Jetzt is d´ Munition am Gschütz zu Ende is die, holen S` Patronen von der Zwotausstattung ran, aber dalli!" Sie liefen, Exerzierpatronen im Arm, durch die Nacht, vom Geschützstand zu den weit entfernten Bunkern der Zweitausstattung und zurück, eine Stunde lang, hin und her, bis sie vor Anstrengung keuchten und ihnen die Knie zitterten. Dabei pfiff Schmiedling auch noch auf seiner Trillerpfeife, und sie mussten sich mit der Patrone im Arm hinwerfen - aber wehe, wenn dabei die Patrone den Erdboden berührte! -‚ denn jeder Pfiff bedeutete eine Bombe.

   Bei einer solchen Gefechtsübung kam der dicke Vetter zu dem Spitznamen "Leiche". Schmiedling ließ einen der fingierten Tiefangriffe mit Nahfeuer abwehren; beim Nahfeuer hatten die Richtkanoniere das Ziel übers Rohr direkt anzuvisieren. ("Wobei jeder Schuss ´n Kilometer danebenhaut", sagte Wolzow.) Alles klappte, hundertmal geübt; doch da tauchte die alte Klemm plötzlich tief, ganz tief im Süden über dem Stadion auf, knatterte über die Stellung hinweg, und Schmiedling brüllte: "Tiefangriff Richtung sechs! Volle Deckung!" Auch das war schon hundertmal geübt worden. Aber heute passierte Vetter ein Missgeschick. Er warf sich nicht der anfliegenden Maschine entgegen in die Deckung des hohen Erdwalles, sondern hopste eine Weile unentschlossen im Geschützstand herum und suchte dann auf der entgegengesetzten, auf der falschen Seite Deckung, während die Klemm über ihre Köpfe hinwegbrauste. Schmiedling wurde zornig. Er scheuchte die anderen wieder ans Geschütz, Vetter aber rief er zu: "Vetter, werden S´ wohl liegen bleiben! Sie san tot! Tot san Sie! Sie depperte Leich, Sie depperte!"

   Holt sagte später zu Gomulka: "Es ist ein unheimlicher Spitzname..." Aber es blieb dabei, und auch Gottesknecht rief: "Vetter, Sie Leiche, Sie sollen ja lebensmüde sein!"

   Ãœberhaupt: Gottesknecht! Er wusste alles, er sah und hörte alles und tauchte stets im unpassendsten Augenblick auf. An den "Gastagen", da man von früh bis abends mit aufgesetzter Gasmaske herumlaufen musste, wurde Gottesknecht zur Plage. Man hatte ihnen französische Beutemasken gegeben, deren großer und schwerer Filter in einer umgehängten Tasche getragen wurde und durch einen Gummischlauch mit der Maske verbunden war. Die Jungen schafften sich Erleichterung, indem sie die Filter locker schraubten, um mehr Luft zu bekommen. Aber dann war plötzlich Gottesknecht da, fasste in die Umhängetasche, und es hagelte Nichtgenügend.

Während des harten Dienstes verfolgten die Jungen mit besonderer Spannung die Nachrichten über den Luftkrieg. Tag und Nacht flogen die Bomber über die Grenzen, mindestens nachts die "Störflugzeuge", unter denen sich niemand etwas Genaues vorstellen konnte. Immer häufiger wurde das "rheinisch-westfälische Gebiet" als Angriffsziel genannt. "Das sind wir", sagte Holt zu Gomulka. Es war nun schon Oktober. "Hast gehört? Gestern Nacht wieder mehrere Städte, besonders Bochum." Wolzow las aus der Zeitung vor, eine Luftschlacht über Bremen habe die Angriffe im Ganzen nicht verhindern können.

   Holt dachte an seine Verwandtschaft in Bremen. Der Stiefbruder seiner Mutter war dort Generaldirektor einer Werft. Die Hamburger Verwandten hatten die Angriffe unbeschadet überstanden.

   Schon wenige Tage später hörte man von einer siegreichen Luftschlacht über Schweinfurt. "Die deutsche Luftabwehr hat am 14. Oktober wiederum ihre ständig wachsende Stärke bewiesen und den feindlichen Angriffsverbänden gezeigt, dass ihrer Vernichtungswut Grenzen gesetzt sind", las Wolzow vor. Die Nachricht verbreitete Optimismus. "Wir registrieren nüchtern einen Markstein in der Entwicklung des großen Luftkampfes...", und hier: "Die Piloten abgeschossener Maschinen haben völlig demoralisiert von der "Flakhölle" gesprochen!" Vor diesen Nachrichten verblassten die Meldungen von den Fronten. Wen interessierte schon die "Ausdehnung der Schlacht im Osten"? - "Ich denke, wir werden gerade zur großen Wende les Luftkrieges zurecht kommen", sagte Holt, "wenn bloß erst die Ausbildung ein Ende hätte!"

   Schmiedling malte täglich die Folgen einer fehlgeschlagenen Besichtigung aus. Das Ausbildungsprogramm war erfüllt, es gab nichts Neues mehr.

   Die Batterie, an deren Geschützen sie ausgebildet wurden, hatte in der vergangenen Zeit ein paar Mal Alarm gehabt. "Gefechtsschaltung" war die erste Alarmstufe; kamen die Bomber näher, wurde "Feuerbereitschaft" befohlen, aber das war in den fünf Wochen nicht vorgekommen. Der Alarm der Batterie 329 hatte die Jungen von der 107/III bisher nicht betroffen.

   Eines Tages waren sie, wie üblich, zum Unterricht in der Kantine versammelt, und Gottesknecht ritt sein Steckenpferd Flakschießlehre. Der etwas schwerfällige Hampel hatte gerade das dritte Nichtgenügend einstecken müssen, als die Alarmklingel losschrillte. Da packte Gottesknecht seine Dienstvorschriften ein und sagte: "Wissen Sie was? Heute machen wir mit." Es fuhr ihnen in die Glieder.

   Die Batterie, am Tage nur mit vier Geschützen feuerbereit, wurde des Nachts durch Arbeiter und Angestellte aus der Stadt, durch so genannte Flakwehrmänner, verstärkt, so dass alle sechs Geschütze besetzt werden konnten. Heute nun rannten die Jungen an die beiden Geschütze. Gottesknecht zog mit seinen acht Mann auf die Befehlsstelle.

   Schmiedlings Bedienung war aufgeregt, am aufgeregtesten aber war Schmiedling selbst. "Machen S´ mir ka Schand net, i bitt Sie!" Wohl zehnmal versicherte er: "Wenn´s was geben sollt... Dös Schießen is fei net schlimm is dös net!" Da sie noch keine Gehörschützer empfangen hatten, verteilte er Watte.

   Als Ladekanonier war ihnen ein Obergefreiter, der "Schreibstubenhengst", zugeteilt worden. Wolzow nahm ihm den Ladehandschuh weg, Schmiedling, an der Geschützführerleitung, sagte: "Benehmen S´ Ihnen net so frech! Da muss i erst an Antrag auf Sondererlaubnis muss erst amol eingreicht wern, eh Sie scharf laden dürfen!" - "Gefechtsschaltung aufgehoben", brüllte jemand von der B 2.

   Am nächsten Morgen, beim Appell, rief Gottesknecht. "Ich hab eine Ãœberraschung! Unser Dienstplan sieht vier Stunden Gefechtsexerzieren vor, geht punkt zehn Uhr los, mit Zieldarstellung. Da fliegt ein ganz toller Bomber für uns; zeigen Sie mal, was Sie gelernt haben! Grinsen Sie nicht, Holt! Warum grinsen Sie?!" - "Herr Wachtmeister, der tolle Bomber wird wieder die alte Klemm sein, die fällt uns bestimmt mal auf den Kopf!" - "Mangelhaft!" rief Gottesknecht. "Heute fliegt tatsächlich eine Ju 88, weil es das letzte Mal ist!"

   Es geht los, dachte Holt, es ist soweit! Und er sah auf Wolzow, der Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte. Gottesknecht fuhr fort: "Ich schau mir während des Exerzierens die Geschützbedienungen an, mit allen Schikanen. Wenn es klappt..." Er zögerte, dann fuhr er ganz sachlich fort: "...dann tragen Sie schließend sämtliche Klamotten auf die Kammer. Unsere Batterie hat im Raum Essen, Wattenscheid und Gelsenkirchen Stellung bezogen, ideale Gegend! Wir fahren heut Nacht."

   Alle wussten es, aber da Gottesknecht es aussprach, traf es doch wie ein Hieb. Gottesknecht rief: "Heiliger Antonius! Was ziehen Sie denn für Gesichter! Was denken Sie, wie schön das dort wird! Ich versprech Ihnen eine ganz ruhige Tour, wenn nicht grad geschossen wird, oder wenn Sie nicht grad Schulunterricht haben, das geht dort nämlich weiter, oder wenn nicht grad Munition abgeladen wird, oder wenn nicht grad Bombenrichter zugeschaufelt werden müssen, oder wenn nicht grad as anderes ist. - Ruhe im Glied! Wolzow, quatschen Sie nicht. Sie wollen Offizierssohn sein? Der Schandfleck der Batterie sind Sie!"

   "Herr Wachtmeister", sagte Wolzow, "den 'Schandfleck' lass ich mir nicht gefallen, das ist..."

   "Wolzow! Treten Sie vor! Nach links weg, marsch, marsch... hinlegen... auf... hinlegen!" Er wandte sich zum rechten Flügel: "Schmiedling, machen Sie weiter, los, schleifen Sie Ihren Liebling mal´n bisschen, so ein frecher Kerl, zehn Minuten, aber mit allem Drum und Dran!" Und zu Wolzow, der bewegungslos auf dem Boden lag: "Gaaaas! So ist´s schön, jawohl, nein, Sie hier nicht, bloß der Wolzow, damit sich ihm das Ende der Ausbildung einprägt!"

   Wolzow hatte die Gasmaske übers Gesicht gestreift. Gottesknecht rief: "Schmiedling, sehen Sie nach, ob die Maske dicht Ist, der Wolzow ist raffiniert! Herrgott, Schmiedling, wie machen Sie denn das? Da drückt man einfach den Schlauch zusammen, wenn er dann nach fünf Minuten noch lebt, sitzt die Maske nicht dicht!"

   Die Jungen lachten. Der Wachtmeister sagte: "Ist das nicht schön, dass wir alle so prachtvolle Laune haben? - Holt! Warum lachen Sie nicht mit?"

   "Herr Wachtmeister, der Wolzow ist mein Freund, da können Sie nicht erwarten, dass ich mich amüsier, wenn er geschliffen wird!"

   "Herrlich muss das sein, so´n treuer Freund!" rief Gottesknecht. "Wie sagten Sie? Das kann ich nicht erwarten? Haben Sie eine Ahnung, was ich alles kann! Holt, los, Gaaaas!" Holt riss die Gasmaske heraus und setzte sie auf. "Schmiedling, nehmen Sie Kastors Pollux gleich mit! Verstehen Sie nicht? Den Holt sollen Sie auch ein bisschen schleifen!" Und er rief: "Geteiltes Leid, Wolzow, ist halbes Leid. Wie bin ich zu Ihnen?"

   Holt und Wolzow keuchten über den Acker. Nach einer Viertelstunde schickte Schmiedling sie in die Baracke. "Teifi, war dös wieder amol nöti?"

   In der Stube war der bevorstehende Einsatz alleiniges Gesprächsthema. So stark sich ein jeder auch gebärdete: die Aufregung grenzte an Angst. Wolzow sagte: "Ob dir was geschieht oder nicht, das steht fest, da kannst du gar nichts machen! Soll dir was passieren, dann passiert´s so oder so, ob du bei der Flak im Ruhrgebiet bist oder an der Ostfront." - "Allah ist groß", sagte Gomulka, "alles steht im Buche des Lebens verzeichnet! Deine Schicksalsergebenheit hat was für sich." - "Mein Vater hätte dir vielleicht Geschichten erzählen können", rief Wolzow, "aus zwei Kriegen, von Leuten, die geglaubt haben, sie können ihrem Schicksal entgehen!"

   Es komme, wie´s kommen muss, dachte Holt.

   Kurz vor zehn rief Schmiedling sie an die Geschütze. Gottesknecht war eine halbe Stunde bei Schmiedlings Kanone zu Gast. Er fand nichts auszusetzen. Noch einmal wurde das Programm durchexerziert. Holt, so hatte es sich eingebürgert, war K 2, Gomulka richtete die Höhe, Vetter hockte an der Zündersteilmaschine. Wolzow war K 3. Gottesknecht sah, wie spielerisch leicht Wolzow auch bei maximaler Rohrerhöhung die schwere Patrone ins Rohr schob. "Na, Schmiedling, da haben Sie eine brauchbare Bedienung ausgebildet!" Schmiedling gab das Lob weiter: "Ihr seid´s fixe Kerle! Wir müssen zsamm bleibn!"

   In den HJ-Uniformen, in denen sie angekommen waren, lagen sie auf den blanken Strohsäcken herum und schrieben eifrig Briefe. Gegen Abend holten sie Verpflegung, dann stand schon Gottesknecht in der Tür. "Meine Herrn, wenn ich Sie höflichst bitten darf... Der Wagen ist vorgefahren! Nehmen Sie tränenreichen Abschied."

   Ein großer, dreiachsiger LKW jagte durch die Nacht. Auf den heißen, trockenen Sommer war der Oktober gefolgt, wolkenverhangen, oft regnerisch und kühl. Bei Regen und triefender Nässe hatten sie am Geschütz gehockt, dann wieder waren strahlende Herbsttage heraufgedämmert, warm und wolkenlos. Diese Nacht aber war dunkel, kalt und sternenlos. Mit abgeblendeten Scheinwerfern raste der Wagen westwärts.

4

Der Wagen hielt in der Dämmerung auf einer Anhöhe. Es war morgens gegen fünf. Die Luft, von weißem Nebel gesättigt, schmeckte nach Ruß und Rauch. Klamm die Anzüge, die Glieder steif vor Kälte, so standen sie herum. Undeutlich im Nebel erkannte Holt mehrere dicht nebeneinander stehende Baracken. Er fror und fand sich nicht zurecht.

   Ein Obergefreiter tauchte aus dem Nebel, um die linke Achsel die gelbe Schnur des UvD. "Servus, Fritz!" rief Schmiedling erfreut. "Dös is unser Waffenmeister, der Obergfreite Macht!" - "Leise", sagte Macht, ein Mann von fünfunddreißig Jahren, klein, dick und blond, "leise! Dort drüben schläft der Chef!" Er wandte sich an die Jungen: "Sie werden eingekleidet." - "War was los heut Nacht?" fragte Schmiedling. "Hier war Ruhe", antwortete Macht, "aber im Norden hat´s Zunder gegeben." - "Und sonst?" - "Jede Nacht", sagte der Waffenmeister, "und fast jeden Tag." Und zu den Jungen: "Mitkommen!"

   In einer der Baracken war die Kammer untergebracht. Durch Fensterläden schimmerte Licht. Irgendwo in der Nähe erhob sich wütendes Hundegebell. Eine dröhnende Stimme rief: "Halt´s Maul, Mensch!" - "Das ist der Chef!" flüsterte Macht. "Seid bloß still!"

   Sie erhielten Uniformen, eine Ausgehmontur mit einreihigem, auf Taille gearbeitetem Mantel, und auch ein Blechbüchschen mit Gehörschützern. Obergefreiter Schnitzler, der Kam-merunteroffizier, war ein dünner, behender Mann mit raschem Mundwerk. "Meckern Sie nicht! Wenn was nicht passt, tauschen Sie´s um!" Mit Kleidern bepackt, verließen sie die Kammer und zogen sich in einer leerstehenden Baracke um.

   Die Wohnbaracke A, Anton genannt, stand etwa fünfzig Meter von der Kammer entfernt. Holt war bald fertig. Er ging ein paar Schritte den Fahrweg entlang, blieb stehen und sah sich um.

   Es tagte. Bald musste die Sonne aufgehen. Der Morgenwind trieb den Nebelvorhang zur Seite, der Blick auf die Stellung wurde frei. Holt prägte sich die Lage der Batterie fest ein. Ein kahler Höhenrücken, der Boden schmutziggrau, die Acker mager und steinig. Im Osten stand Wald, dürre, kahle Stämme, die trostlos an die üppigen, unwegsamen Wälder in den Bergen erinnerten. Vier weit auseinander liegende Wohnbaracken bildeten ein großes Rechteck, dessen Seiten von West nach Ost etwa hundertfünfzig, von Süd nach Nord nicht mehr als fünfundsiebzig Meter messen mochten. Holt sah im Morgenlicht links von sich Anton, rechts Berta, und dort stand noch ein gemauertes Häuschen, an dem das Wort "Kantine" zu lesen war. Zwischen Anton und Berta lag der Barackenhaufen von Kammer, Schreibstube, Küche und Chefunterkunft. Nach links, zu Anton, führte ein Lattenrost, nach rechts, zu Berta und der Kantine, ein breiter Fahrweg, der hier nach Süden bog, talwärts ein Eisenbahngleis schnitt und dann auf eine Straße mündete. Jenseits der Straße zog sich ein Kanal von Osten nach Westen; dort hing noch weißer, undurchsichtiger Nebel. Im Norden von Berta, am Westhang der Anhöhe, sah Holt Baracke Cäsar, und im Norden von Anton konnte er Baracke Dora erkennen, davor einen großen, einsamen Baum. Inmitten dieses Rechtecks lag die Feuerstellung, die hohe Erdaufschüttung der B 2, umgeben von den sechs Geschützständen. Hinter der B 2 war das Funkmessgerät eingegraben. Im Westen der Feuerstellung wölbten sich in einer Reihe von Nord nach Süd die der großen Munitionsbunker der Zweitausstattung aus dem Acker.

   Ringsum, im Tal, sah Holt sich von dem Panorama eines gewaltigen Industriegebietes umgeben. Ãœberall Schlote, Riesenschornsteine, die grauen Qualm ausspieen, wieder und wieder Schlote, Hochöfen, die rote Flammen brennender Gichtgase in den Himmel warfen, Lufterhitzer, Kokereien, riesige Hallen der Stahlwerke am Horizont, dazwischen Fördertürme mit kreisenden Seilscheiben, Riesenretorten der Raffinerien, Abraum- und Kohlenhalden wie die heimischen Berge, und dies alles von Dunst und Rauch überlagert, von Qualmwolken, die träge mit dem Winde davonwehten, durch ein Gewirr von Bahnanlagen verbunden und ringsum eingeschlossen von einem endlosen Häusermeer: Essen im Süden und Westen, Gelsenkirchen im Norden und Nordosten, Wattenscheid im Osten. Die Städte liefen ineinander, und Häuser, Industriewerke, Schlote, Hallen und Geleise nahmen kein Ende, soweit der Blick reichte.

   Das ist nun auch mir anvertraut, dachte Holt. Ein Gefühl des Stolzes bewegte ihn. Aber in seinem Rücken schrie eine derbe Stimme: "Stehn Sie hier nicht rum!" Ein Unteroffizier trat vor ihn hin, ein dreißigjähriger Mann, das Käppi tief in die Stirn gedrückt. "Name!" Und dann: "Worauf warten Sie, Holt? Haun Sie ab, Sie Spund, in zehn Minuten ist Morgenappell!"

   Die Batterie trat auf dem breiten Weg an, der am Rande der Feuerstellung von der Schreibstube zur Kantine führte. Am rechten Flügel stand das Batteriekommando, ein Unteroffizier und zehn Obergefreite. Die achtundzwanzig Neuen, wie sie von den anderen genannt wurden, standen müde und übernächtig im Glied. Holt sah sich die Oberhelfer an, die schon länger zur Batterie gehörten, und er dachte respektvoll: Die haben Hamburg mitgemacht!

   Das Antreten ging nicht ganz reibungslos vor sich. Wolzow geriet mit einem der Oberhelfer aneinander, der ihn einfach zur Seite schieben wollte. "Benimm dich!" sagte Wolzow schließlich. "Du hältst deine Presse, Neuer!" - "Mensch!" rief Wolzow. "Spiel dich nicht auf, sonst kracht´s !" - "Ruhe im Glied!" brüllte der Unteroffizier, Engel mit Namen. "Wollt ihr wohl die Schnauze halten?" Von hinten raunte es: "Lass ihn, Günsche, machen wir andermal!"

   Das gibt Ärger, dachte Holt. Er sah Wolzow verächtlich den Mund verziehen. Hinten murmelte jemand: "Der Neue soll sich wundern!"

   Engel meldete dem Wachtmeister. Gottesknecht, vor der Front, musterte schweigend die angetretenen Jungen. Dann stürzte aus der Chefunterkunft, bei der Schreibstubenbaracke, mit tollem Gebell ein brauner Setter, raste zu der angetretenen Batterie, umkreiste sie kläffend und lief zur Schreibstube zurück, aus der in diesem Augenblick der Batteriechef, Hauptmann Kutschera, trat.

   "Batterie... stillstann!" schrie Gottesknecht. Er kann also auch schreien, dachte Holt... "Zur Meldung an den Herrn Hauptmann Augen... rechts!" Gruß und Meldung: "Batterie mit zwei Unteroffizieren, zehn Mann und achtundachtzig Luftwaffenhelfern angetreten."

Der Hauptmann legte mit nachlässiger Bewegung die Hand an den Mützenschirm, trat näher und rief mit einer ungeheueren Stimme: "Morn, Batterie!", und: "Morn, Herr Hauptmann!" scholl es im Chor zurück. "Lassen Sie rühren", sagte Kutschera. Auch wenn er nur leise sprach, dröhnte seine Stimme weit über den Platz, Gottesknecht kommandierte: "Batterie... rührt euch!" Dann blieb er links hinter dem Chef stehen. Kutschera schaute eine Weile gelassen die Front auf und ab.

   Holt betrachtete den Gewaltigen: Das war ein riesiger, an die zwei Meter großer Mann, fünfzigjährig, eine furchteinflößende Gestalt. Der graue, weite Fahrermantel reichte bis zu den Knöcheln und wies keine Rangabzeichen auf. Nur an der Schirmmütze trug er die silberne Paspel der Offiziere. Die Mütze saß schief auf dem langen Schädel, der aus dem Fahrermantel bleich emporwuchs, und überschattete das Pferdegesicht, das schmal und derb konturiert war; alles in diesem Gesicht zog sich in die Länge, die fleischige Nase, der breitlippige Mund. Die Augen, tief im Schatten des Mützenschirms, blickten kalt und drohend. Der Setter lag ihm zu Füßen, den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt.

   "Hört mal her", sagte der Hauptmann. Er öffnete kaum den Mund, aber seine Stimme war dröhnend und durchdringend. Er hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben. "Jetzt wird eingeteilt. Wenn das länger als eine halbe Stunde dauert, passiert was. Punkt achtÂ…" - er nahm die Linke aus der Manteltasche und blickte auf die Armbanduhr - "melde ich die Batterie einsatzbereit. Wird höchste Zeit; hier ist bisschen was los. Das kotzt mich an, wenn die Schweine da oben rumkurven, und ich kann ihnen keins draufgeben." Er erklärte den Kampfauftrag: "Schutz der umliegenden Industrieanlagen und Wohnviertel." Dann verstummte er unvermittelt; er wollte sich abwenden, und der Hund sprang schon auf die Füße. Aber Kutschera hielt mitten in der Bewegung inne und dröhnte: "Ein Wort an die Neuen! Wenn sich einer beim ersten Gefecht die Hosen vollscheißt, das ist mir egal. Aber wehe, einer macht schlapp! Wenn die Brüder nicht spurn, dann sollen ihnen die Oberhelfer das beibiegen. Selbsterziehung ist noch immer das solideste."

   Ein Freibrief, dachte Holt und schielte verstohlen zur Seite; er sah die Oberhelfer grinsen und Blicke wechseln... Die Stimme des Hauptmanns riss ihn aus seinen Gedanken: "Noch was! Heut Nachmittag Batterieexerzieren mit Zieldarstellung. Da schau ich mir die Neuen an. Vielleicht kommen ein paar Amis vorbei, das ist immer noch das solidesteÂ… Ach was!" sagte er plötzlich und wandte sich ab. Der Hund sprang bellend hoch. "Sei still, Mensch!" Der Hauptmann verschwand in Richtung Schreibstube.

   Gottesknecht teilte ein. Schmiedling schrie: "Wolzow! Holt! Gomulka! Die anderen, los, kommen S´ her!" Sie blieben beisammen und wurden Stammbedienung am Geschütz Anton, dazu noch Weber, Kirsch, Branzner und Kattner, die nachts als Richtkanoniere zum Geschütz Berta gehörten. "Dös haut hin!" sagte Schmiedling erfreut, als er seine Bedienung wieder beisammen hatte. Gottesknecht teilte ihnen noch einen Oberhelfer als stellvertretenden Geschützführer zu.

   Er hieß Günter Ziesche und war ein gedrungener, blonder Junge von siebzehn Jahren, etwas dicklich, mit weibischen Zügen, unreiner Gesichtshaut und einer großen Warze an der linken Schläfe.

   Auch in der Unterkunft, in die sie bedienungsweise eingewiesen wurden, blieben sie beieinander, und Ziesche zog als Stubenältester zu ihnen. Sie richteten sich eine der zwei kleinen Stuben in Baracke Dora ein, sechs Mann, Ziesche, Wolzow, Holt und Gomulka, Vetter und Rutscher. In der gegenüberliegenden Stube nahm die Bedienung von Geschütz Cäsar Quartier; und die dritte, große, am Ende des Korridors, war für Flakwehrmänner reserviert.

   "Baracke Dora liegt am günstigsten", sagte Wolzow, "schön weit weg, hier kommt nicht dauernd der UvD hin!" Ziesche erklärte, dass nur wenige der Oberhelfer in Hamburg dabei gewesen seien, zwölf Mann, die Bedienung des Funkmessgerätes und zwei Entfernungsmesser, von denen sich Hauptmann Kutschera nicht hatte trennen wollen; die anderen waren in Hamburg geblieben. Etwa fünfzig Oberhelfer stammten aus den umliegenden Städten. Sie waren aus anderen Batterien herausgezogen und vor acht Tagen in die 107 gesteckt worden. Denn die Batterie hatte erst vor einer Woche hier Stellung bezogen.

   "Eine üble Schinderei", erzählte Ziesche, während sie sich in der kleinen Stube einrichteten. "Wir haben den ganzen Tag gebaut und geschippt, dann aufmunitioniert. Die Hauptarbeit haben Russen gemacht, aus einem Lager, die mussten scharf ran, die Posten haben sie mit Knüppeln angetrieben." - "Mit Knüppeln?" fragte Holt. "Gibt´s das?"

   "Du lebst wohl auf dem Mond!" sagte Ziesche. "Warum soll´s das nicht geben?" - "Hast du schon mal was von Völkerrecht gehört?" fragte Gomulka.

   "Quatsch doch nicht! In diesem Krieg geht es um Sein oder Nichtsein, da spielen rechtliche Erwägungen keine Rolle! Die Russen sind sowieso bloß Tiere!"

   Es war nichts Neues, Holt hatte es hundertmal gehört.

   Die Klingel schrillte, einmal, zweimal, dreimal,... Gefechtsschaltung!" rief Ziesche. "Los, Stahlhelm, Gasmaske, Gehörschützer! Fenster auf, sonst sind die Scheiben hin!... Lasst euch Zeit, Feuerbereitschaft klingelt nur zweimal!"

   Sie liefen schon den Lattenrost entlang. Als Holt den Geschützstand betrat, sah er ein paar Luftwaffenhelfer mitten in der Feuerstellung das Müo auslegen, ein riesiges, aus weißen Tüchern gebildetes Quadrat mit einem Kreuz darin, das allen deutschen Flugzeugen Landebefehl gab. Im Geschützstand löste Schmiedling die Plane, die Jungen zerrten sie herunter und falteten sie zusammen. Schmiedling legte das Kehlkopfmikrophon um den Hals und schnallte den Kopfhörer am Ohr fest. Der kleine Weber hockte schon an der Seitenrichtmaschine, Gomulka war K 1 und polierte den blanken Höhenrichtbogen, und Vetter, ein wenig bleich, saß an der Zündersteilmaschine.

   Schmiedling schaltete am Kehlkopfmikrophon herum. "Anton... Verständgung is guat! ..." Er schaltete wieder. "Die machen Leitungsprob mit ´m Fu-MG!" Weber meldete: "Seite gut!" Gomulka folgte: "Höhe gut", und auch Vetter meldete vorschriftsmäßig: "Zünder gut!" Wolzow grinste, haute ihm auf die Schulter und sagte: "Na, 'Leiche', ruhig Blut!" Er zog sich den Ladehandschuh an.

   Holt stand abseits in einer Ecke. Gut, spiel ich eben Munitionskanonier. Hat seinen Vorteil: man sieht mehr. Habe ich Angst? fragte er sich plötzlich.

   Er schaute in den Himmel. Im Westen stand eine niedrige, geschlossene Wolkendecke, aber über ihnen war strahlendes Blau. Eine Viertelstunde, dachte er, dann ist alles zugewölkt.

   Schmiedling horchte in den Kopfhörer, dann rief er: "Noch mal Leitungsprob, mit´m Kommandohülfsgerät!" Die Richtkanoniere meldeten.

   Auf einmal brüllte von der B 2 die Stimme Unteroffizier Engels: "Feuerbereitschaft!" im gleichen Augenblick heulten ringsum, in diesem ineinander geflochtenen Netz der Städte, die Sirenen los: auf - ab, auf - ab, laut und entnervend. Ziesche saß auf einem Holm der Lafette. "Gleich Vollalarm? Dann wird´s was!" Holt sah den Hauptmann barhäuptig, den Stahlheim in der Hand, in den Fahrermantel gehüllt und von seinem Hund gefolgt, zur B 2 gehen, dabei brüllte er mit seiner Löwenstimme: "Wollt ihr vielleicht das Müo einziehen, ihr Banditen?!" Ein paar Luftwaffenhelfer liefen über den Acker und rafften die weißen Tücher zusammen.

   "Los, machen S´ die Munibunker auf!" befahl Schmiedling. Holt wuchtete eine der schweren Holzplatten hoch, legte sie auf den Boden und zog ein paar Patronen halb aus den Körben, so dass sie sich gut fassen ließen. Er war aufgeregt und sprach sich unaufhörlich selbst Mut zu. "Still!" schrie Schmiedling. "A Luftlagmeldung!" Er horchte so angestrengt, dass sich sein Ge-sicht verzog. "Da sein a paar schwere Kampfverbänd über Südholland im Anflug auf d´ Reichsgrenzn!" - "Südholland? Dann kommen sie hierher", sagte Ziesche.

   Der Obergefreite Macht, mit der gelben Schnur des UvD, betrat den Geschützstand, er rauchte Pfeife, an seinem Arm baumelte der Stahlhelm. "Machst K 3, Fritz?" rief Schmiedling erfreut. Dann befahl er: "Wolzow, geben S´ den Ladehandschuh her!" Wolzow protestierte: "Sie haben gesagt, ich darf laden!" Schmiedling lief krebsrot an. "Wern S wohl pariern!" Wolzow zog murrend den Ladehandschuh aus und warf ihn dem UvD hin, der ihn verblüfft auffing.

   Schmiedling war sehr aufgeregt. Seit Feuerbereitschaft befohlen worden war, sagte er immer wieder: "Machen S´ mir ka Schand net... I bitt Sie!" Und plötzlich: "I hab´s im Gfühl, heut gibt´s was!" Dann wieder rief er: "Dös Schießen is net schlimm! Dös kracht aweng, net wahr... Stellen S´ Ihnen bloß net unters Rohr, dort is die Druckwell am schlimmsten!"

   Schmiedlings Unruhe übertrug sich auf Holt, der erhöht auf dem Verschlussbrett eines Munitionsbunkers stand, von wo er über den Erdwall des Geschützstandes hinweg auf die B 2 sehen konnte. Der Hauptmann ragte riesenhaft und barhäuptig über die Brustwehr und suchte mit einem Fernglas den Himmel ab.

   "Luftlag!" rief Schmiedling. "Die Kampfverbänd fliegn ´s Ruhrgebiet an! Glei geht´s los!" Auf der B 2 begann wildes Hundegebell, was in der Messstaffel fieberhafte Unruhe auslöste. "Der Blitz vom Hauptmann", sagte der UvD, der neben Ziesche auf dem Holm hockte, "der riecht das Schießen!" Er zog dich den Ladehandschuh an. Auf der B 2 setzte Kutschera das Glas ab und schnauzte seinen Hund an: "Sei still, Mensch, sonst fliegst du raus!" Das Bellen verstummte.

   Auf einmal, unwirklich fern, war ein feines Summen zu hören. Holt spürte seinen Herzschlag bis in die Schläfen. Die Wolkenbank stand noch immer im Westen. Von der B 2 dröhnte die Stimme des Hauptmanns über die Stellung: "Rohre Richtung neun!" Das Geschütz schwenkte nach Westen. Holt beobachtete unverwandt die Befehlsstelle, dort rief eine helle Jungenstimme: "Motorengeräusch in neun!" - "Mensch!" brüllte Kutschera. "Die Flugmelder, diese Idioten, die pennen wohl?!"

   "Zünder hat Werte!" schrie Vetter, kreidebleich vor Schreck. Die Schwungmasse der Zündersteilmaschine heulte los wie eine Sirene. Holt stülpte mechanisch den Stahlhelm auf den Kopf, riss eine Patrone aus dem Korb, trug sie zu Wolzow, der sie in den Zünderstelltopf einsetzte und Holt dabei zunickte... wie gut das tat! Schmiedling schrie: "Schießen mit Funkmessgerät!" Schon meldete Weber: "Seite eingestellt!" Gomulka folgte: "Höhe eingestellt!" - "Zünder!" schrie Schmiedling. "Was is denn mit ´m Zünder!"

   Holt sah und erlebte dies alles wie von fern, denn Angst hatte ihn gefasst. Angst vor dem ersten Schuss, Angst vor Bomben, Angst vor allem, und sie hüllte ihn ein wie der Nebel am Morgen. Das Geschützrohr schwenkte ganz langsam nach Norden, Holt, eine Patrone im Arm, stand hinter Wolzow, das Summen am Himmel wurde stärker, nun begann ein Dröhnen und Donnern, wie ein schweres Gewitter. Der UvD, breitbeinig hinter dem Geschütz, sagte: "Das sind die Batterien in Mühlheim!" Und da kam endlich Vetters Stimme: "Zünder im Bereich! Zünder eingestellt!" - "Anton feuerbereit!" schrie Schmiedling ins Kehlkopfmikrophon.

   Schließlich klappte es wie beim Exerzieren. Holt hörte auf der B 2 die Stimme Kutscheras: "Feuer frei!" Dann kam schon Schmiedling mit dem Ankündigungskommando: "Gruppenfeuer..." Holts Herzschlag setzte aus. "Gruppe!" krächzte Schmiedling, die Feuerglocke rasselte, Macht riss die Patrone aus der Zünderstellmaschine und schob sie ins Rohr, der Verschlusskeil fuhr hoch, die ledergepanzerte Hand fasste den Abzugshebel... Mund auf! dachte Holt noch, dann fuhr ihm ein Blitz in die Augen, wie ein Schlag traf ihn die Schallwelle, ein furchtbares, ohrenzerreißendes Krachen, Staub und Qualm überall, und wie im Traum sah Holt das Rohr zurückfahren und die rauchende Kartusche ausspeien. Das Bersten und Schmettern verstummte nicht. Plötzlich war alle Angst weggewischt. Holt dachte: Das sind die Nachbarbatterien! Fern in der Wolkenbank hing das durchdringende Surren der Flugzeugmotoren und vermischte sich mit dem Bersten der Flakgranaten.

   "Gruppe!" schrie Schmiedling. Holt reichte Wolzow eine Patrone, Wolzow nahm sie und grinste, und kaum war der Schuss gefallen, rief Schmiedling: "Feuerpause!"

   Holt reckte den Kopf nach der B 2. Dort setzte in diesem Augenblick chaotischer Lärm ein. "Pulk in neun!" schrie jemand. Holt blickte zum Himmel. Da! Ein Schwarm winziger Punkte, silberglänzend in der Sonne, schwebte aus der Wolkenbank heraus in den blauen Himmel, und ringsherum, wie hingezaubert, standen die Sprengwolken der Flakgranaten. Sie fliegen an uns vorbei! dachte Holt erlöst. Dann ging alles ganz schnell: "Ziel aufgefasst!" gellte es auf der B 2, und wieder Kutscheras Stimme: "Feuer frei!" - "Schießen mit Kmandohülfsgerät!" rief Schmiedling, und Macht sagte: "Jetzt wird optisch geschossen, jetzt kriegen sie Pfeffer!" - "Gruppenfeuer!" rief Schmiedling. "Gruppe!" Mund auf! dachte Holt wieder. Er sah Vetter an der Kurbel drehen wie einen Leierkastenmann, sah, dass sich das Gesicht des UvD beim Abschuss verzerrte wie im Veitstanz, und sah auch, dass Schmiedling nun seelenruhig war. "Gruppe!" Holt lief nach einer Patrone zum Bunker. Schmiedling hat ja nur Angst gehabt, wir könnten versagen!

   "Feuerpause!" Schmiedling sagte: "Die im Norden ham s´ besser im Zünderbereich!" Und freudestrahlend: "Jungs, Kerle san S´, dös is guat!... Flugzeug neun!" rief er erschrocken. Weber riss das Geschütz nach Westen zurück. Vorbeiflug von links nach rechts, schießen mit Kommandohilfsgerät, wie in der Ausbildung, dachte Holt, nur dass es zwischendurch kracht... Er zählte die leeren Kartuschen, elf, zwölf Stück, man schob sie mit den Füßen in die Ecken des Geschützstandes. Und immer wieder: "Gruppe!" Ein neuer Pulk zog im Norden an ihnen vorbei. Wozu hab ich Angst gehabt? dachte Holt, und er grinste zu Wolzow hin, und Wolzow grinste zurück.

   "Feuerpause!" Das Rohr schwenkte zurück nach Norden, fünfundvierzig Grad erhöht. Das Summen der Flugzeugmotoren wurde schwach und schwächer. Im Norden grollte schwerer Geschützdonner. "Jetzt gibt´s Zunder in Recklinghausen!" sagte Macht. Ziesche, der während des Schießens tatenlos bei Schmiedling gestanden hatte, meinte: "Wenn nicht noch eine neue Welle kommt, sind sie hier durch!" Schmiedling meldete den Munitionsverbrauch an die B 2, einundzwanzig Schuss. Er steckte sich eine Zigarette an. "Wann die Brüder zruckkimma, denselbign Weg, da muss dös wieder so klappen!"

   Sie warfen die leeren Hülsen aus dem Geschützstand. Schmiedling horchte in seinen Kopfhörer. "Anton verstandn!... Die Feuerbreitschaft is aufghobn!" Holt sah Kutschera, von seinem Hund gefolgt, die B 2 verlassen und in Richtung Schreibstube verschwinden.

   Die Luftwaffenhelfer schleppten fluchend neue Munitionskörbe an die Geschütze. Ein Korb mit den Patronen wog fast einen Zentner. Wolzow meinte: "Das Schießen ist großartig!" Sie warteten am Geschütz. Schmiedling erhielt eine Luftlagemeldung: "Die Verbänd, net wahr, die fliegn wohl nach Berlin, net wahr, da kommen s´ vielleicht gar net hier zruck!" - "Von Berlin fliegen sie bei gutem Wetter meist über die Kieler Bucht nach England ab", sagte Ziesche. Wolzow fragte: "Wenn die noch mal vorbeikommen, lassen Sie mich dann laden?" - "I frag´n Chef", antwortete Schmiedling, "i hab jetzt a Zutraun zu Ihnen."

   Aber die Bomberpulks flogen über Norddeutschland aus.

   Holt, Wolzow und Ziesche gingen Tage später über den Lattenrost durch die Feuerstellung. Da verließen drei Oberhelfer die B 2, als hätten sie dort gewartet, drei große, derbe Burschen. Einer war neulich beim Antreten Günsche genannt worden; die anderen beiden, dachte Holt, indem er die drei argwöhnisch musterte, mochten Zwillingsbrüder sein, so ähnlich sahen sie einander. Ziesche bog rasch nach links ab und ging wortlos seiner Wege. Holt und Wolzow blieben stehen.

   "Hör mal, Neuer..." sagte Günsche in norddeutschem Dialekt; er war nur wenig kleiner als Wolzow, der ihn sofort unterbrach: "Neuer? Ich heiß Wolzow, das wirst du dir ja wohl noch merken können!" Herrlich frech! dachte Holt. Bloß nicht einschüchtern lassen! Günsche zog die Brauen hoch, seine Augen funkelten. Die Zwillingsbrüder hinter ihm, zwei kräftige Burschen, pusteten sich mächtig auf und nahmen die Hände aus den Taschen.

   Günsche sagte drohend: "Wenn du noch mal den großen Rand riskierst, dann bist du dran mit Selbsterziehung!" Holt sah, dass Wolzow sich duckte, und sagte schnell: "Lasst uns in Ruhe, ihr Hamburger!" Günsche fuhr ihn an: "Du hältst die Fresse, du Spund, sonst..." - "Sonst?" schrie Wolzow, und "dann ging alles sehr schnell. Holt erhielt einen Schlag ins Gesicht, aber schon warf er den langen Günsche im Kopfschwung auf den Lattenrost er sah noch, wie sich Wolzow auf die Zwillingsbrüder stürzte, und dann tobte kläffend der Setter um sie herum, und gleich war auch der Hauptmann da. Die ungeheure Stimme brüllte: "Mensch, was ist denn hier los, was erlauben sich denn die Kerle!"

   Holt ließ den verdutzten Günsche los, der sich aufrappelte. Auch Wolzow stand stramm vor dem Hauptmann. Einem der Zwillingsbrüder lief aus der Nase dickes, dunkelrotes Blut über den Mund und auf die Uniform; der andere krümmte sich auf dem Acker und schnappte nach Luft. Hat ihm Gilbert eins auf den Magen gegeben, dachte Holt.

   "An den Baum binden und auspeitschen!" dröhnte Kutscheras Stimme. "Die Neuen verprügeln die Alten, wo gibt´s denn so was!" Seine Sympathie lag eindeutig bei den Hamburgern. Plötzlich stand Gottesknecht an seiner Seite, und Kutschera drehte ihm unwillig den Kopf zu. Wenn er uns jetzt in den Rücken fällt, dachte Holt, dann hat Gilbert recht, dann ist Gottesknecht ein Aas. Aber Gottesknecht sagte, leise, wie es seine Art war: "Verzeihung, Herr Hauptmann, ich hab´s von der B 2 angesehen. Die Neuen trifft diesmal weniger Schuld. Günsche hat den ersten Schlag geführt."

   "So!" sagte Kutschera unzufrieden, und einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er den Wachtmeister zurechtweisen. Aber dann sagte er: "Da misch ich mich nicht einÂ… Günsche!" schrie er, und zu den Zwillingen: "Pingels, ihr Arschlöcher! Mensch, wenn ihr euch so blöd anstellt, dann lasst euch halt von den Spunden verdreschen!" Riesenhaft, von seinem Hund gefolgt, stiefelte er davon. Gottesknecht sagte: "Jetzt ist Ruhe, meine Herren, sonst mach ich mit und bestraf euch alle zusammen!"

   Günsche, als auch Gottesknecht verschwunden war, zischte: "Das kommt euch teuer zu stehn!" Wolzow sagte: "Halt die Fresse..." Auf einmal schrie er, nach vorn geneigt, mit geballten Fäusten, und Holt hatte Wolzow noch nie so in Wut gesehen "Ihr sollt mich kennen lernen! Ich schlag euch reif für´s Krankenhaus!" - "Schluss!" sagte Holt und zog Wolzow davon.

   In der Stube räumten Holt und Wolzow ihre Spinde ein. "Wenn sie uns nicht in Frieden lassen, knöpf ich sie mir einzeln vor", drohte Wolzow. Ziesche, leicht ironisch, meinte: "Nimm dir nicht zuviel vor. Unter den Hamburgern sind starke Kerle!" -"Du willst auch was?" Wolzow musterte Ziesche. Holt sagte: "Du bist vorhin einfach davongerannt! Sind wir zusammen an einem Geschütz? Leben wir zusammen auf einer Bude?" - "Ich bin Oberhelfer, ich verderb mir´s nicht mit meinen Kameraden." - "Oberhelfer wird nach einem halben Jahr jeder!" entgegnete Holt.

   Wolzow knallte seinen Spind zu. "Ich hab´s beim Wachtmeister verschissen, wieso weiß ich nicht. Ich hab´s womöglich auch beim Chef verschissen. Jetzt ist mir alles egal! Ich nehm´s mit der ganzen Batterie auf. Lass sie draußen antreten, deine Herren Oberhelfer, meinetwegen können sie alle auf einmal kommen... Meinst du", schrie er Ziesche an, "ich mach mir was draus, wenn zur Abwechslung ich mal die Fresse voll kriege? Da müssen sie mich totschlagen, oder aber es heißt danach: Auge uni Auge, Zahn um Zahn, solang ich noch einen Finger rühren kann." - "Soll ich´s ausrichten?" fragte Ziesche. - "Wenn du dich nicht schnell auf unsere Seite stellst..." drohte Holt. Vetter rief im Hintergrund: "Du Pickelhering, Mensch, dich reiben wir zu Mus!"

   "Tun Sie das nicht!" sagte Gottesknecht, der plötzlich in der offenen Tür stand. "Herrn Oberhelfers Mütterchen weint sich sonst die Augen aus." Todsicher hat er schon lange auf dem Flur gestanden und gehorcht, dachte Holt... Wozu sind wir in einer so entlegenen Baracke? Man muss ein Warnsystem einrichten!

   Gottesknecht blickte sich in der Stube um. Endlich rief Ziesche Achtung und meldete. Gottesknecht schnüffelte mit erhobener Nase. "Die Herren haben geraucht! Pfui, das ist verboten,!" Dann trat er vor einen offenen Spind, es war Ziesches Spind, fasste mit spitzen Fingern ein Buch, zog es heraus und schaute nach dem Titel. "Flex...", sagte er, " 'Der Wanderer zwischen beiden Welten', aha! Wer liest denn da so kerndeutsche Bücher?"

   "Ich, Herr Wachtmeister!"

   "Soso! Ich hab übrigens auch was zu lesen für Sie, von meiner Frau, die wäscht sich immer mit Seesand-Manlelkleie, schaun Sie sich mal den Prospekt an, vielleicht geht davon Ihre Akne weg!" Die Jungen lachten, Ziesche errötete unaufhaltsam. "Wolzow, Holt,... mitkommen!" sagte Gottesknecht. Er ging vor ihnen den Lattenrost entlang. "So. Da wolln wir mal... Nach Norden weg, marsch, marsch!"

   Eine Sekunde verständnislosen Zögerns, dann liefen Holt und Wolzow den Hang hinab. "Achtung!" Sie standen wie die Bäume, Front zu Gottesknecht, der sich breitbeinig auf dem Lattenrost aufgepflanzt hatte. "Hinlegen!" Sie warfen sich auf den Acker. "So, jetzt wird schön flott zu mir hergerobbt!" Sie krochen den steilen Hang empor. "Auf!" befahl Gottesknecht.

   Er sah ihnen in die Augen, er war nicht böse. "Der Wolzow hat noch immer Wut! Schade!" Und beinahe besorgt: "ich hab doch recht, Wolzow, nicht wahr? Sie sind wütend!"

   "Jawohl, Herr Wachtmeister!"

   "Sehen Sie! Ich seh das an den Augen, das hab ich von einem Schäfer, der erkannte auch alles an der Pupille, Schwangerschaften, Bauchgrimmen, Hodenbrüche... Wir machen also noch ´n bisschen weiter, bis Wolzow keine Wut mehr hat, eher kann ich mich mit ihm ja nicht ruhig unterhalten. Holt, Sie leisten ihm Gesellschaft, damit er sich nicht so einsam fühlt. Sie haben doch Lust, mitzumachen?" fragte er, und wieder klang seine Stimme ehrlich besorgt. "Jawohl, Herr Wachtmeister!" - "Fabelhaft! Sehen Sie, Wolzow, das ist Freundschaft! Sie laufen jetzt den Hang runter, bis zur Chaussee, hundertzwanzig Meter, alles genau vermessen! Dann kommen Sie den Hang wieder hoch, Häschen-hüpf, kennen Sie das?" - "Jawohl, Herr Wachtmeister!" - "Enorm! Aber ordentlich tief runter, die Arme im Vorhalt, schön in die Kniebeuge!... Gesundheitlich geht´s Ihnen doch gut?" - "Jawohl, Herr Wachtmeister!" - "Na also. Wolzow, Sie werden das den ganzen Nachmittag machen müssen, Sie werden ja immer wütender! Traben Sie erst mal los!"

   Sie liefen im Laufschritt den Hang hinab. "Gilbert, der will was! Reg dich nicht auf!" - "Er soll mir den Buckel runterrutschen!" gab Wolzow zurück.

   Sie hüpften den Hang empor. Holts Oberschenkel begannen zu schmerzen, die Muskeln verkrampften sich, die Knie zitterten haltlos. Wolzow war Holt voraus. Der Hang stieg steil an; Holt wurde der Atem knapp. Das kommt vom Rauchen, ging es ihm durch den Sinn. Er kämpfte gegen den Wunsch an, sich hinzuwerfen und auszuruhen. Mit empfindungslosen Beinen und schmerzendem Rücken, atemlos und erschöpft, langte er beim Lattenrost an.

   "Na, wie war´s?" fragte Gottesknecht. Er rauchte eine Zigarette, die Mütze ins Genick geschoben, offenbar bester Laune. "Nicht wahr, Wolzow, das ist eine Viecherei?" "Es strengt ganz schön an", sagte Holt, "man ist zuwenig trainiert!" - "So? Da müssen wir das öfter machen, an mir soll´s nicht liegen!" Er wandte sich an Wolzow. "Na, haben Sie noch Wut?"

   Wolzow antwortete nicht. Gottesknecht schmunzelte. "Herr Wachtmeister", sagte Wolzow. "Ich melde, dass ich vorn Häschenhüpf die Schnauze voll hab!"

   Gottesknecht rief: "Die Schnauze voll! Holt, haben Sie´s gehört? Wolzow, das ist ein Wort, dafür gibt´s Sehrgut, da haben Sie mir eine Riesenfreude gemacht!" Er zog sein Notizbuch. "Herr Wachtmeister!" sagte Wolzow. "Das Sehrgut nützt mir nichts, ich hab noch Ausgehverbot!" - "Gehabt!" sagte Gottesknecht. "Ab heute dürfen Sie ausgehn, weil Sie mir diese Riesenfreude gemacht haben! Dass Sie heute das erste Mal beim Militär die Schnauze voll hatten, das muss außerdem gefeiert werden, da lad ich Sie am Sonnabend in der Kantine zum Bier ein, Sie auch, Holt, weil Sie diesem Kastor ein so getreuer Pollux sind. Wissen Sie was, Wolzow? Ich mach meinen Frieden mit Ihnen, jetzt haben Sie eine ganz große Nummer bei mir! Wissen Sie, warum ich so einen Zahn auf Sie gehabt habe?" - "Kann mir´s schon denken", knurrte Wolzow, ganz unmilitärisch, "wegen Onkel Hans!"

   "Diese Offizierssöhnchen", sagte Gottesknecht, "die hab ich gerne! Da war mal einer, Vater Major, sofort ging´s los, ich war noch Unteroffizier. Dauernd hat er sich bei seinem Vater beschwert, und der Alte hat sich hinter unseren Chef geklemmt, so dass ich pausenlos Genickschläge bekam. Seither hab ich ein Misstrauen, das werden Sie verstehen. Wolzow, bei Ihnen hab ich gedacht, er wird mir das ganze OKL auf den Hals hetzen. Nein! Hat er nicht gemacht! So dumm ist er nicht, hab ich gedacht, dass er die Generalität in einem Brief aufhetzt, der durch meine Hände geht. Da bin ich vor acht Tagen extra mit dem Auto hinter der Frau von der Kantine hergefahren, der Sie den frankierten Brief mitgegeben haben. Jetzt hab ich ihn erwischt, dachte ich. Ja, Essig! 'Ist prima hier', stand drin. Ich war richtig enttäuscht!" Wolzow und Holt lachten. "Warum haben Sie den Brief eigentlich nicht mit der Feldpost geschickt?" - "Weil ich was zum Rauchen brauchte", sagte Wolzow, "und weil Sie die Post immer drei Tage auf der Schreibstube herumliegen lassen!" - "Ihre nicht mehr", sagte Gottesknecht, "die geht jetzt mit Eilkurier ab! Ihre auch, Holt!" Er schmunzelte: "Muss ja ein tolles Mädchen sein, Ihre Uta!"

   "Herr Wachtmeister... " Holt fühlte, wie er rot wurde. - "Ich bitte Sie... Dieser Briefwechsel ist wirklich privat!" - "Ist übrigens ein Brief da", sagte Gottesknecht. Er langte in die Brusttasche und drückte Holt einen der schmalen, festen Umschläge in die Hand. "Wie bin ich zu Ihnen? Suchen Sie sich mal einen Vorgesetzten, der den Postillon d´amour spielt."

   Plötzlich wurde er ernst. "Der Schmiedling beantragt, dass Sie scharf laden dürfen, Wolzow, und der Chef hat ja gesagt, aber er schaut sich das beim nächsten Alarm selber an. Damit Sie Bescheid wissen!" - "In Ordnung, Herr Wachtmeister." - "Und nun zur Sache", meinte Gottesknecht nachdenklich. "Sie machen mir´s Leben schwer, Wolzow! Sie haben sich die Alten, die Oberhelfer, zu Feinden gemacht, die werden Sie furchtbar verhauen! Der Chef liebt das. Er nennt das Selbsterziehung." - "Herr Wachtmeister", sagte Wolzow überlegen, "ich will nicht angeben, aber da ist keiner, vor dem ich Angst hab." - "Aber es werden ein Dutzend kommen!" - "Ich hab auch meine Freunde. Holt kann Jiu-Jitsu, und wenn Gomulka mal die Ruhe verliert, da drischt er ganz schön dazwischen!"

   "Sehen Sie", sagte Gottesknecht, "das ist es, wovor ich Angst habe! Nicht, dass Sie mal den Hintern vollkriegen, da hätte ich sogar eine irrsinnige Freude dran! Aber Parteikämpfe, wie im alten Rom... Saalschlachten, Verletzte womöglich... Oder Sie schlagen gar einen tot, Wolzow! Und alles auf Kosten der Feuerbereitschaft! Bisher war´s ganz harmlos, aber hier fallen auch Bomben! Da muss eine Batterie in Schwung sein." - "Herr Wachtmeister, wir haben nicht angefangen!" sagte Holt. - "Ich weiß..." - "Die solln uns in Ruhe lassen", rief Wolzow. "Wir schießen nicht schlechter als die Alten. Ich hab nichts gegen die, aber man soll uns in Ruh lassen und anerkennen." - "Ich war in Berta bei den Hamburgern", sagte Gottesknecht. " 'Der Wolzow bekommt eine Abreibung, der Holt gleich mit', sagen die. Ich hab´s verboten, aber was nützt das? Der Chef hat nichts dagegen!" - "Dann muss alles seinen Gang nehmen, Herr Wachtmeister!"

   "Einen Weg gibt´s", sagte Gottesknecht sinnend, und er sah Wolzow fest an, "und das ganze Theater fällt aus wegen Nebel. Wenn der Chef es den Hamburgern verbietet! Jemand muss den Chef von oben... verstehen Sie? Wolzow, ich lass Sie in der Schreibstube ganz allein mit Ihrem Onkel telefonieren! "

   "Ein General hat andre Sorgen, Herr Wachtmeister!"

   "Schade", sagte Gottesknecht. Er rückte das Koppel zurecht. "Geben Sie Bescheid, das Batterieexerzieren fällt aus. Geschützreinigen, dann ist dienstfrei. Mahlzeit."

   Sie verständigten Gomulka und gingen vorsichtshalber am Abend zur Leitungsprobe zu dritt durch die Stellung. Aus einem alten Lattenrost rissen sie ein paar Holzprügel und hielten sie griffbereit in der Stube. Ziesche sah die Vorbereitungen stillschweigend an. "Wenn du für die Hamburger spionierst", sagte Holt, "dann..." Vetter hatte eine Idee. "Dann stecken wir dich jede Nacht ins Löschwasserfass!" Ziesche schwieg.

   Holt holte sich aus der Schreibstube seine Erkennungsmarke und brachte auch für Wolzow Post mit. Nun hatte er Zeit, Utas Brief zu lesen.

   "Mein Onkel ist zum Generalleutnant befördert worden", rief Wolzow. "Das nenne ich eine Offizierskarriere!" Ziesche war überrascht. "General? Deswegen die große Klappe!" - "Nur keinen Neid!" brummte Wolzow gutgelaunt.

   Holt lag auf seinem Bett. Sie sei recht einsam, schrieb Uta. Dann und wann gehe sie zu Wieses, das sei der einzige gesellige Verkehr. Mit Interesse verfolge man alle Nachrichten über das Leben bei der Flak. Warum schreibt sie so sachlich? dachte Holt. Warum geht sie nicht ein bisschen aus sich heraus? Endlich ein paar herzliche Worte: Seine Briefe empfange sie mit Freude, er möge bleiben, wie er sei, ihr Leben verlaufe sehr eintönig grau, er bringe ein wenig Helligkeit hinein... Er lag unbeweglich und träumte... Als er erwachte, war es abends gegen neun. Gomulka fegte. Zehn Uhr war Zapfenstreich. Vetter, Rutscher und Wolzow spielten Skat. Wolzow sagte über die Schulter: "Verpenntes Luder! Deine Kaltverpflegung ist im Spind."

   Laut Vorschrift waren die Spinde verschlossen zu halten, ein offener Spind bedeutete "Verleitung zum Kameradendiebstahl". Hier nahm man das nicht so genau.

   Holt wollte noch an Uta schreiben, aber da gellte schon die Alarmklingel. Sie waren nur sechs Luftwaffenhelfer am Geschütz, Kirsch, Branzner, Kattner und Weber gehörten nachts zu Berta. Als Ersatz waren ihnen fünf Flakwehrmänner als Munitionskanoniere zugeteilt. Die unausgeschlafenen, abgearbeiteten Männer setzten sich in den Mannschaftsbunker und rauchten.

   Holt saß als K 2 an der Seitenrichtmaschine. Ziesche legte die Geschützführerleitung an. Schmiedling langte nach dein Ladehandschuh, doch Wolzow protestierte. in diesem Augenblick wurde Feuerbereitschaft befohlen, und in den Städten heulten die Sirenen... Ziesche erhielt die erste Luftlagemeldung: Starke Kampfverbände über Holland im Anflug auf den Raum Köln-Essen... Hier fallen Bomben! dachte Holt mit Gottesknechts Worten. Er zog den derben Mantel fest um seinen Körper.

   "Die Verbände drehen nach Osten ab", meldete Ziesche bald darauf. Aber da kläffte auf der B 2 schon der Setter, der Hauptmann schimpfte durch die Nacht. Sekunden später dröhnte wieder das entnervende Motorengeräusch durch die Luft. "Schießen mit Funkmessgerät!" rief Ziesche. Aber die Zünderwerte blieben weit über Bereich. Eine halbe Stunde lang zogen die Bomberschwärme im Norden vorüber. Am Horizont stachen die Lichtkegel der Scheinwerfer in den Himmel. Und fern donnerte schweres Flakfeuer.

   "Münster!" erklärte Ziesche. "Dort stehen aktive Batterien, auch 1218-Zentimeter- und 15-Zentimeter-Eisenbahn-Flak!" Dreiviertel elf wurde die Feuerbereitschaft aufgehoben. In den Städten heulten die Sirenen Vorentwarnung.

   Holt blickte über die Erdumwallung hinweg durch die Nacht. Ãœber der B 2 lag blasser Lichtschein. Die Gestalt des Hauptmanns huschte wie ein Gespenst am Geschützstand vorbei. Scheinwerfer suchten den Himmel ab und ließen die Wolkendecke aufleuchten. "Die Kampfverbände werfen im Raum Hannover-Braunschweig Bomben", meldete Ziesche.

   "Hau ab, du Pennbruder", schimpfte Wolzow. "Rutscher, los, mach K 7, der Flakwehrmann pennt mir noch ein!"

   Holt blickte auf die Armbanduhr. Das Zifferblatt leuchtete schwach. Kurz vor Mitternacht. Ins Bett! dachte er, aber Ziesche rief: "Anton verstanden! Es ist wieder Feuerbereitschaff!" Holt probierte an der Seitenrichtmaschine noch einmal das winzige Lämpchen, das den Richtkreis beleuchtete. Die Sirenen gaben aufs neue Alarm.

   "Rohre Richtung drei!" rief Ziesche. Schmiedling fragte: "Wolzow, haben S´ den Ladehandschuh?" - "Die Kampfverbände haben ihre Ziele in Mitteldeutschland verfehlt und fliegen den Raum Köln-Essen von Osten an", meldete Ziesche. Er schnauzte die Flakwehrmänner an: "Munition bereithalten!... Still! Luftlage!" Er horchte. Tiefschwarze Nacht ringsum, leise tuckerte der Motor, der die Akkumulatoren des Funkmessgerätes mit Strom versorgte. "Anton verstanden! Schneller Verband fliegt Dortmund an, gefolgt von Bomberverbänden." Schmiedling erklärte: "So a schneller Verband, dös sein Lightnings sein dös, oder Mosquitos, Pfadfinder nennen wir dös, weil damit diejenigen vorausfliegn und die Ziel markieren mit die Christbäum!"

   In diesem Augenblick flammte im Westen der Himmel brandrot auf. Die Lohe schlug bis zu den Wolken empor. "Das ist das Stahlwerk, die stechen ab!" rief Ziesche. Jetzt einen Ofen abstechen, dachte Holt, wo die Bomber anfliegen!

   Wolzow redete auf Rutscher ein: "Hör zu... Wehe, ich find keine Patrone im Stelltopf! Ziesche! Sorg dafür, dass Munition rankommt!" - "Der schnelle Verband hat Dortmund passiert!" rief Ziesche. "Bomber suchen Ausweichziele!" Die Dortmunder Batterien, erzählte Schmiedling, schössen nicht auf Pfadfinder. "Kutschera schießt, wo´s was z´ schießn gibt... Sehen S´ ... ", redete er drauflos, "da sin die Bomber den Dreck net losgeworn, da kommen s` jetzt zu uns!" Ziesche verkündete: "Der Batteriechef spendiert zwei Flaschen Schnaps für die Bedienung, die alle Gruppen mitschießt." - "Wolzow!" rief Schmiedling. "Geben S´ lieber doch den Handschuh her !" Holt hörte es in seinem Kopfhörer knistern und knacken. Ziesche brüllte: "Flugzeug drei! Schießen mit Funkmessgerät!" Eine klare, ruhige Stimme sprach in Holts Kopfhörer: "Fünfzehn-null-null, fünfzehn-null-null, fünfzehn-zehn..." Eine kleine Drehung am Handrad, und Holt rief: "Seite eingestellt!" Ziesches "Anton feuerbereit!" hörte er noch und "GruppenfeuerÂ…Gruppe!", dann schmetterte schon der Schuss, ein greller Blitz zerriss die Nacht, Holt wurde von seinem Sitz emporgehoben und fiel schwer darauf nieder... "Gruppe!" Die Feuerglocke schlug, der Schuss brach, und im Kopfhörer sagte die klar artikulierte Stimme: "Seite steht bei fünfzehn-zehn!" - "Wechselpunkt!" brüllte Ziesche. Holt fuhr mit dem Geschütz um hundertachtzig Grad herum. "Seite steht bei siebenundvierzig-zehn ..." - "Gehendes Ziel... Gruppe!" Wieder krachte es, und als schweren Donner hörte Holt die Abschüsse der anderen fünf Kanonen...

   Es war totenstill. Das Feuer anderer Batterien zählte nicht neben dem Inferno der eigenen Abschüsse. "Feuerpause!" Ziesche murrte: "Unfug, auf Mosquitos zu schießen! Die sind ja viel zu schnell!" Wolzow tobte im Geschützstand herum: "Ich trete dir in den Arsch, wenn das nicht besser klappt mit der Munition!" - "Ruhe!" schrie Ziesche. "Da! da!" Holt erstarrte.

   Im Westen bebte die Nacht von schwerem Flakfeuer. Die Dunkelheit wich, es wurde blendend hell. Die Wolkendecke im Westen gleißte wie Silber, und strahlend regnete Licht herab... das war herrlich, das nahm den Atem, das drückte nieder in wilder Angst... "Leuchtzeichen! Jetzt geht´s los!" Vetters Stimme, von der Zünderstellmaschine her: "Werner, Gilbert, o Gott!" Schmiedling stöhnte: "Jesus... Maria... Ihr Apostel, alle Heilgen... beschützt die armen Menschen!" - ‚Das gilt Oberhausen!" schrie Ziesche. Oberhausen, das wusste Holt auf einmal seltsam deutlich, lag kaum fünfzehn Kilometer entfernt...

   Der Hauptmann, im Lichtschein, stand plötzlich barhäuptig im Geschützstand, in den weiten Fahrermantel gehüllt. Er stieß Wolzow mit der Faust in die Rippen, und Wolzows Gesicht verzerrte sich zu einem Grinsen. Der Hauptmann bellte: "Gleich geht´s los! Schmiedling, halten Sie sich bereit, Mensch, wenn der Wolzow schlapp macht!" Dann ging er. Schmiedling rief: "Die zwoa Flaschen, Wolzow, die san uns sicher!"

   Das Flakfeuer im Westen war verstummt. Jetzt brach Geschützdonner nahe im Osten los. "Bochum schießt! Die Bomber sind da!" Schon zitterte der Himmel im Motorenlärm. "Flugzeug drei! Schießen mit Funkmessgerät, direkter Anflug!" Wieder, beruhigend und klar, die Stimme in Holts Kopfhörer: "Seite steht bei sechzehn-achtzig!" Holt meldete eingestellt. Da war auch Gomulkas Stimme, wer weiß wie lang nicht mehr vernommen. Und wieder: "Gruppenfeuer..." - "Gruppe! dachte Holt und öffnete den Mund, aber statt dessen sagte es im Kopfhörer bedauernd: "Düppel-Störung... Funkmessgerät Ziel verloren ... Feierabend!" - "Funkmessgerät fällt aus schrie Ziesche. "Starres Sperrfeuer, Seite sechzehn-achtzig, Höhe fünfundfünfzig, Zünder zwohundertzehn!" - "Eingestellt!" schrie es, und dann Ziesches unkenntliche Stimme: "Barrikadenfeuer... Barrikade... marsch!" Da zuckte der Blitz In die Augen, es krachte und schmetterte unaufhörlich, und zwischen den Abschüssen heulte Wolzow: "Munition her!" - "Barrikade halt! Seite achtundvierzig-sechzig!" Holt riss das Geschütz wieder um hundertachtzig Grad herum. "Barrikade... marsch!" Es knisterte im Kopfhörer: "Machen wir halt weiter, ´s geht wieder! Seite steht bei achtundvierzig-zwanzig!" - "Seite hat Werte, Seite eingestellt!" Ist das meine Stimme? Schießen mit Funkmessgerät, Gruppe! Mund auf, und wieder das unerträgliche Schmettern der Abschüsse, von Wolzow durchheult: "Munition her!"

   Wie lange mochte das alles gedauert haben? Zielwechsel und Wechselpunkt und zwischendurch Barrikadenfeuer, weil die Stanniolstreifen vom Himmel regneten und das Funkmessgerät Immer wieder ausfiel ... Stunden, Jahre, eine Ewigkeit? Jetzt war Grabesstille. Im Westen, wo der märchenhafte Glanz der Leuchtzeichen am Himmel gehangen hatte, schlugen nun blutigrot die Brände zur Wolkendecke empor. "Vorbei!" sagte irgendwer. Und Ziesche ganz heiser: "Oberhausen... das brennt und brennt!"

   Von der B 2 wehte der Ruf durch die Nacht: "Feuerbereitchaft aufgehoben!" Holt taumelte vom Richtsitz hoch. Er stolperte über die leeren Hülsen, die überall umherlagen. Er war fast taub. Nun riss er den Kopfhörer herunter und nahm den Gehörschützer aus dem Ohr. Sein Gesicht war nass. Hab ich geweint? Der gewaltige, unheimliche Brand im Westen erhellte schwach den Geschützstand. Floh starrte in das ferne Flammenmeer. Da sind jetzt Menschen, mitten im Feuer, dachte er. Aber keine Vorstellung verband sich mit diesem Gedanken... Gomulkas Gesicht war fremd und gealtert. Ziesche rief: "Munitionsverbrauch!" - "Wer soll denn die Kartuschen zählen, jetzt in der Nacht?" sagte Wolzow. Ziesche schrie ungeduldig: "Zählt doch die leeren Körbe in den Bunkern!"

   Schmiedling saß auf einem Holm und kümmerte sich um nichts, rauchte und sagte zu Holt: "Da hab i halt´s große Los gzogen, mit der Bedienung!"

   "Munitionsverbrauch!" schrie Ziesche wieder. "Diese Flakwehrmänner, faul wie die Pest!" schimpfte Wolzow. Endlich kam die Meldung: "Vierunddreißig leere Körbe!" Das waren hundertzwei Schuss. Ziesche gab eine letzte Luftlagemeldung: "Alle Verbände im Abflug über Holland. Gefechtsschaltung aufgehoben." Die Luftwaffenhelfer durften ins Bett. Batteriekommando und Flakwehrmänner schleppten Munitionskörbe an die Kanonen und beseitigten die Schäden, die der Luftdruck der Abschüsse an Geschützständen und Baracken angerichtet hatte.

   Holt ging mit Gomulka durch die brandrote Nacht. "Ehrlich, Sepp... Hattest du Angst?" Gomulka zögerte mit der Antwort. "Ja, ich hatte Angst..." - "Es ist wohl auch keine Schande", sagte Holt. "Man muss nur damit fertig werden."

   "Herhören! Was sich heut Nacht an Frieda abgespielt hat, das genügt fürs Kriegsgericht!" Kutschera stand vor der angetretenen Batterie, die Hände in den Manteltaschen. "Macht, wozu sind Sie Waffenmeister, wenn die Spritze bei dem bisschen Schießen auseinander fällt?" Er brüllte immer, aber jetzt war seine Stimme ungeheuer: "Wenn die Kanone nicht besser in Schwung kommt, sperr ich die ganze Bedienung ein!" Der Hund erhob sich auf die Vorderpfoten und knurrte. Kutschera trat dem Stiefel nach ihm. "Du hältst´s Maul, Mensch!... Die anderen Geschütze waren gut. Bei Anton ging´s rund, da war die Tollwut ausgebrochen?" Die Oberhelfer flüsterten miteinander. "Der Wolzow ist ein Gauner!" dröhnte Kutscheras Stimme. Und zu Gottesknecht: "Geben Sie ihm Extraausgang." Ein paar Sekunden stand er unschlüssig vor der Batterie. "Ach, Quatsch!" sagte er, drehte sich um, und der Morgennebel verschluckte ihn.

   Auf dem Fahrweg warteten die Munitionswagen. Die Jungen schleppten bis zum Mittagessen Patronenkörbe zu den Bunkern der Zweitausstattung. Den Nachmittag verschliefen sie.

   Tag und Nacht trieb sie die Glocke ans Geschütz. Dies war ihr Leben, für lange Zeit.

5

   Im November brachten die Nächte klirrenden Frost. Der zähe Nebel, der morgens über der Stellung hing, wich oft bis zum späten Mittag nicht. Täglich zogen die Bomberpulks über den Himmel. Die ständigen Alarme, die Nächte am Geschütz und das Feuer, mit dem Hauptmann Kutschera jede Maschine bedachte, waren den achtundzwanzig Jungen schnell zur Gewohnheit geworden. Am Mittag des 5. November waren Essen, Gelsenkirchen und Münster schwer bombardiert worden, und die Bomben, die den umliegenden Industriewerken galten, fielen bis dicht an die Feuerstellung.

   Eine Woche später lag Holt des Nachmittags auf seinem Bett. Wolzow las in seinen strategischen Lehrbüchern, die anderen spielten Skat. Ziesche las aus der Zeitung vor. "Es gibt höchstens einzelne Verbrecher in Deutschland, die durch einen Sieg der Alliierten etwas gewinnen wollen, und mit diesen Verbrechern werden wir fertig!"... Was das ist?" sagte er auf Gomulkas Frage. "Ja, schläfst du denn? Die Führerrede vom 9. November!" Er las weiter: "Hier, zum Luftkrieg! '... die Herren mögen es glauben oder nicht, aber die Stunde der Vergeltung wird kommen!' - ‚... die Männer sind aufgesprungen, haben die Arme zum Gruß erhoben und riefen mit feuchtblanken Augen stolz und beglückt Heil um Heil ihrem geliebten Führer zu... " - "Lies lieber mal den Wehrmachtbericht", sagte Gomulka ungerührt, "über den Fall von Kiew kann man nämlich auch feuchtblanke Augen bekommen!" Ziesche warf ihm einen bösen Blick zu und las mit seiner heiseren, etwas hohen Stimme: "Sonnenschein kann jeder vertragen, aber wenn es wettert und stürmt, dann zeigen sich erst die harten Charaktere, und dann erkennt man auch den Schwächung..." Holt war so müde, dass er nur noch Satzfetzen wahrnahm: "... am Ende steht der Sieg... niemals verzagen... von hier hinausgehen mit der fanatischen Zuversicht... fanatischen Glauben..., dass es gar nichts anderes geben kann als unseren Sieg!" Die Alarmglocke schrillte. Vetter riss fluchend die Fenster auf.

   Am frühen Abend, wie üblich, kam Zemtzki nach Baracke Dora zu Besuch. Er war rasch zum stellvertretenden Gefechtsschreiber avanciert, und da er des Nachts die Ringleitung abhörte, die alle Batterien der Untergruppe miteinander verband, war er immer gut informiert. "Ich hab´s eben von der Untergruppe", sagte er. "Die Handley Page Halifax, die Dienstag Nacht runtergekommen ist, die ist den Jägern zugesprochen worden!" Vetter rief empört: "Den Jägern? So was!"

   Während der letzten Zeit waren drei viermotorige Bomber in der näheren Umgebung abgestürzt. Jedes Mal hatte es einen wüsten Streit zwischen den Batterien gegeben, doch Kutschera verzichtete darauf, Abschüsse für seine Batterie zu beanspruchen. Schmiedling erklärte es so: "Was unser Kmandeur is, der Major Behling, der kann unseren Chef net leiden." Der Streit der Batterien erreichte in der Regel nur, dass die in der Nähe stationierten Jagdverbände ihre Ansprüche anmeldeten und den Abschuss zugesprochen bekamen.

   Heute regte sich Wolzow auf. Er liebäugelte, wie alle, mit dem Flakschießabzeichen, das den schweren Batterien nach etwa sechs Abschüssen verliehen wurde.

   "Es ist eine Gemeinheit!" piepste Zemtzki. Dann räusperte er sich und gab seiner Stimme einen möglichst tiefen Klang, denn Gottesknecht hatte ihm einmal "wegen unmilitärisch hoher Stimme" Nichtgenügend gegeben. "Ich war Dienstagnacht Flugmelder! Die Jäger waren seit einer Stunde abgeflogen, als die Halifax runterkam!" - "Eine himmelschreiende Sauerei ist das!" schimpfte Wolzow. Er zog sich aus und ging zu Bett. Laut Dienstplan wurde morgens halb sieben geweckt, aber je nach Dauer des nächtlichen Alarms durften sie länger schlafen. Meist holte sie der LvD, Luftwaffenhelfer vom Dienst, ein Oberhelfer, der dem UvD assistierte, gegen halb acht aus den Betten. Acht Uhr begann der Schulunterricht. Bis dahin mussten Betten gebaut und die Stuben aufgeräumt werden, sonst warf der UvD alles durcheinander.

   Der Schulunterricht war eine Farce. Fast täglich wurde er vom Alarm gestört. Fünf Tage in der Woche fanden sich Lehrer einer Gelsenkirchener Oberschule morgens in der Batterie ein und unterrichteten jeden Tag drei Stunden lang ein anderes Fach. Dienstags war der so genannte "Schultag". Alle Luftwaffenhelfer der Batterie gingen zum Chemie- und Physikunterricht nach Gelsenkirchen; die Batterie war unterdessen nicht feuerbereit.

   Wenn die Lehrer in den Wohnbaracken unterrichteten, quälte man sich über die drei Stunden hinweg und wartete auf das Klingelzeichen zur Gefechtsschaltung.

   Den ersten "Schultag" hingegen hatten die Jungen aus Holts Klasse in der Gelsenkirchener Schule verbracht, aber nur aus Unkenntnis der Gebräuche. Die Oberhelfer fuhren zwar auch in die Stadt, schickten jedoch nur ein paar Mann in die Schule. Auch Holts Klasse betrachtete den Dienstagvormittag nun als Feiertag. Man saß von neun bis eins im Cafe, wo man Orangeade zu sich nahm und mit den Freundinnen verabredet war, mit den Schülerinnen der Essener, Gelsenkirchener und Wattencheider Mädchenschulen. Kutschera ließ an den Schultagen eine Anwesenheitsliste führen, die er von Zeit zu Zeitkontrollierte, und Branzner, der selbst nie den Unterricht versäumte, entschuldigte Holt und seine Freunde mit tausend Ausreden, von "krank" bis "unabkömmlich". Sehr beliebt waren völlig unsinnige Entschuldigungen: "Holt muss heute den Rohrmantel waschen", "Wolzow und Gomulka fehlen wegen zu hoher Gebrauchsstufe".

   Man hatte ein kleines Cafe in Gelsenkirchen ausfindig gemacht, "Cafe Italia", an der Rotthausener Straße, nach Essen hinaus. Ringsum lag alles in Trümmern. Das Cafe hatte bisher alle Bombennächte überlebt. Es gab, zu Wolzows Freude, sogar ein Billard. Man nahm auch Verbindung mit einer Mädchen-Oberschule auf. Unter den siebzehnjährigen Schülerinnen - die jüngeren Jahrgänge waren evakuiert - gehörte es zum guten Ton, mit einem Luftwaffenhelfer befreundet zu sein. Sogar Vetter fand Anschluss und ließ zweideutige Spötteleien über sich ergehen, denn das Mädchen, das ihn auserkoren hatte, war dürr wie ein Haselstecken. Auch Wolzow saß eines Tages mit einer üppigen Blondine zusammen und verkündete am Abend in der Stube laut, dass er sich mit ihr verabredet habe und dass sich dann allerhand abspielen werde. Aber die Freude dauerte nicht lange. "Alles aus!" sagte er zu Holt. "Ich hab ihr bloß mal ´n bisschen unter die Bluse gewollt, da hat sie sich angestellt wie sonst was!" Er zog sich wieder zu seinen strategischen Lehrbüchern zurück. Am folgenden Dienstag ging er sogar in die Schule und brachte dadurch Branzner in Verlegenheit, der ihn schon "wegen Beobachtung des Rohrrücklaufs" entschuldigt hatte.

   Doktor Klage, der Mathematiklehrer aus Essen, war etwa fünfunddreißig Jahre alt, ein ruhiger und ernster Mensch, der sich Mühe gab, die Jungen trotz der ungünstigen Umstände im Unterricht voranzubringen. Er hatte sich durch seine bestimmte, dabei ausgesucht höfliche Art, mit den Jungen umzugehen, beinahe etwas wie Anerkennung verschafft und war der einzige unter den Lehrern, der seinen wöchentlichen Besuch in der Batterie nicht als leere Formalität auffasste. Holt bewunderte insgeheim die Geduld, mit der sich Klage auch den zurück gebliebenen und den aufsässigen Schülern wie Wolzow und Vetter widmete. Zur Zeit schrieb der Lehrplan Trigonometrie vor, und Doktor Klage brachte es tatsächlich fertig, in Holt, zum ersten Mal seit Jahren, ein Interesse am Unterrichtsstoff wachzurufen.

   Aber Wolzow fand nur Schimpfwörter für den schon grauhaarigen Mann, der als leidend galt, wobei freilich niemand genau über die Natur dieses Leidens Bescheid wusste; es sollten Nierensteine sein, wurde gemunkelt. An manchem Tage saß Doktor Klage mit eingefallener, bleicher Gesichtshaut hinter seinem Tisch, von Koliken geplagt, und die Schmerzen ließen glänzende Schweißtropfen auf seine Stirn treten. "Alles Theater, alles Verstellung", sagte Wolzow, "der Bursche drückt sich vor der Front!" Er hasste Klage, mit dem er schon in den ersten Tagen Streit gehabt hatte. Damals hatte er an der Tafel eine Aufgabe lösen sollen, war aber auf seinem Platz sitzen geblieben, als gehe ihn der Unterricht nichts an. Doktor Klage, dem Wolzows rüde Art noch nicht bekannt war, stand dicht neben Wolzows Bank und wiederholte: "Wolzow, bitte gehen Sie..." - "Lassen Sie mich in Ruhe!" schrie Wolzow und sprang so wild von, seinem Sitz auf, dass der Lehrer mit einer unwillkürlichen Bewegung der Abwehr zurückwich; bei dieser Bewegung aber stieß er versehentlich Wolzow vor die Brust.

   "Prügeln wollen Sie mich!" schrie Wolzow. "Sie wollen mich prügeln...?" Holt, der hinter ihm saß, fasste ihn am Koppel: "Gilbert, gib Ruh!" - "Prügeln, wo gibt´s denn so was!" krähte Vetter in seiner Ecke. Wolzow, durch Holts Einmischung etwas zur Besinnung gebracht, verließ die Baracke mit den Worten: "Als der beste Ladekanonier der Batterie hab ich´s doch nicht nötig, mich von dem prügeln zu lassen!"

   Doktor Klage beschwerte sich bei Kutschera. Kutschera fiel den Lehrern in solchen Fällen regelmäßig mit seiner Redensart in den Rücken: "Schießen ist wichtiger als Latein!" Diesmal verhörte er, lediglich um der Form zu genügen, einen Zeugen, wobei er sich ausgerechnet Vetter herausgriff, und rief beim Nachmittagsappell: "Mal herhören! Der Wolzow hat sich mit´m Lehrer geprügelt! Wo gibt´s denn so was!" Und dann: "Ich hab einen ausgefragt, der erzählt´s so rum, aber der lügt! Der Doktor Klage erzählt´s andersrum, aber der lügt auch! Wenn beide Seiten lügen, seh ich keinen Grund, mich einzumischen!" Sprach´s, pfiff seinem Hund und zog sich in seine Behausung zurück. Wolzow triumphierte: "Der Chef hat diesen Drückeberger durchschaut."

   Anfang Dezember wurde Klage Flakwehrmann in der 107. Batterie. Es war eine kalte und sternklare Nacht. Ziesche hatte Nachturlaub, Rutscher lag mit Mandelentzündung im Revier. Da aber mehrere Luftwaffenhelfer erkrankt waren, wurden nur fünf Geschütze besetzt. Und plötzlich erschien Doktor Klage bei Geschütz Anton und sagte: "Guten Abend." Es verschlug ihnen allen die Sprache. Klage mochte wieder seine Koliken haben, denn er sah krank und erschöpft aus.

   Wolzow überwand seine Verblüffung, zog sich den Ladehandschuh aus und sagte gedehnt: "Na, dann wohn wir mal." Er wandte sich an Schmiedling: "Hab mir´n Ellbogen verknackst!" Er übernahm die Funktion des Geschützführers.

   Sie schossen ein paar Gruppen auf einen Verband schneller Kampfflugzeuge. In der Feuerpause drückte sich Vetter an Wolzow heran und hetzte: "Der Klage sitzt die ganze Zeit im Bunker!" - "Sehr schön!" sagte Wolzow befriedigt. Er schrie: "Wo ist Flakwehrmann Klage?" Klage tauchte, die Hände auf den Leib gepresst, aus dem Mannschaftsbunker. "Sie haben sich gedrückt! Los, räumen Sie die Kartuschen weg!" - "Wolzow", sagte der Lehrer, "ich..." -"Das ist der Geschützführer", rief Vetter, "da wird pariert!" Wolzow brüllte: "Zehnmal um den Geschützstand! Marsch, marsch!" Holt fand keine Zeit mehr, sich einzumischen, denn Klage murmelte etwas Unverständliches und ging zur B 2.

   Aber bei Kutschera fand er kein Recht. Der Hauptmann hatte eben vom Major eine Anfrage bekommen, worauf die Hundertsieben eigentlich bei Feuerverbot schieße, da seien, verdammt noch mal, Jäger am Feind! Kutschera hatte also üble Laune und fuhr den Lehrer an: "Verrückt! Befehl verweigern... wo gibt´s denn so was! Beschweren Sie sich morgen auf dem Dienstweg!"

   Das Funkmessgerät fasste einen anfliegenden Verband. "Zemtzki", brüllte Kutschera, "melden Sie der Untergruppe, wir haben nischt verstanden! Gottesknecht, los, Feuer frei!"

   Klage lief, als er wieder in den Geschützstand trat, unter die Rohrmündung und mitten in den ersten Schuss hinein; die Druckwelle warf den geblendeten Mann in eine Ecke.

   "Er hat sich schon wieder gedrückt", stellte Wolzow fest, und nun jagte er seinen Mathematiklehrer um den Geschützstand, von Machtrausch besessen. Holt und Gomulka schleppten Patronen. Als sie merkten, was sich an der Kanone abspielte, war es zu spät.

   Doktor Klage ging am nächsten Tag zum Kommandeur und ließ sich in eine andere Batterie versetzen.

   Holt dachte über diesen Vorfall nach. Er erinnerte sich an manches Gespräch mit Peter Wiese. "Eigentlich", so sagte er zu Gomulka, "sollten die Lehrer unsere Erzieher sein ..." Gomulka schwieg. Dann sagte er: "Weißt du, der Wolzow. Er verstummte, mit zusammengepresstem Mund.

   An dem gespannten Verhältnis zwischen Wolzow und den Oberhelfern hatte sich nichts geändert. Aber es blieb vorerst bei Drohungen, über die Wolzow spottete: "Die trauen sich nicht!" Da gab es einen neuen Streitfall.

   Jeder Luftwaffenhelfer hatte innerhalb eines Jahres Anspruch auf einen vierzehntägigen Erholungsurlaub, den so genannten "großen Urlaub". Darüber hinaus gab es regelmäßig Tag- oder Nachturlaub, für diejenigen, die am Einsatzort zu Hause waren. Der Tagurlaub reichte von Mittags zwei, der Nachturlaub von abends sechs bis morgens sieben. Die Neuen erhielten Ausgang, von abends oder von mittags bis Mitternacht.

   Um diesen Ausgang gab es Streit. Wilde aus Hamburg, ein enger Freund Günsches, führte die Ausgangslisten. Holt fand rasch heraus, dass die Hamburger vor allem sich selbst mit Ausgang versorgten. Daraufhin nahm Wolzow die Sache in die Hand. Als Ziesche Nachturlaub hatte, wurde beraten. Vetter sagte: "Wir sollten keinen Stunk machen! Wenn wir erst die Alten sind, dann sind wir immer mit Ausgang dran!" Gomulka protestierte. "Wenn ich mal die Listen führe, dann muss es gerecht zugehen!" Holt unterstützte ihn. Sie beschlossen, den Oberhelfer Wilde hereinzulegen. Drei Wochen lang führten sie Buch, bis der Beweis vollständig war. In drei Wochen hatte Günsche dreimal Ausgang. Holt einmal, Pingel-Otto viermal, Kirsch zweimal. Am Abend schrieben die neun Mann vom Geschütz Anton Beschwerden. Kollektive Beschwerden galten als Meuterei; die Beschwerden durften nicht einmal gesammelt abgegeben werden. Also schrieb jeder seinen Text, und dann erschienen sie, anderthalb Stunden lang, einer nach dem anderen, auf der Schreibstube und übergaben ihre Briefe dem verblüfften UvD. Der Wortlaut war fast der gleiche, das Beweismaterial war identisch. Auf dem vorgeschriebenen Dienstweg gerieten die Beschwerden an Gottesknecht. Er besuchte sie noch am selben Abend in der Stube. Zum Schein machte er Spindappell, warf einigen die Sachen durcheinander und verurteilte Wolzow und Vetter wegen "unerlaubten Grinsens beim Spindappell" zu fünfundzwanzig Kniebeugen. Dann gab er allen Sehrgut "wegen Köpfchen".

   Der Hauptmann ließ sich zwei Tage Zeit. "Er will seinen Lieblingen nicht weh tun", sagte Wolzow. Dann schrie Kutschera beim Morgenappell: "Oberhelfer Wilde, vortreten! Die Kerle von Anton, diese Banditen, haben sich beschwert, Sie führen die Ausgangslisten falsch. Hab das geprüft. Die Beschwerden stimmen!" Und zu Gottesknecht: "Wilde vierzehn Tage Ausgangssperre!" Er brüllte den verdatterten Oberhelfer an: "Mensch, wenn Sie schon Schmu machen, dann so, dass man mich nicht mit dem Salat belästigen kann!"

   Ziesche hatte sich abends bei den Hamburgern in Baracke Berta herumgetrieben und sagte: "Da habt ihr euch was eingebrockt! Die sind vor Wut außer sich!" Vorsichtshalber gingen Holt, Wolzow und Gomulka nur noch zu dritt durch die Stellung.

   Holt hatte Ausgang. Es war ein Samstag. Er fuhr mit der Straßenbahn nach Essen. Vielleicht treff ich ein paar von den Mädchen, dachte er und bummelte, den Stahlhelm am Arm, die Kaiserstraße entlang. Die Menschen hatten es eilig. Das macht der ewige Alarm, dachte er. Ein paar HJ-Führer, die ihm begegneten, übersah er, aber einen Major der Panzertruppe mit dem Deutschen Kreuz in Gold grüßte er ehrfürchtig. Dann blieb er vor einem Kino stehen. "Der große König", von Veit Harlan, auf den Bildern Gustav Fröhlich und Kristina Söderbaum. Reichswasserleiche, dachte er.

   Er sah einen Luftwaffenhelfer an der Seite eines zierlichen Mädchens vorübergehen. Das ist doch Ziesche! dachte er, und er beschleunigte seine Schritte, überholte die beiden und grüßte.

   Es war kein Mädchen, was der blonde, etwas gedunsene Ziesche am Arm führte, es war eine dunkelhaarige Frau von vielleicht fünfundzwanzig Jahren. Sie wandte Holt ein schmales, mädchenhaftes Gesicht zu und sah ihn aus dunklen Augen fragend an, ehe sie mit einem Kopfnicken seinen Gruß erwiderte. Sie standen mitten auf dem Gehweg, und um sie her flutete der Menschenstrom. Ziesche räusperte sich, dann stellte er vor: "Ein Kamerad, Werner Holt. Meine Mutter!"

   "Möchtest du freundlicherweise hinzufügen", sagte die zierliche Frau rasch und ein wenig gereizt in süddeutscher Mundart, "dass ich deine Stiefmutter bin? Man könnte sonst" - sie wandte sich an Holt - "dieses Trampeltier hier" - sie stieß Ziesche mit dem Ellenbogen an - "für meinen leiblichen Sohn halten!"

   Ziesches Lachen war gezwungen. "Also Stiefmutter."

   Jetzt erst, mit angewinkeltem Unterarm, gab sie Holt die Hand. Ihr Blick verwirrte ihn. Die eine Sekunde, die er den Kopf neigte, ging in ihm alles durcheinander: Ziesches Mutter, Stiefmutter, sie ist wie ein Mädchen, zart und zierlich. Er hob den Kopf. Ich darf sie nicht so anstarren! Er war verwirrt.

   Sie gingen zu dritt weiter. Nach ein paar Schriften meinte Ziesche verstimmt: "Wir wollten ins Kino!" Sie antwortete ungezogen und launisch wie ein Kind: "Ich hab mir´s überlegt. Eigentlich habe ich gar keine Lust" Ziesche rief ungehalten: "Da hätten wir doch gleich zu Hause bleiben können!" - "Weißt du was", sagte Frau Ziesche, nun in bester Laune. "Wir kehren um. Ich brühe einen Tee, und wir plaudern!"

   "Nein!" Ziesche blieb stehen. "Ich geh ins Kino, mach was du willst. Heil Hitler!" Mit rotem Kopf drehte er sich um und verschwand in der Menschenmenge.

   Holt war von dieser Szene unangenehm berührt. Er wusste nicht, wie er sich nun verhalten sollte. Sie lief neben ihm her und redete ungehemmt: "Ich hab meine liebe Not mit dem Kerl. Wissen Sie, seine Mutter, das war so eine Superblonde... Arische... Mit mir kann er sich nun nicht abfinden!" Sie blieb stehen. "Und Sie? Lassen Sie mich auch einfach allein?" Sie war kleiner als er und sah ihn von unten aus ihren dunklen Augen an, mit einem ängstlichen und hilflosen Gesicht.

   Ihre Art, so eindeutig zu schauspielern, verwirrte ihn immer mehr. "Wenn Sie erlauben", sagte er beklommen, "begleite ich Sie..." Sie lächelte. Das schmale Gesicht war ihm vertraut, als habe er es seit langem täglich gesehen. "Wohin?" fragte er.

   "Nach Hause!" Er hatte Mühe, seinen Schritt dem ihren anzupassen. "Sie sind von auswärts? Was machen Sie, wenn Sie Ausgang haben?" Man gehe ins Kino, sitze in Cafes herum und spiele Billard... - "Und die Mädchen?" fragte sie. "Die Dämchen aus dem Lyzeum?"

   Für manchen sei das die... einzige Abwechslung gewissermaßen... Er könne es schon verstehen, meinte er. - "Für manchen? Für Sie also nicht?" - "Nein", sagte er befremdet. Es passte ihm nicht, so ausgefragt zu werden.

   "Mit sechzehn Jahren in die Flakbatterie gesteckt, schrecklich! Ihr seid doch noch Kinder!" Er suchte eine Antwort, spitz, geistreich-ironisch sollte sie sein ... Er schwieg, er dachte: Hab ich das nötig, mich beleidigen zu lassen?... Aber als sie vor dem Eingang eines großen Miethauses fragte: "Mögen Sie eine Tasse Tee mit mir trinken?", da antwortete er glücklich .Ja, gern ..." und folgte ihr.

   Er half ihr aus dem schwarzen Pelzmantel und sah sie nun in einem braunen Wollkleid, schlank und schmalhüftig wie einen Knaben. Sie führte ihn in ein Zimmer, wo er verlegen auf dem bunten Teppich stehen blieb. Sein Blick haftete an einer großen, gerahmten Photographie, die auf dem Tisch der Leselampe stand und das Gesicht eines vielleicht fünfzigjährigen Mannes zeigte, ein großflächiges, derbes Gesicht über dein Kragen der SS-Uniform, ein, wenig gedunsen, und es glich, unter der paspelierten Uniformmütze mit dem Totenkopf, dem Gesicht Günter Ziesches... Das muss sein Vater sein! Holt drehte das Bild um und las: "Meiner heisgeliebten Gerti" - tatsächlich, "heissgeliebt" war mit s geschrieben, in klobiger und abstoßend primitiver Schrift - "zum 26. Geburtstag von Ihrem Erwin." Das Datum: "Krakau, 14. Hartung 1942." Fast achtundzwanzig Jahre alt ist sie also. Erregt starrte er auf das Bild, auf dieses gedunsene, brutale Gesicht. Sein Inneres füllte sich bis in den letzten Winkel mit Hass auf diesen Menschen in der protzigen Uniform, der nicht orthographisch schreiben konnte und der Mann einer so wunderbaren, mädchenhaften Frau war...

   Hinter ihm ging eine Tür. Mit flinken Bewegungen deckte Frau Ziesche den Teetisch. Sie lächelte freundlich und plauderte: "Es ist nicht mehr sehr gemütlich hier. Wir haben fast alles ausgelagert. Eines Tages erwischt es auch dieses Haus."

   Er saß ihr stumm und verbittert gegenüber. Sie fragte teilnahmsvoll: "Was ist mit Ihnen?" - "Nichts. Ich hab keine Ruhe. Bestimmt gibt´s Alarm." Sie beugte sich zum Radio hin. Widerwillig verfolgte er mit seinem Blick ihren schlanken Arm. "...Reichsgebiet kein feindlicher Kampfverband." Sie suchte Musik. "Sind Sie nun beruhigt?" Sie lehnte sich bequem in ihren Sessel.

   Ich will fort! dachte Holt. Wär ich lieber ins Kino gegangen! Er glaubte in seinem Rücken den Blick des blonden, breitgesichtigen Mannes zu fühlen. Er konnte nicht ständig auf den Boden blicken, er musste sie ansehen, wie sie mit untergeschlagenen Beinen auf dem Sessel hockte. Ein zartes Profil, und das lange, dunkle Haar gebündelt im Nacken, zu einem lockeren Knoten geschlungen... "Es ist besser, wenn ich gehe." Er stand auf. "Ich hab keine Ruhe!" Sie sah ihn befremdet an. Dann sagte sie in unverbindlicher Liebenswürdigkeit: "Wenn Sie meinen? Ich will Sie nicht halten!"

   Auf dem Korridor zog er sich eilig den Mantel über. Sie gab ihm die Hand. Plötzlich stammelte er: "Bitte... Sie dürfen nicht bös sein..

   Erstaunt zog sie die Brauen hoch. Er wagte nicht, sie anzusehen. "Darf ich wiederkommen?" Sie antwortete unbefangen: "Warum nicht? Ich hab Telefon. Günter gibt Ihnen die Nummer!"

   Er lief hastig die Treppen hinab und irrte planlos durch die Straßen. Dann fuhr er in die Batterie zurück.

   Er fand an diesem Abend lange keinen Schlaf. Vetter röchelte leise. Holt starrte in die Dunkelheit.

   Er sah mandelförmige Augen, dunkles Haar, das zu einem lockeren Knoten geschlungen war.

   Und Uta?

   Er beschloss, Frau Ziesche aus dem Weg zu gehen.

6

   Am Sonntag morgen hatte Kutschera schlechte Laune und nahm einen nachlässigen Gruß zum Anlass, die Batterie anderthalb Stunden mit Fußdienst zu plagen. Die Alarmklingel erlöste die Jungen.

   Nach dem üblichen Sonntagsessen, Rinderbraten mit einer Soße, die "Bratenwasser Din A 4" genannt wurde, Sauerkraut und Pellkartoffeln, zog der sonntägliche Besucherstrom in die Batterie, Eltern und Bekannte der Luftwaffenhelfer aus den, umliegenden Städten.

   Vetter drosch mit Kirsch und Rutscher den gewohnten Sonntagnachmittagsskat. Er versicherte: "Das ist hier ein prima Leben! Na, meine Sippe soll in Zukunft mal versuchen, mich zu verdreschen!" Wolzow las im Clausewitz. Gomulka lag auf cm Bett und schlief.

   Holt schrieb an Uta. Da steckte jemand den Kopf in die Stube und sagte: "Ziesche, in der Kantine ist Besuch für dich." Ziesche verschwand. Das kann nur sie sein! dachte Holt. Uta war vergessen. Soll ich nachschaun, ob sie´s wirklich ist?

   Zemtzki trat ins Zimmer. Vetter zählte seine Stiche: "Achtundfünfzig, zwoundsechzig, es reicht!" - "Gilbert", piepste Zemtzki, "du sollst ans Geschütz Cäsar kommen, dort probieren die Obergefreiten eine hydraulische Ladeschale aus!" Wolzow klappte das Buch zu. "Das muss ich mir ansehen!" Er warf die Tür ins Schloss.

   Ich kann nicht nach der Kantine laufen, ich mach mich ja lächerlich, dachte Holt. "Was ist ´n das: Ladeschale?" fragte jemand. Vetter erklärte: "Bei der 12,8- und 15-Zentimeter-Flak sind die Patronen so schwer, dass man sie nicht mehr von Hand laden kann. Bei der 8,8 gibt´s so was nicht!" Nein, bei der 8,8 gibt´s das nicht, dachte Holt. Ladeschale ist Blödsinn... "Sepp!" schrie er aufspringend und rüttelte Gomulka. "Sepp! Da stimmt was nicht! Schnell!" Er lief schon den Lattenrost entlang.

   Geschütz Cäsar lag im Westen, am Abhang der Anhöhe, ein wenig tiefer als die B 2. Holt konnte im Laufen flach über den Geschützstand hinwegsehen. Die Kanone war abgedeckt. Gestalten mit Schirmmützen, also Luftwaffenhelfer! Er rannte quer über den Acker, dann war er schon am Ziel. Der Geschützstand wimmelte von Oberhelfern.

   Sie hatten Wolzow überwältigt, hatten ihn über einen Holm gezerrt, sein Oberkörper war bis zum Gürtel in die große Persenning verstrickt. Auf diesem Bündel knieten vier, fünf Mann und hielten es nieder. Drei Mann hatten jedes Bein gepackt, und Günsche stand daneben und hieb mit einer mehrschwänzigen Lederpeitsche auf Wolzows Rücken. Holt warf sich dazwischen. Dann war auch Gomulka da, er hatte seinen Knüppel mit und drosch drauflos. Holt konnte sich noch einmal befreien, dann wurde er überwältigt. Aber Wolzow war frei.

   Er schleuderte die Persenning von sich, sein Gesicht war blau, die Augen quollen aus den Höhlen, er schnappte ein paar Mal nach Luft, dann schlug er los. Zunächst schlug er Holt heraus, der arge Prügel bezog, dann unterlief er Günsche, packte ihn und warf ihn in eine Ecke. Und während bisher alles lautlos vor sich gegangen war, begann Wolzow nun vor Wut heiser zu brüllen.

   Da war Gottesknecht da. Holt lief das Blut aus der Nase. Es dauerte eine Weile, bis Wolzow sich einigermaßen beruhigt hatte; er stand mit verzerrtem Gesicht vor Gottesknecht und glotzte ihn an.

   Ein paar der Oberhelfer blieben liegen. Günsche war tatsächlich besinnungslos. Ein Zwilling hockte stöhnend auf dem schlackebestreuten Boden, beide Hände vors Gesicht gepresst, und zwischen den Fingern lief das Blut hervor; er war mit dein Kopf gegen das Geschütz geprallt. Dann krümmten sich noch zwei am Boden, die keine Luft bekamen. Das war harmlos, Blutige Nasen oder verschwollene Lippen hatten sie alle. Nur Gomulka war heil geblieben; er hatte seine Latte in Stücke geschlagen und hielt den Stumpf noch in der Hand.

   "Gomulka!" sagte Gottesknecht. "Holen Sie den Sanitäter!" Dann schaute er auf Günsche, der sich noch immer nicht rührte. Erst als ihm der Sanitäts-Obergefreite ein Fläschchen mit Salmiakgeist unter die Nase hielt, schlug er die Augen auf, übergab sich und war nicht fähig, ohne Hilfe zu stehen. "Gehirnerschütterung!" Der Zwilling hatte eine tiefe, klaffende Platzwunde von der Stirn bis zum Backenknochen; das linke Auge war zugeschwollen. "Herr Wachtmeister, Günsche und Pingel müssen ins Revier."

   "Na los", sagte Gottesknecht. Auf einmal waren nur noch Holt, Wolzow und Gomulka da. Sie deckten die Plane über das Geschütz. Gottesknecht sah ihnen schweigend zu. "Herr Wachtmeister", sagte Wolzow schließlich, "es war Notwehr!" Gottesknecht antwortete nicht. "Die haben mich hierher gelockt und sind elf Mann hoch über mich hergefallen." - "Halten Sie den Mund, Wolzow", sagte Gottesknecht müde, "das interessiert mich nicht. Mich interessiert nur, dass die nächsten Tage zwei Mann am Funkmessgerät fehlen!" - "Da können die anderen Herrn vom Fu-MG eben solange nicht ausgehen!" sagte Holt wütend. Der Wachtmeister schüttelte den Kopf. "Was ihr mir für Sorgen! Wie soll ich denn das dem Chef beibringen?"

   Der Hauptmann, als NSFO, als "Nationalozialistischer Führungsoffizier", hielt am Montag in der Kantine "wehrpolitischen Führungsunterricht", "WF-Unterricht" genannt. Er zog seinen Fahrermantel aus, warf ihn Gottesknecht hin und stemmte die Fäuste in die Hüften. "Mal herhörn! Gestern haben sich welche gekloppt. Zwei mussten ins Revier! Wo gibt´s denn so was! Wer schuld war, interessiert mich nicht. Die Batterie hat acht Tage Ausgehverbot. Bedankt euch bei den Kerlen, die euch das eingebrockt haben!" Dann begann er mit dem Unterricht. Lage an den Fronten, politische Lage, Panzerschlacht bei Schitomir, bisher schwerster Luftangriff auf Berlin, fanatischer Widerstand... Holt hörte nicht hin. Das gilt uns: die euch das eingebrockt haben, dachte er.

   Am Abend sagte Wolzow: "Ich hab´s satt. Jetzt geh ich nach Berta und rede mit den Oberhelfern." - "In die Höhle des Löwen?" sagte Gomulka. "Aber das nützt nichts!" - "Man muss es versuchen", meinte Wolzow. Holt sagte: "Keinesfalls gehst du allein! Los, Sepp, Christian, wir gehn mit!"

   Die Oberhelfer zeigten sich überrascht, als die vier in die Stube traten. Sie lagen auf den Betten, ein paar saßen am Tisch. Gemütliche Bude, dachte Holt. Die Spinde waren zu einer Wand zusammengeschoben, hinter der sich die Betten verbargen. Vor dem Fenster stand ein großes Aquarium mit Fischen, auf den Fensterbrettern blühten Azaleen und Alpenveilchen.

   Wolzow stand mitten im Zimmer. "Welch hoher Besuch!" spottete jemand. Wolzow sagte ruhig: "Wir sollten uns in Zukunft vertragen!" - "Vertragen?" rief ein Zwilling und fuhr in seinem Bett hoch. "Jetzt, wo mein Bruder fürs Leben entstellt ist?" - "Ich hab niemanden überfallen", erwiderte Wolzow. Der Oberhelfer Wilde erhob sich. "Es gibt ungeschriebene Gesetze beim Militär. Vertragen können wir uns, wenn ihr eure Abreibung weghabt!" Wolzow schrie, mit einem Schritt auf Wilde, der eilig den Tisch zwischen sich und Wolzow brachte: "Noch so ein hinterhältiger Ãœberfall... dann gnade euch Gott!" Die Oberhelfer stimmten ein Hohngelächter an, aber es klang nicht echt.

   "Es hat keinen Zweck", sagte Holt später. "Das nennt sich nun Kameradschaft: einer bekämpft den anderen. Ich hab mir das anders vorgestellt im Einsatz. Eine verschworene Gemeinschaft..." - "Blödes Gewäsch!" schimpfte Wolzow. Vetter rief: "Verschworene Gemeinschaft, da musst du dir erst fünfzig mit dem Ochsenziemer verpassen lassen!"

   Holt und seine Freunde waren isoliert. Die Jungen aus ihrer Klasse, die in der Messstaffel dienten, biederten sich bei den Oberhelfern an.

   Der Dezember brachte schwere nächtliche Flächenangriffe auf die umliegenden Städte.

   Holt erhielt dann und wann Post von seiner Mutter, bekam regelmäßig von seinem Onkel aus Hamburg Zigarettenpäckchen und bat manchmal um Geld, denn die fünfzig Pfennige täglichen "Ehrensoldes" reichten nicht. Sein Gesuch um Kurzurlaub zu Weihnachten wurde bewilligt. Er überlegte lange. Uta, an die er zuerst dachte, hatte schon im November geschrieben, dass sich ihre Familie zu Weihnachten im Schwarzwald treffe; zu seiner Mutter zu fahren, dazu spürte er keine Neigung. Er fühlte sich einsam. Er rief Frau Ziesche an.

   Gottesknecht saß in der Schreibstube und unterhielt sich mit der rundlichen Nachrichtenhelferin, die laut Batterieklatsch die Geliebte des Hauptmanns war. Holt schielte misstrauisch auf Gottesknecht. Es dauerte ewig, bis er eine freie Amtsleitung bekam. Dann endlich hörte er Frau Ziesches Stimme, verzerrt und klirrend. "Natürlich, kommen Sie, ich habe Gäste, es passt ausgezeichnet!" Er machte sich auf den Weg, von einer beklemmenden Erwartung erfüllt.

   Vor dem Hause standen zwei klapprige Autos. Ein Mädchen öffnete und half ihm aus dem Mantel. Er legte den Stahlhelm auf den Boden. Ein Militärmantel, am Haken, zeigte keine Offiziersschulterstücke, wie Holt erleichtert feststellte. Er hörte Tanzmusik und Gelächter.

   Er kannte das Zimmer. Die Flügeltüren zu den angrenzenden Räumen waren geöffnet. Aus einem Kreis von etwa zwanzig Personen, Männern und Frauen, kam Frau Ziesche auf ihn zu, feierlich, unnahbar, Dame des Hauses. Sie reichte ihm die Fingerspitzen. Der Besitzer des Uniformmantels, ein großer blonder und bleicher Unteroffizier, am Waffenrock den Ärmelstreifen des Panzergrenadierregiments "Großdeutschland", wurde von allen "Großdeutschland" angeredet. Wenn ihm das Mädchen ein Tablett mit Likörgläsern hinhielt und er sich bediente, so rief jemand: "Großdeutschland kann nicht genug bekommen", und alle lachten.

   Holt saß in einem Sessel, noch sehr befangen. Frau Ziesche, neben ihm, erklärte liebenswürdig und nicht ohne eine Spur Vertraulichkeit: "Ehemalige Berufskollegen, Sänger vom Operettenhaus. Sie wissen noch nicht, dass ich Tänzerin bin? Ich war hier ein paar Jahre Primaballerina... Ich war gar nicht schlecht! Ich hab auch im Ausland gastiert. Wenn Sie´s interessiert, zeig ich Ihnen Bilder." Sie lachte. "Herrgott, das waren Zeiten!"

   Holt rührte sich nicht und lauschte ihren Worten, beglückt durch soviel Vertraulichkeit. Ihre Nähe verwirrte und erregte ihn. "Amüsieren Sie sich gut", hörte er sie sagen, und scherzhaft: "Nehmen Sie sich vor den Mädchen in acht! Es sind bloß Choristinnen, ich hab sie nicht gern im Haus, aber die Männer brauchen jemanden zum Tanzen." Er blieb allein.

   Er ließ keinen Blick von ihr. Sie trug ein Hausgewand aus brauner Seide, einen weiten und langen Hosenrock mit schlichtem Kasack, dessen Ärmel so weit waren, dass sie oft bis zur Schulter zurückfielen und dann die weißen, nackten Arme zeigten. Das Haar war zu einem griechischen Knoten hochgebunden. Als einzigen Schmuck trug sie in den Ohrläppchen ein paar kleine glitzernde Steine. In Holt glomm ein Funke Eifersucht auf all die Männer, die sie hier umgaben. Er neidete ihnen jedes Lächeln und jedes Wort.

   "Kamerad, da wolln wir mal!" Das war der bleiche Unteroffizier, und er reichte Holt ein Glas mit Kognak. Ringsum tanzte man zur Musik des Plattenspielers. "Urlaub?" fragte der Unteroffizier mit schwerer Zunge. "Oder hier im Einsatz? Ich... bin auf Fronturlaub... Wissen Sie was?" Er trank. "Zappenduster! Mensch... Kamerad..." Er wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. "Ich geh in drei Tagen wieder an die Ostfront... Prost!" Die Gläser waren frisch gefüllt. "Kamerad... es ist wirklich zappenduster! Die Welt ist so sehr verjudet, dass sie uns schließlich doch unterkriegen!"

   Frau Ziesche stand plötzlich bei ihnen und sagte mit heller Stimme, nicht ohne Schärfe: "Hab ich dir nicht verboten, vom Krieg zu reden? Geh tanzen!" Der Unteroffizier durchmaß mit unsicheren Schritten das Zimmer. Frau Ziesche setzte sich zu Holt und sagte in gespieltem Groll: "Sie sind ungezogen! Es gehört sich, dass man mit der Dame des Hauses tanzt!"

   "Ich kann nicht tanzen", gestand er. Sie rief den Mädchen am Plattenspieler Zu: "Einen Foxtrott!" Dann nahm sie ihn an der Hand und führte den einfachen Schritt vor. Er begriff schnell. "Geht ja ausgezeichnet", meinte sie. Mit klopfendem Herzen hielt er sie im Arm, vorsichtig und behutsam, als sei sie aus Porzellan. Mit der Rechten fühlte er durch die Seide hindurch ihr Schulterblatt. Die Platte war abgelaufen. Er bat ungestüm: "Noch einmal... bitte!" Er geriet, in den Tanz vertieft, unaufhaltsam in einen Zustand von Erregung und Begeisterung. Er zog sie leicht und dann ein wenig fester an sich und erschrak darüber.

   Als auch dieser Tanz, viel zu schnell, beendet war, erschien sie ihm unnahbarer denn je. Eifersüchtig sah er sie mit einem anderen tanzen. Man reichte eine Platte mit belegten Broten herum. Ölsardinen! Aber er lehnte ab, obwohl er hungrig war. Schließlich setzte er sich zu den Choristinnen, ließ sich einen Kognak und gleich noch einen zweiten einschenken, aber das Geschwätz der Mädchen, die geschminkten Gesichter, es war ihm alles zuwider.

   Er raffte sich auf und bat Frau Ziesche abermals um einen Tanz. Der Kognak gab ihm den Mut, einen der Schauspieler, der ihm zuvorzukommen drohte, einfach beiseite zu schieben. Sie lachte. "Siehst du, Fritz, die tapferen Krieger werden vorrangig behandelt!" Er sah auf sie herab. In seinem Blut kreiste der Alkohol. Wenn ich mit ihr allein wär, ich würde sie küssen! Es gab einen dumpfen Fall, Gläser zersplitterten, die Choristinnen kreischten. Der Unteroffizier war hingestürzt und lag nun auf dem Parkett. Zwei der Schauspieler hoben ihn auf. Frau Ziesche wandte kaum den Kopf. "Bringt ihn ins Bad!... Er ist betrunken", sagte sie zu Holt. "Er hat so sehr Angst vor der Front, dass er sich dauernd betrinkt!" Sie sah auf die Uhr. "In zehn Minuten werfe ich die Bande raus!"

   Im Radio tickte der Drahtfunk. Dann sagte der Sprecher: feindliche Kampfverbände im Anflug auf das Reichsgebiet..." Gefechtsschaltung! dachte Holt. Fort! Ein Auto anhalten... dann schaff ich´s! Aber er sah die Angst in Frau Ziesches Gesicht... Ich bleibe! Es war üblich, aber nicht Vorschrift, bei Alarm den Ausgang abzubrechen. Ich bleibe!

   Die Gäste polterten die Treppe hinab, man schleppte den bezechten Unteroffizier in eines der Autos. Frau Ziesche kommandierte inzwischen das Pflichtjahrmädchen: "Lassen Sie das Geschirr! Bringen Sie die Koffer in den Keller!" Sie ließ sich im Pelz in einen Sessel fallen. Die Sirenen gaben Voralarm. Holt öffnete in dem finsteren Zimmer alle Fenster. Kalte Luft drang in die verrauchte Wohnung. Im Haus hörte man die Leute in den Keller laufen.

   Frau Ziesche war hilflos und ängstlich wie ein Kind. "Wer soll das aushalten! Die dauernden Alarme! Zum Verzweifeln!" Holt sagte: "Warum bleiben Sie hier in Essen?" - "Mein Mann meint, es macht einen schlechten Eindruck..." - "Unsinn! Wenn Sie umkommen, macht das einen besseren Eindruck?" Sein Hass auf den dicken, blonden Mann war frisch und unverbraucht.

   Die Sirenen heulten los, auf und ab. "Wir müssen in den Keller!" - "Nicht so eilig", meinte er, am Radio, sehr überlegen. "Sie sind erst in den Hundertfünfzig-Kilometer-Bereich eingeflogen... Bekommen Sie den Flaksender?" - "Das versteht doch kein Mensch..." - "Ich versteh´s schon!"

   Sie kniete neben ihm vor dem Rundfunkgerät nieder. Die Skala des Radios beleuchtete ihr Gesicht. Zemtzki hatte Holt die große Karte mit den Planquadraten erklärt. "Schneller Verband von Martha-Heinrich vierundsechzig nach Nordpol-Ida siebzehn..." - "Das sind die Pfadfinder, etwa bei Dinslaken... Wenn sie ihre Richtung beibehalten, fliegen sie südlich an uns vorbei..." Das Ticken verstummte, die Stimme des Sprechers war wieder da: "Schneller Verband von..." - "Sie fliegen vorbei." - "Und wann wird es gefährlich?" fragte sie. - "Ich erklär Ihnen das gelegentlich ganz genau." Er horchte auf den Sprecher. "Die Bomber fliegen hinterher, sie lassen uns in Ruhe."

   "Dieser Ziesche hätte mir das längst erklären können!" sagte sie. Draußen setzte schweres Flakfeuer ein, durch die geöffneten Fenster drang der Geschützdonner, beängstigend nahe. Holt horchte. "Da schießt jemand auf die Pfadfinder!" - "Eine Ruhe haben Sie! Ich will in den Keller, ich habe Angst!" Sie nahm ihn am Arm und ließ sich die Treppe hinabführen.

   Der Luftschutzwart lehnte mürrisch an der Haustür und betrachtete Holt neugierig. "Wird Zeit, dass Sie runterkommen!" Der Keller war tief und mit Balken abgesteift. Eine Menge Menschen drängten sich in den Gängen zusammen. Frau Ziesche schloss ganz hinten eine Tür auf. "Ich mag nicht unter all den Leuten sitzen." Das kleine, saubere Kellergelass war gleichfalls mit starken Baumstämmen abgestützt. Das wird nicht viel nützen, dachte Holt misstrauisch. Er wünschte sich in den Geschützstand, unter freien Himmel.

   Sie setzten sich, sie hielt noch immer seinen Arm fest und rückte fröstelnd an ihn heran. Im Kellergang leuchtete schwacher Lichtschein. Das Flakfeuer klang nur gedämpft in den Keller.

   Sie saßen stumm beieinander. Nach einer Weile sagte sie: "Die Leute draußen machen mich immer ganz verrückt. Aber Sie wirken beruhigend auf mich." Er erwiderte: "Ich hätte hier unten vielleicht auch Angst. Aber ich bin so froh, dass ich mit Ihnen Zusammensein kann." Er spürte, dass sie ihn anschaute und dann wieder geradeaus blickte.

   Vom Kellergang klang Geschwätz und Kindergeschrei zu ihnen herein. Aber das hörte Holt kaum. Er sah die junge, mädchenhafte Frau neben sich, in den Pelz gewickelt, aus dem nur das schmale und jetzt so blasse Gesicht hervorschaute. Der Knoten hatte sich gelöst, und das Haar fiel schwer und mattglänzend in den Nacken und mischte sich mit dem Pelz. Sie hatte den Kopf rücklings gegen die Kellerwand gelegt. "Warum sind Sie neulich fortgelaufen?" fragte sie halblaut.

   "Ich wär auch heut beinah wieder gegangen..." - "Und warum?" - "Wenn... Sie mit anderen tanzen, ich ertrag das nicht..." Sie lächelte. "Ich kann nicht dafür...", sagte er, "ich weiß, es ist dumm..." Er erhielt keine Antwort. Der Luftschutzwart brüllte in den Kellergang: "Entwarnung."

   Holt schaute auf die Armbanduhr. Es war kurz nach elf. "Ich muss fort." Wie beim ersten Mal stand er mit gesenktem Kopf vor ihr, hielt ihre Hand und fragte: "Darf ich wiederkommen?" Sie sagte langsam: "Eigentlich sind Sie doch alt genug, zu wissen, was Sie dürfen und was Sie nicht dürfen." Er hatte noch nie ein so undurchschaubares Gesicht gesehen.

   Er dachte unaufhörlich über diese seltsame Bekanntschaft nach. Während des tatenlosen Wartens am Geschütz und während des Schulunterrichts drehten sich seine Gedanken um nichts anderes als um die dunkelhaarige Frau. Anfangs störte ihn dabei die Erinnerung an Uta. Aber dann kapitulierte er vor diesem neuen Gefühl, das offenbar stärker war. Es ging nicht ohne Selbstvorwürfe ab.

   Am Tage vor seinem nächsten Ausgang rief er bei Frau Ziesche an. Ob er kommen dürfe? "Natürlich, wenn Sie nichts Besseres vorhaben?"

   Sie öffnete selbst, sie war allein in der Wohnung. Wieder zeigte sie sich ganz anders, als er sie bisher kennen gelernt hatte, sie war von bestürzender Sachlichkeit. Im Wohnzimmer hockte sie sich auf der Couch nieder. Er zog einen Sessel heran. Sie rauchten. "Warum sagten Sie: 'Wenn Sie nichts Besseres vorhaben?'" fragte er. "Es gibt nichts, das mir lieber wäre, als Sie zu besuchen!" - "So?" sagte sie gedehnt und rekelte sich auf der Couch. "Auch nicht, an ein gewisses Fräulein Barnim zu schreiben?" Er geriet so sehr außer Fassung, dass er vor Hilflosigkeit frech wurde: "Sie spionieren mir nach?"

   "Ein bisschen", meinte sie und warf die Zigarette in die Aschenschale. "Jedenfalls hab ich aus meinem Stiefsohn etwas Wichtiges herausgehorcht." - "Und ... das wäre?" - "Dass Sie offenbar keiner von denen sind, die sich einer Eroberung rühmen", sagte sie langsam und sah ihn dabei fest und herausfordernd an, "dass Sie, kurz gesagt, den Mund halten können."

   Er saß wie gelähmt in seinem Sessel, bis sein Blick auf die große, gerahmte Photographie fiel. Die Erregung, die sein Blut durch die Adern trieb, schlug für einen Augenblick in sinnlose Wut um. Er schmetterte das Bild des dicken, blonden Mannes aufs Parkett, dass die Scherben umher flogen. Sie stieß einen erschreckten Schrei aus. Er fasste nach ihr. Sie zog ihn zu sich herab. Er nahm ihre Gier für Leidenschaft.

Er blieb bis zum späten Abend. Sie lagen im Schlafzimmer, in dem breiten Bett. Er schaute ihr unablässig ins Gesicht, das völlig entspannt war, als wolle er erraten, was hinter der Stirn vor sich ging. Er fragte unvermittelt: "Liebst du mich?"

   Sie schlug überrascht die Augen auf. Ihr Blick ließ ihn vergessen, wie albern seine Frage war. Schon schloss sie die Augen wieder, seufzte ein bisschen und sagte: "Ja." Dann lächelte sie, mit geschlossenen Augen.

   Sie lügt! "Es ist nicht wahr, du liebst mich nicht!"

   Sie wandte den Kopf zu ihm hin. "Liebe...", sagte sie verächtlich, "was ist denn Liebe? Ich bin doch kein Backfisch! Hingabe... was willst du mehr?"

   "Und... das Herz?" fragte er hilflos. Sie zog seinen Kopf im ihre Brust. "Sei still!" Ehe er ging, fragte sie: "Kannst du nicht Nachturlaub nehmen, wie die anderen?"

7

   Mein Stiefsohn darf uns unter gar keinen Umständen auf die Spur kommen", sagte Frau Ziesche zu Holt. Da er nun manchmal erst im Morgengrauen in die Batteriestellung zurückkehrte, erfand er eine "Freundin", Hausangestellte in Gelsenkirchen. "Dass nur Ziesche nichts erfährt", warnte sie immer wieder, "es gäbe eine Katastrophe!... Er hasst mich, sieh dich vor!"

   Eine Zeitlang versuchte Holt, Ziesche ein wenig näher zu kommen, und er fragte ihn einmal: "Was ist dein Vater?" Ziesche gab Auskunft: "Reichsbeauftragter für die Festigung deutschen Volkstums im Generalgouvernement." Hol konnte sich darunter nicht viel vorstellen. "Was hat er denn da zu tun?" Ziesche erklärte es genau. "Du weißt ja, dass die Polen eine minderwertige Rasse sind. Aber es gibt Abstufungen, zum Beispiel blonde Slawen, deren germanischer Blutanteil von früher her sehr hoch ist. Mein Vater sucht solche Kinder aus, in den Konzentrationslagern und auch sonst. Sie werden zu deutschen Familien gebracht oder im Reich deutsch erzogen. Später sollen sie aufgenordet werden; durch Nachwuchssteuerung kann man rassisch höher stehende Typen schaffen." - "Und die Eltern?" fragte Holt. Ziesche hob die Schultern.

   Es blieb bei dem einen Annäherungsversuch. Eine Beobachtung, die Holt durch einen Zufall machte, führte bald zum Bruch, ja zur Feindschaft zwischen Ziesche und ihm. Ziesche hatte einen Freund in der Batterie, einen kleinen, blonden Jungen mit weichem Haar und verträumten Augen, er hieß Fink. Holt überraschte die beiden eines Abends im Bunker des Geschützstandes, ohne dass sie es merkten. Er erzählte niemandem davon.

   Als er ein paar Tage später morgens gegen sechs übermüdet in die Baracke schlich, sah Ziesche ihn kopfschüttelnd an und brachte am Nachmittag die Sprache darauf. Wolzow, Vetter und Gomulka saßen dabei. "Du bist erst siebzehn", sagte Ziesche, "und treibst es schon derartig mit Weibern!"

   Holt schwieg betroffen. Wolzow grinste. "Das geht keinen was an", sagte Holt. Ziesche entgegnete: "ich wundere mich nur, dass ein Mensch sich im Sumpf so wohl fühlt." Er lehnte mit dem Rücken gegen einen Spind und blickte auf Holt herab. "ich jedenfalls halte es mit den Worten, die Flex seinem 'Wanderer' vorangestellt hat: 'Rein bleiben und reif werden, das ist höchste und schönste Lebenskunst'!"

   Holts Betroffenheit schlug in Wut um. "Du verlogenes Aas! Nennst du das rein bleiben, wenn du mit Fink...‚ Ziesche, während Vetter vor Lachen losbrüllte, stürzte sich auf Holt, aber er war zu schwerfällig, um mit ihm fertig zu werden. Von nun an waren sie Todfeinde.

   Holt erzählte die Szene Frau Ziesche. Sie hörte aufmerksam zu. "Das war unklug", meinte sie dann, "jetzt hast du ihn dir zum Feind gemacht." - "Was heißt klug oder unklug?... Du bist so... berechnend! Er hat mich angepöbelt, ich hab´s ihm zurückgegeben, fertig!"

   Sie saßen im Wohnzimmer. Sie legte ihre kindlich kleine Hand auf seine, seufzte und sagte: "Du bist im Sturm- und Drangalter... Und berechnend, das wirst du auch noch werden, wenn du das Leben erst besser kennst, oder. . ." - "Oder?" - "Oder du bringst es zu nichts."

   Während des üblichen Alarms am Abend blieben sie in der Wohnung, am Radio. Mochte die Flak schießen, was tat das schon? "Wenn sie keine Zielmarkierungen werfen", hatte er ihr erklärt, "fallen höchstens zufällig mal 'n paar Bomben." Der Luftschutzwart klingelte Sturm. Sie verhielten sich ruhig, die Wohnung war gut verdunkelt. Das Pflichtjahrmädchen arbeitete nur viermal wöchentlich.

   Holt liebte die Alarmstunden. Dann war es still im Haus, der ferne Donner der Flakbatterien deckte alle Geräusche zu. Er kniete neben Frau Ziesche auf dem Boden vor dem Radio. Der Drahtfunk tickte geheimnisvoll, der schwache Lichtschein der Skala beleuchtete ihr Gesicht. Er legte den Arm um ihre Schulter und sah sie unablässig an, und je länger er sie anblickte, desto mehr verfiel er ihr. Sie lehnte sich gegen ihn, jede Berührung ließ ihren Atem schneller gehen. Nach dem Alarm lagen sie im Schlafzimmer auf dem breiten Bett.

   "Man kann ruhig darüber sprechen", pflegte sie zu sagen; das war der Titel eines gängigen Buches. Anfangs empörte er sich gegen ihre Sachlichkeit; aber als er sie einmal schamlos nannte, lachte sie ihn rundweg aus. "Ich nehm dir die Illusionen", sagte sie. "Wozu sind Illusionen gut? Zu nichts! Du wirst mir eines Tages dankbar sein." Dankbar? Das verstand er nicht. "Die meisten Menschen", erklärte sie, "sind in Liebesdingen primitiv wie die Tiere." - "Tierisch", meinte er, "ist es, wenn das Herz nicht dabei ist, das Gefühl..." Das nannte sie "Schmus". "Was soll das leere Gerede! Das Tier kann nicht genießen, das ist der einzige Unterschied. Auch der Mensch muss es erst lernen, die meisten lernen es nie, und besonders ihr Männer seid unbeschreiblich egoistisch, ihr... - "Und Liebe?" fragte er hartnäckig. "Alles Gerede", sagte sie. "Es gibt keine Liebe, es gibt nur einen Lustgewinnungstrieb."

   Manchmal erschrak er vor ihr. "Liebe, Anbetung, Verehrung", sagte sie, "das ist alles ganz schön, aber es wird langweilig. Eine Frau will nicht angebetet und geliebt, sie will unterworfen sein und Lust gewinnen. Vielleicht weiß sie das anfangs nicht, aber wenn der Mann etwas taugt, dann lernt sie´s sehr bald. Merk dir das! Ein Mann darf die Frauen nicht umschmeicheln und viel bitten, er muss sie unterwerfen, eher mit Gewalt als mit vielem Gerede. Liebe? Jede Frau wird ihren Mann betrügen, wenn sie bloß geliebt und nicht auch befriedigt wird."

   "Wie soll man Achtung haben vor euch?" fragte Holt.

   "Achtung...", sagte sie gedehnt, "wozu? Lies mal Weininger, das Buch ist zwar verboten, aber lies es mal. Der hat die Frauen gekannt. Lies, was er schreibt. Dann vergeht dir die Achtung von selbst."

   Holt fühlte sich gleichermaßen abgestoßen und angezogen von ihren Worten, von ihrer zügellosen Sinnlichkeit. Manchmal überwog die Abneigung, wie auch in diesem Augenblick. Aber sie löschte die Entfremdung nach Belieben mit ihren Zärtlichkeiten aus. Wenn er ihr wieder verfallen war, dann brannte die Eifersucht in ihm.

   Es war die frühe Morgenstunde, und er fragte böse: "Warum hast du deinen Mann geheiratet?"

   Sie schaute ihm, den Kopf in die Hand gestützt, überrascht ins Gesicht. "Du hasst ihn, nicht wahr? Das ist seltsam. Du kennst ihn doch gar nicht." Sie langte Zigaretten und Streichhölzer vom Nachtschränkchen. Er folgte der Bewegung ihres nackten Armes. Sie steckte ihm eine angerauchte Zigarette zwischen die Lippen.

   "Er ist tatsächlich der hassenswürdigste Mensch, den ich mir vorstellen kann", sagte sie.

   Er musste sie falsch verstanden haben. "Du meinst, er ist eine so starke Persönlichkeit, dass man ihn entweder verehren oder hassen..." - "Unsinn! Er ist ganz einfach ein Schwein! Ein übler, brutaler Kerl, der das Zeug zu einem Gewaltverbrecher hat. Wenn ihn die Nazis nicht zu einem hohen Tier gemacht hätten, wer weiß, was dann aus ihm geworden wäre."

   Ein Schwein, ein brutaler Kerl, die Nazis. Dieses Wort hatte er überhaupt erst ein- oder zweimal gehört, es sollte vor dreiunddreißig ein Schimpfwort gewesen sein. Wo bin ich hier hineingeraten? dachte er. Aber er tat ganz ungerührt, sog an der Zigarette und meinte dann: "Da versteh ich nur nicht, dass du ihn geheiratet hast!"

   "Jeder setzt einmal im Leben alles auf eine Karte", entgegnete sie. "Und man kann nur hoffen, dass es die richtige Karte war." - "Und du hast alles auf einen Mann gesetzt, den du verabscheust?"

   "Ich hab natürlich nicht wissen können, dass er mal eine so unbeschreiblich dreckige Arbeit macht", sagte sie. "Außerdem sah damals überhaupt noch manches ganz anders aus. Ich sagte mir: er hat allerhand zu bieten, und da griff ich eben zu."

   "Wo du so... schön bist, da hattest du das doch gar nicht nötig", meinte er. Sie lächelte. "Als Tänzerin war ich immer, nur besserer Provinzdurchschnitt. Da denkt man an später."

   Sie hat sich verkauft, dachte er, an diesen Mann! "Was ist das für eine Arbeit?"

   "Er sucht Kinder aus den KZs", antwortete sie, "die will man dann später mit Ariern kreuzen, wie die Tiere! Er hat überall die Pfoten drin, wo die haarsträubendsten Dinge geschehen. Er entscheidet, ob ein Kind ins Reich kommt oder ins Gas."

   Eine grauenhafte Beklemmung überkam Holt. Fernes, ganz fernes Gemunkel verdichtete sich ..."Rede nicht darüber", hörte er sie sagen. "Im Generalgouvernement bringen sie die Polen und die Juden zu Hunderttausenden um, die SS macht das. Ziesche nennt es 'Schwächung einer minderwertigen Rasse'. Die Juden sind schon so gut wie ausgerottet."

   Minderwertige Rasse. Nordischer Herrenmensch. Jude und Arier. So sieht das also aus, dachte er wie gelähmt. "Aber. das ist alles ganz anders. . mit den Rassen!" sagte er. "Mein Vater ist Professor. Einmal hab ich gehört, wie er jemandem erklärt hat, die Rassentheorie ist Religion ..." - "Der Vergleich ist gut", meinte sie. "Die Römer haben die Christen umgebracht, die Inquisition hat die Ketzer verbrannt, und jetzt vergasen wir die Juden und die Polen. Davon hab ich natürlich nichts gewusst, als ich Ziesche heiratete. Er war hier in der Nähe Kreisleiter und hat dann Karriere gemacht. Das lockte mich. Ich will schließlich auch zu denen gehören, die obenan sind." Sie sprach nur noch leise. "Jetzt geht´s allerdings immer mehr bergab. Wer weiß, ob der Zauber nicht eines Tages zusammenkracht."

   Kurz vor dem Morgenappell näherte er sich der Baracke auf Schleichpfaden, wie es vereinbart war. Er hatte Gottesknecht um Nachturlaub anstatt des Kurzurlaubs gebeten, und Gottes-knecht hatte erwidert: "So dumm werden Sie doch nicht sein, dass Sie freiwillig auf den schönen Weihnachtsurlaub verzichten!" Und gedämpft: "Nehmen Sie Ausgang wie bisher. Wenn Sie erst früh kommen wollen, dann geben Sie mir einen Wink." So geschah es. Heute lief Holt dem Wachtmeister in die Arme. "Ich muss Ihnen das nun doch verbieten", meinte er. - "Herr Wachtmeister, ich bin frisch und munter!" - "So? Bis zum Kugelbaum sind fünfundachtzig Meter, alles genau vermessen. Da machen wir achtzigmal Häschen-hüpf. Und wenn Sie sich nicht verzählen, dürfen Sie den Rückweg zur Belohnung auf dem Bauch kriechen."

   Von Gottesknecht erfuhr Holt auch, dass sein Weihnachtsurlaub bewilligt war. Er hatte die Absicht, mit zu Wolzow zu fahren. Aber nun folgte er einer plötzlichen Eingebung und ließ sich Papiere für eine Reise zu seinem Vater ausstellen. Er hatte ihn etwa vier Jahre lang nicht gesehen. Seiner Mutter schrieb er nichts davon. Auch meldete er seinen Besuch nicht an.

   Am 22. Dezember sollte er reisen. Wenige Tage vorher nahm Schmiedling Wolzow und Holt nachts am Geschütz beiseite. "I will Ihnen was sag i Ihnen, net wahr! Die was aus Hamburg sein, die und die andern aus Berta, verstehen S´, da wolln die Ihnen allezsamm nachts überfalln, in der Stuben!"

   Am anderen Morgen, als Ziesche zum Schulunterricht in einer anderen Baracke weilte, hielten sie Kriegsrat. "Der Günsche hat wohl immer noch nicht genug!" schimpfte Wolzow. "Ich hab das Theater endgültig satt! Ich zieh eine schlagartige Aktion auf. Ich bau ihnen die Bude kurz und klein." - "Wenn wir angreifen", meinte Gomulka, "setzen wir uns ins Unrecht." - "Quatsch!" sagte Wolzow und langte nach der Gesäßtasche. Er blätterte in seinem Taschenbuch. "Als die Schweden unter Gustav Adolf 1629 nach Deutschland zogen, da sprach Gustav Adolf vor dem schwedischen Reichstag die historischen Worte: 'Meine Meinung aber ist, dass ich zu unserer Sicherheit, Ehre und endlichem Frieden nichts dienlicher befinde als einen kühnen Angriff auf den Feind.' "

   Sie trafen Vorbereitungen. Wolzow und Holt schwänzten den Rest des Deutschunterrichts und schnitten Wolzows Aktentasche zu Lederriemen, die sie an stabile Knüttel nagelten. Wolzow rieb die Klopfpeitschen mit Lederfett ein, ehe er sie in seinem Spind versteckte.

   Es schneite seit mehreren Tagen. Die schnellen Kampfverbände, die nun jede Nacht nach Berlin flogen, waren in den letzten Nächten schon über Holland abgedreht. Auch diesen Abend sah es nicht nach Alarm aus, denn am Nachmittag erhob sich ein Schneesturm.

   Vetter und Rutscher machten mit. Rutscher waren im Revier die Mandeln herausgenommen worden, worauf er kaum noch stotterte. "Warum nicht gleich!" hatte Wolzow gesagt. Nach dem Stubendurchgang sprangen sie aus den Betten und zogen sich wieder an. Der kleine Kirsch, der in Berta wohnte und für Wolzow spionierte, meldete: "Sie sind schlafen gegangen!" - "Stahlhelme auf!" befahl Wolzow. Ziesche sah entgeistert zu. Wolzow erklärte: "Jetzt müssen deine Oberhelfer einen heiligen Eid schwören, dass sie uns in Ruhe lassen, sonst demolier ich ihnen die ganze Bude! Du bleibst im Bett!" befahl er schroff. "Kirsch, du bürgst mir dafür, dass der Ziesche nicht aus der Stube geht!"

   Sie schlichen im Bogen um Baracke Cäsar herum und näherten sich dann Berta von Norden. Sie drangen durch den Korridor in die große Stube. Wolzow schaltete Licht ein. Rutscher und Vetter schoben sofort den Tisch vor die Tür, die sich nach außen öffnen ließ.

   Die Hamburger saßen erschreckt in den Betten. " ´n Abend", .sagte Wolzow. "Hab gehört, die Herren wollen uns überfallen, mit Ãœbermacht?"

   "Mach, dass du rauskommst!" rief jemand verschlafen.

   "Maul halten!" brüllte Wolzow. "Ehrenwort, dass wir vor einem nächtlichen Ãœberfall sicher sind? Wird´s bald?"

   Günsche glotzte von unten verdattert auf Wolzow, der bedrohlich nahe stand, und sagte schwach: "Wir lassen uns nicht erpressen!"

   "Also schön, dann nicht!" rief Wolzow mit wüster Stimme. "Die beste Verteidigung ist der Angriff, sagt Schlieffen! Los, Männer!" Und während Holt und die anderen mit den Peit-schen auf die überraschten Hamburger einhieben, nahm Wolzow das zentnerschwere Aquarium - ein Schrei des Entsetzens wurde laut -‚ hob es hoch und schmiss es nach Günsches Bett. Günsche konnte gerade noch die Beine zur Seite reißen, dann knallte der große Glaskasten überschwappend gegen den Pfosten und zerschellte, dass das Bett wankte. Fünfzig Liter Wasser ergossen sich über Bettzeug und Boden, überall klirrten Glasscherben, und dazwischen sprangen und zappelten die Fische umher... Die Hamburger waren wie gelähmt. Holt hieb Wilde die Peitsche dreimal über den Rücken, ehe der auch nur eine abwehrende Handbewegung machte. Wolzow warf rücksichtslos die Spinde um, dann knallte er die Blumentöpfe an die Wand, die Tischlampe, Vasen und Aschenbecher folgten, ein Bild segelte wie ein Diskus durch die Luft und zersplitterte. Die anderen droschen erbittert mit den Klopfpeitschen um sich.

   Endlich hatten sich ein paar der Hamburger von ihrem Schreck erholt und sprangen aus den Betten. Aber sie trugen Nachthemden, die Peitschenhiebe fielen hageldicht, und sie waren barfuss, und überall lagen Glasscherben umher.

   Die Tür wurde aufgestoßen. Die Oberhelfer aus den anderen Stuben, gleichfalls im Nachthemd, wollten herein, der Tisch hinderte sie daran, und Vetter verteidigte mit Gomulka wie verabredet den Eingang. Unterdessen vollendete Wolzow sein Vernichtungswerk. Er zertrat den Holztisch, auf dem das Aquarium gestanden hatte - "Da habt ihr was zum Heizen!" -‚ zerfetzte den Adventskalender und warf das Radio nach seinem Feind Günsche, der verstört und von den ermattenden Fischen umzappelt in seinem Bett saß und gerade noch die Bettdecke zwischen sich und das Geschoß bringen konnte.

   "Fertig!" rief Wolzow. "Wünsche angenehme Nachtruhe!" Die Stube sah aus wie nach einem Bombenvolltreffer. Sie brachen durch den Korridor, wo sich die Oberhelfer drängten, dann liefen sie nach Dora zurück.

   Am anderen Morgen herrschte eine nervöse, gereizte Atmosphäre. Holt sah die Hamburger mit den anderen Oberhelfern uneins. Vielleicht lassen sie uns nun endlich in Ruhe, dachte er. Der Ãœberfall war bestimmt nicht gemeldet worden, denn es galt als ungeschriebenes Gesetz, die Methoden der so genannten Selbsterziehung nicht an Vorgesetzte weiter zutragen.

   Aber der Hauptmann wusste doch davon. "Mal herhörn", schrie er. "Fünf solche Banditen vom Geschütz Anton haben heut Nacht in Berta gehaust wie die Vandalen... Mit ´m Aquarium schmeißen, wo gibt´s denn so was!" Und schon wieder unlustig, im Begriff sich abzuwenden: "Von den fünf wollen drei auf Urlaub gehn... Ich wer denen was husten!" Zwei Tage später durften sie sich doch in der Schreibstube ihre Papiere holen. "Zu ihrem Vater fahren Sie?" sagte Gottesknecht. "Dort bin ich auch zu Hause."

Holt, Wolzow und Gomulka stoppten in Essen einen LKW, der sie nach Kassel mitnahm. Der Büssing kam im Schneesturm auf verschneiten Straßen nur langsam voran. Von Kassel brachte sie ein Zug nach Erfurt, wo sie abermals einen LKW fanden. Die Autobahn war eisfrei. Der Wagen schlich mit seinem Holzgasgenerator ermüdend langsam durch die Winterlandschaft. Der Fahrtwind pfiff durch das Verdeck. Wolzow saß vorn im Führerhaus. Gomulka, mit Holt unter der zugigen Plane, sagte: "Das Leben ist auch ohne Kanone mal ganz angenehm!"

   Holt nickte, tief in Gedanken. Er fuhr zu einem Manne, den er kaum noch kannte. Vier Jahre sind eine lange Zeit! Fern Ãœber der Kindheit stand das Bild seines Vaters, seiner Mutter, und heute noch fror ihn, wenn er ans Elternhaus zurückdachte. Mutter: Du vergräbst dich in deinem Labor. Dazu brauchst du keine Frau wie mich... so oder ähnlich, immerfort Streit... Warum arbeitest du so viel, Vater? - Der Mensch hat eine Aufgabe! Ein Mensch ohne Aufgabe vegetiert wie ein Tier.

   Vegetiert wie ein Tier, schießt Hirsche, schießt mit der Kanone, rauft sich mit Oberhelfern... Was ist meine Aufgabe? dachte Holt. Es ist Krieg. Wir kämpfen für Deutschland. Von Kindheit an stand es in allen Lesebüchern: Fürs Vaterland sterben, Langemarck, Schlageter, und so weiter.

   Der Lastwagen hielt. "Hier wollte doch einer absteigen!" Holt verabschiedete sich. Er wanderte lange über eine Chaussee. Ringsum lag Schnee, der Himmel hing grau und diesig herab.

   Die Stadt war fremd, eine unzerstörte Großstadt, ungewohnt, beengend, verwirrend. Die Adresse führte Holt in ein Gässchen. Zu beiden Seiten ragten hohe Häuserzeilen auf. Wird wunderbar brennen! dachte Holt. Ein schmutziges Haus, drei Treppen, eine Wohnungstür... Holt dachte an die Villa in Leverkusen, an Mutters Haus in Bamberg, modern, hell, von Bäumen umstanden, die Südfront ganz aus Glas. Hier, in diesem schmutzigen Loch, stand "Holt" auf einem Pappschild, kein Doktorgrad, kein Professorentitel. Er klingelte. Die unfreundliche Wirtin gab ihm die Adresse eines städtischen Amtes.

   Dort sagte der Pförtner: "Holt? Ist noch oben. Der murkst immer so lange rum. Gehn Sie mal hoch." Korridore, Laboratorien, ein kleiner Raum, nur schwach erleuchtet. Ein Mann am Mikroskop.

   Das also war Vater! Das Haar auf dem mächtigen Schädel war schlohweiß geworden. Der alte Holt richtete sich auf und rieb sich lange die Augen. Dann erkannte er seinen Sohn. "Werner! Tatsächlich Werner!" rief er überrascht.

   Holt stand steif in der Tür. Er war enttäuscht, er wusste nicht, warum. Die Enge des bescheidenen Arbeitsraumes bedrückte ihn, das trübe Licht der Lampe auf dem Tisch, der abgetragene Anzug seines Vaters... Wieder fielen ihm die Redensarten seiner Mutter ein: Ein Sonderling... er hat nichts als seine Arbeit im Sinn... "Ich dachte, du freust dich", sagte Holt, "wenn ich nach so langer Zeit... Aber lass dich nicht stören." Professor Holt räumte seine Sachen zusammen. "Ich freue mich sehr. Du störst nicht, nein. Ich probiere hier nur nach der Arbeit ein paar Färbetechniken aus, früher war ja nie Zeit dazu." Es stimmt, dachte Holt, noch tiefer enttäuscht, er hat nichts als seine Arbeit im Sinn... Bewegungslos, an die Tür gelehnt, sah er seinen Vater Flaschen, Reagenzgläser und Kolben im Schrank verschließen und das Mikroskop sorgfältig in den polierten Holzkasten schieben. "So, mein Junge, wir können gehen!"

   Die Straßen waren finster. Ein paar Autos huschten mit verdunkelten Lichtern über den schneenassen Asphalt. Holt ging stumm neben dem Professor her, der ihn an Größe überragte. Ich soll erzählen? Ihn interessiert ja nichts. Er ist ein Menschenfeind, ganz weltfremd... Er erzählte widerwillig und flüchtig.

   In dem kleinen, ärmlich möblierten Zimmer war der Tisch vors Fenster gerückt und mit Papieren bedeckt, mit Büchern und Tabellen. Auf dem Korridor schalt die Wirtin laut über unnützen Aufwand, unverhoffte Besuche und zusätzliche Arbeit vor den Weihnachtsfeiertagen. Und wieder war es die düstere Atmosphäre des Zimmers, dieser fremden und armseligen Welt, die Holt bedrückte und ihn mit einem fast feindseligen Interesse auf seinen Vater sehen ließ, der bedächtig eine kurze Pfeife stopfte: ein fremder und alter Mann, ein Mann von Charakter, der solches auf sich nimmt, in diesem Loch zu hausen, abgerissen, gescholten von einer schlampigen Wirtin, während Mutter in der Bamberger Villa residiert... ein Mann von Charakter oder ein starrsinniger Sonderling, weltfremd, menschenfeindlich? Was redet er da?... Nach vier Jahren den Weg gefunden, zu ihm, und wie es so gehe...?

   "Von mir", sagte er, "hab ich dir das wichtigste schon erzählt. Und du, Vater, wie ist es dir in den letzten Jahren ergangen?" Interessiert es mich wirklich? fragte er sich. Oder rede ich das nur so hin? Ist er nicht von allen Fremden der Fremdeste? Aber dann wurde doch etwas wie Neugier wach, nun endlich die Hintergründe dieses Schicksals zu erfahren.

   "Du siehst", sagte der Professor, die kurze Pfeife zwischen den Zähnen, "ich lebe, ich arbeite. Wozu früher keine Zeit war, das wird jetzt gründlich, in Ruhe getan." - "Gut, gut", sagte Holt schnell, "deine Arbeit... Ich versteh nichts davon. Aber sonst, ich meine..." Er sagte nun geradeheraus: "Du lebst hier ziemlich ärmlich. Wenn ich an früher denke... Ich hab eine Menge Fragen. Man ist schließlich älter geworden. Warum ist eigentlich..."

   Er schwieg. Rühr nicht dran, sprach es in ihm.

   "Warum", fragte er, "ist eigentlich deine Ehe auseinander gegangen?"

   Der Professor sah ein wenig überrascht auf. Er sog an der Pfeife. Die Tischlampe beleuchtete sein Gesicht und füllte die starken Falten, die von den Nasenflügeln über die Mundwinkel liefen, mit Schatten. "Deine Mutter", begann er bedächtig, "erscheint mir bis heute, in ihrer Art, als eine liebenswerte Frau, zweifellos... Aber gerade deshalb passte sie nicht zu mir." - "Gut, gut", sagte Holt wieder. "Aber der Anlass! Als du weggingst, war doch ein Anlass! Warum hast du damals deine Stellung in Leverkusen aufgegeben?" Und wieder dachte er: Frag nicht, rühr nicht dran!

   "Die Arbeit passte mir nicht", entgegnete der Professor. Es klang, als weiche er einer genaueren Antwort aus.

   "Ich bitte dich", sagte Holt, "du bist aus Hamburg weggegangen, um in der Industrie großzügiger arbeiten zu können, war es nicht so? Und auf einmal passte dir die Arbeit nicht mehr?"

   "Nein. Auf einmal passte sie mir nicht mehr", erwiderte der Professor, den Blick nun nachdenklich und abwägend auf seinen Sohn gerichtet. "Aber hier", rief Holt herausfordernd, "in so einem Loch, als kleiner Chemiker, da passt sie dir?" - Ja. Da passt sie mir", sagte der Professor.

   Sein Gesicht tauchte in die Dämmerung des Zimmers. Der zur Seite gedrehte Kopf verdeckte die Lampe. Das weiße Haar, vom Licht durchschienen, leuchtete silbern auf. Wie gebannt sah Holt auf seinen Vater, der unbeweglich ins Dunkel blickte, den Kopf geneigt, in Nachdenken versunken.

   "Ich habe", sagte der Professor langsam, "in der zweiten Hälfte meines Lebens eine Menge Illusionen zu Grabe getragen. Du bist älter geworden... gut. Zu diesen Illusionen gehörte der Glaube, jenseits des Zeitgetriebes in Ruhe und zum Nutzen meiner Mitmenschen arbeiten zu können, dazu gehörte unter anderem meine Ehe, dazu gehörte ferner der Wunsch, einen... Sohn zu haben und ihn einmal nach meinem Bilde zu formen... Ein Mensch ohne Illusionen aber kann warten. Und zum Warten ist dieses Zimmer hier... ist meine derzeitige Arbeit gerade recht."

   Holt versuchte vergebens, den Blick von seinem Vater zu lösen; er versuchte, den Eindruck fortzuwischen, aber der Ernst dieser unverständlichen Rede spann ihn unvermittelt in Erinnerung ein, und eine sehr weit zurückliegende Zeit wurde lebendig, die früheste Kindheit. Damals, ehe die Entfremdung begann, ehe die aushöhlenden Redensarten der Mutter einsetzten, war der Vater Inbegriff aller Tugend gewesen, allwissend, allmächtig, gütig und weise, Freund und Lehrer. Damals. Langsam brach das Eis. "Vater", sagte Holt, und nun war doch eine Spur unbewusster Wärme in seinen Worten, "du sagtest einmal zu mir... es ist sehr lange her: Der Mensch muss eine Aufgabe haben, sonst lebt er wie ein Tier... Du hattest doch deine Aufgabe in Leverkusen. Sag mir die Wahrheit: warum hast du sie hingeworfen?"

   Der alte Holt rückte zur Seite und drehte den Stuhl ins Zimmer; das war wie eine Geste, und nun saßen Vater und Sohn dicht beisammen, im Licht der Lampe. "Eine Aufgabe", wiederholte er. "Ja. So habe ich gesagt. Aber es gibt etwas, das darüber steht. Gewissen, Verantwortung, Treue zu sich selbst... Das mögen manchem... das mögen vor allem heute nur leere Begriffe sein. Aber es sind keine leeren Begriffe. Ich habe den Eid des Arztes nicht brechen können, und es wurde von mir verlangt. Ich habe nach den Auffassungen meiner Kollegen und Mitarbeiter... und auch deiner Mutter!... nicht nur leichtfertig meine Existenz zerstört, sondern angeblich auch ehrlos und verräterisch gehandelt. Aber ich werde dafür ein reines Gewissen haben, wenn das erst alles vorbei ist."

   "Wenn... was alles vorbei ist?" fragte Holt. Der Professor sah auf, mit einem Blick, der Holt gefrieren ließ.

   "Das so genannte 'dritte Reich', erwiderte er.

   Ein tausendmal eingehämmerter Gedanke spülte über Holt hinweg: Verrat... Zersetzung... Aber dieser Gedanke blieb nicht haften und verrann, und an seine Stelle trat wieder Angst. "Du meinst..." Er verstummte und hörte seinen Vater reden, nüchtern und sachlich, aber wie aus großer Entfernung: "Du trägst eine Uniform, du trägst an der Armbinde dieses Hakenkreuz, du bist zu mir gekommen, du hast mich aufgefordert, die Wahrheit zu sagen. Unter diesem Zeichen, das du am Arm trägst, haben die Nationalsozialisten den größten Raub- und Eroberungskrieg der Weltgeschichte vorbereitet und entfesselt, und nun verlieren sie ihn, eindeutig und gründlich. Ich habe bei der IG Farben damals an bestimmten Entwicklungen mitarbeiten sollen, die im Endeffekt der Menschenvernichtung dienen, ich habe das abgelehnt. Ich habe es darüber hinaus als verbrecherisch bezeichnet, die Giftwirkung verschiedener chemischer Verbindungen, die zur Insektenbekämpfung geeignet waren, im Tierversuch an Großsäugern zu erproben, weil ich sah, wohin diese groß angelegten Versuche führen sollten, und ich habe recht behalten: heute tötet die SS in den Konzentrationslagern mit einer von der IG hergestellten Kombination von Blausäure und Chlorkohlensäuremethylester Hunderttausende von Menschen..."

   Holt machte eine Handbewegung, die nichts als Hilflosigkeit ausdrückte Hilflosigkeit und Angst. Der Professor mochte verstanden haben. Er schwieg. Die Tischlampe brannte trüb und warf riesige Schatten an die getünchten Wände. Holt kämpfte sekundenlang mit der Angst, und er zwang sie hinab, aber damit erlosch auch der Funken Wärme in seiner Seele. Die Fremdheit kehrte zurück, die Entfremdung breitete sich wieder zwischen ihnen aus wie ein Hauch von Kälte. Er fror. Er sah seinen Vater im trüben Lampenschein, und es war nun auf einmal wieder ein fremder, alter Mann, ein Menschenfeind. Wirft mir seine Wahrheit hin wie einem Hund den Knochen, dachte er, stößt mich hin und lässt mich liegen...

   Eins wurde ihm nun klar: er musste schnell fort von hierÂ…Der alte Mann, dachte er... Saugt an seiner Pfeife, sieht vor sich hin... Hier fror das Herz zu einem Klumpen Eis! Was will ich hier? dachte er, was trieb mich hierher, und warum musste ich fragen?

   Fort! Wohin? Zu Gertie, dachte er. Er atmete auf. Bei ihr... ist Wärme, Geborgenheit, TrostÂ…

   "Wenigstens haben wir uns mal wieder gesehen", sagte er. Diese Worte brachte er unbefangen heraus. "Leider..." es klang bedauernd, "muss ich morgen früh schon wieder fort. Bei der gespannten Luftlage..." Der Professor verstand. Nun war es an ihm, hilflos die Hand zu bewegen, und diese Hand fiel kraftlos auf die Tischplatte zurück. "Dann wollen wir schlafen gehen. Hoffentlich kommt kein Alarm."

   Der Morgen erwachte mit klirrendem Frost. Der Professor ging groß und aufrecht in sein Laboratorium. Holt sah ihm nach. Fremdheit, Enttäuschung und Angst... Das schlug nun um in Erbitterung. Geh nur, dachte er böse. Geh! Ich brauch dich nicht, ich will dich nicht, dich und deine... Wahrheit!

   Dann lief er zum Bahnhof.

   Ein Schnellzug für Fronturlauber trug ihn nach Westen. Die Abteile waren mit Soldaten aller Waffengattungen voll gestopft. Bartstoppelige Gesichter, vom Schlaf entspannt, vom Wachsein entstellt. Heute war Heiliger Abend.

   Magdeburg. Halt! Nicht weiter nach Norden! Er erreichte Hannover, dann saß er fest, es war auch kein Wagen zu finden, der weiterfuhr. Planlos lief er durch die Straßen. Es dämmerte. Er setzte sich in den Bahnhofswartesaal. Es wurde Abend. Radiolärm, eine Ansprache, nicht hinhören. Und dann: Stille Nacht, heilige Nacht... Weihnachtsabend. Deutsche Dome läuten die Weihnacht ein. Holt vergrub den Kopf in den Armen.

   Am anderen Morgen langte er in Gelsenkirchen an, fuhr mit der Straßenbahn nach Essen und telefonierte. Frau Ziesche war überrascht. Er fragte: "Darf ich kommen?" - "Nein", sagte sie. "Günter Ziesche kommt nachher auf Tagurlaub." Er flehte: "Ich hab... alle Brücken hinter mir abgebrochen, du darfst mich jetzt nicht allein lassen." Er hörte sie sagen: "Warte!" Es dauerte lange. "Also fahr nach Borken, das liegt hinter Wesel, irgendwie wirst du schon hinkommen. Dann läufst du bis zur Chausseegabelung und nach rechts ins nächste Dorf, es sind nur ein paar Kilometer, das Gasthaus heißt 'Zur Quelle'. Dort treffen wir uns. Soll Ziesche sich kümmern. Ich lass mich von einem Bekannten mit dem Wagen hinfahren." Er war glücklich. "Bis nachher", sagte sie. "Ich freu mich auch."

   Er gelangte erst nachmittags ans Ziel. Er fand einen freundlichen Dorfgasthof. Sie saß in einer Ecke, unauffällig und mädchenhaft. Er fasste ihre Hände. Langsam wendete sie die Hand, über die er den Kopf beugte, und verschloss mit der warmen Innenfläche seinen Mund.

   Sie liefen durch das flache, tiefverschneite Land. Die Ebene dehnte sich weit in der Dämmerung, eine eigenartige Niederungslandschaft. Auf Wiesen, Erlen und Weidengehölz, Moor und Bruch fielen langsam die Schneeflocken. Die Grenze nach Holland konnte nicht fern sein. Es fror. Gegen Abend endete das Schneetreiben. In der Dämmerung summte es über ihren Köpfen. Sehr fern schoss Flak. Das war außerhalb ihres Lebens. Hier gab es keinen Alarm. Zwei volle, lange Tage lagen vor ihnen. Sie stapften durch knirschenden Schnee.

   "Sieh dir die Winterlandschaft an", sagte sie. "Ist es nicht schön hier?" Auch das war neu an ihr. Später erzählte er von seinem Vater. "Ein bisschen sehr pessimistisch", sagte sie. "Aber im Prinzip hat er schon recht." Sie redete von Ohnmacht und Schicksal, man sei nur eine Figur im großen Spiel. Das passte zu seiner gedrückten Stimmung. "Vergiss das alles", forderte sie. Auch Uta hatte gesagt: Vergiss das alles. "Ich kann das nicht vergessen!" - "Doch. Warte nur! Wenn du zur Batterie zurückgehst, hast du alles vergessen."

   In der leeren Gaststube brannten ein paar Kerzen am Weihnachtsbaum. Der Ofen spuckte wohlige Wärme. Der Gasthof war mit Bombengeschädigten belegt, aber für Frau Ziesche gab es jederzeit ein Zimmer. Vor Jahren habe man hier auf Betriebsausflügen gerastet, erzählte sie.

   Sie saßen nach dem Essen am warmen Kachelofen, dicht beieinander. Im Radio ertönte wieder: "Stille Nacht, heilige Nacht...", aber mit einem veränderten Text "....Balder, das Urlicht, ist da..." Holt hörte nichts, er war nun, da draußen dunkel und drohend die Nacht stand, wieder hilflos der Erinnerung ausgeliefert, der Erinnerung an den weißhaarigen Mann und seine Worte... Sie gingen bald auf ihr Zimmer. Holt floh zu ihr, sie mochte ahnen, was in ihm vorging, und überließ sich ihm still und willenlos. Aber er lag noch lange wach und kämpfte gegen die Angst an, die nur langsam schwächer wurde. Es darf mich nicht umwerfen, sagte er sich. Ich hab es damals verwunden, bei Uta, ich hab auch Gerties... Gerede unterbekommen, es darf mich nicht umwerfen! Es häuft sich an, dachte er, es ist... wie eine Belastungsprobe, als wolle das Schicksal mich prüfen. Schicksal, dachte er.

   Der Morgen war von weißem, eiskaltem Nebel verhüllt, aber der Nordost trieb die Schwaden auseinander. Am frostklaren Himmel strahlte die Wintersonne und warf hinter jeden Weidenbusch blaue Schatten. Stundenlang wanderten sie durch die verschneite Ebene. Er ging neben ihr her, aber er war ihr fern und hing seinen Gedanken nach. Schicksal, dachte er wieder, das ist jenes Große, Dunkle, Unbekannte, dem wir Menschen ausgeliefert sind... Sie erzählte aus ihrem Leben. Als Kind habe sie tanzen gelernt, als Sechzehnjährige sei sie mit einem Ballett durch Europa gereist, durch Frankreich, England, Russland... Er horchte auf. "In Russland warst du?" Das Land sei uferlos wie der Himmel, der sich darüber wölbte, hörte er sie sagen, man ertrinke in Weite, in Grenzenlosigkeit..."Lies Dostojewskij", sagte sie. Sein Blick suchte den Horizont, wo sich das Schneegeflimmer übergangslos mit dem Blau des Himmels vermischte. Weite, Grenzenlosigkeit, dachte er, ist denn nicht auch unser Leben wie ein endloser, zielloser Weg, über dem die Vorsehung unser Schicksal wie ein Gewitter zusammenbraut? "Lies, was Rilke über die russische Seele schreibt", hörte er. jetzt erst riss das Gespinst seiner Gedanken auseinander.

   Er blieb stehen. "Ich denke, es sind alles Untermenschen?" fragte er, und er wunderte sich nicht einmal über den neuen Widerspruch. Sie sagte: "Irgendeinen Vorwand muss man ja haben, um sie umzubringen."

   Seltsam: es traf ihn nun nicht mehr... Das Leben geht weiter, dachte er, als er in die Batterie zurückkehrte, es kümmert sich nicht um uns, um unsere Enttäuschungen, unsere Ängste, es steht hoch und unbeeinflussbar über uns und zwingt uns auf den vorgezeichneten Weg, und wir müssen ihn gehen.

8

   Der Winter brachte abwechselnd Schnee und Kälte und immer wieder wärmere Tage. Im Januar aber begann eine Periode grimmigen Frostes. Das Quecksilber zeigte des Nachts zweiundzwanzig, auch sechsundzwanzig Grad unter Null. Ungeachtet des harten Winters flogen die britischen Bomberverbände Nacht für Nacht über die Grenzen.

   Die Jungen hockten steif vor Frost am Geschütz. "Der fünfte Kriegswinter!" Gomulka erzählte: "Daheim gibt´s nichts zu heizen, ‚und das Essen wird immer erbärmlicher." Vetter sagte: "Die da oben, die müssen sich doch den Arsch abfrieren !" - "Keine Spur!" erklärte Wolzow. "Die haben´s schön warm. Die Viermotorigen sind hermetisch geschlossen, die Piloten in den elektrisch beheizten Kombinationen werden ordentlich schwitzen!"

   "Hör auf!" rief Holt. "Schwitzen... So ein Quatsch!" Er zog die Wolldecke fester tun seine Beine, aber die Kälte stieg im Körper hoch und ließ die Glieder wie im Schüttelfrost zittern. Vetter schwätzte: "In einer abgeschossenen Stirling haben sie Schokolade gefunden und prima Zigaretten! Und Bohnenkaffee kochen sie sich auch!" Ziesche schnitt ihm das Wort ab: "Hör auf! Das grenzt an Zersetzung!" Vetter rief entrüstet: "Ich und Zersetzung! Du bist ein Rindvieh!" - "Still! Luftlage!" Sie verstummten und bereiteten sich aufs Schießen vor.

   In diesen Frostnächten kam Kutschera immer erst unmittelbar vor dem Gefecht auf die B 2 und verschwand wieder, so schnell er konnte. "Wenn was Besonderes los ist, rufen Sie mich", sagte er zu Gottesknecht. Dann schnüffelte er noch eine Weile zwischen den Geräten herum, jagte ein paar Luftwaffenhelfer grundlos über den gefrorenen Acker, meinte endlich: "Ach, leckt mich alle..." und zog ab. In seine Baracke hatte er sich von der Befehlsstelle eine Feldtelefonleitung legen lassen.

   Solange es ruhig blieb, ging Gottesknecht, eine ganz und gar unmilitärische Pelzmütze auf dem Kopf, von Geschütz zu Geschütz und verteilte Wybert-Pastillen. "Nehmen Sie, Holt, das ist gut gegen Husten und Heiserkeit, jedenfalls steht´s so auf der Schachtel!" Eines Nachts, während die Jungen langsam zu Eis gefroren, braute Wolzow im Mannschaftsbunker Grog. Schmiedling rief: "Dös gibt ´s fei net! Ohne meine da müssen S´ mich erst amol um Bewülligung gibt´s dös fei net!" Den Brennspiritus hatte Wolzow vom Waffenmeister; wer ihm den Arrak besorgt hatte, verriet er nicht. Sie schlürften das starke Getränk aus Kochgeschirrdeckeln und luden auch Gottesknecht dazu ein. Er gab Wolzow Sehrgut. Dann stieg der Alkohol den Jungen derartig zu Kopf, dass die Richtkanoniere beim Schießen falsche Richtwerte einstellten; während die Bomber im Norden vorbeizogen, feuerte Anton nach Süden. Am Morgen zeigte es sich, dass man überdies sämtliche Nahfeuerpatronen verschossen hatte. Das ließ sich nicht verheimlichen. Gottesknecht änderte Wolzows Sehrgut in Nichtgenügend.

   Am 11. Januar beging Holt seinen siebzehnten Geburtstag. Die Hamburger Verwandten schickten ein Zigarettenpäckchen, die Mutter eine Karte mit flüchtig hingeworfenen Zeilen: "Herzlichen Glückwunsch zum neuen Lebensjahr". Holt schnob. verächtlich durch die Nase. "Das ist typisch", sagte er zu Gomulka. "Anderthalb Zeilen!" Er brannte sich eine Zigarette an, "Dehli" hieß die Sorte, und betrachtete nachdenklich die grüne Schachtel. "Tja, Sepp... Die so genannten Blutsbande sind eigentlich recht dünn. Da gibt´s fremde Menschen, die einem viel näher stehen!"

   Das Zigarettenpäckchen war schon am zehnten in Holts Hände gelangt. Pünktlich am elften brachte die Post ein winziges Päckchen von Uta. Das überraschte Holt. Er konnte sich nicht erinnern, ihr jemals sein Geburtsdatum genannt zu haben. Aus der Verpackung löste sich ein kleines, in Seide gebundenes Büchlein, Gedichte von Friedrich Hölderlin. Er überflog den bei-liegenden Brief. Ihre Freundin Helga Wiese, so schrieb sie, habe diese Gabe "dürftig" genannt, denn ein Rollschinken, gut geräuchert, finde bei den Kriegern weit mehr Sympathie als ein Bändchen Gedichte. Aber sie kenne ihn als eine poetische Natur, die geistige Genüsse vorziehe. Holt lachte. Aber er verstummte beschämt, als er weiterlas. Einiges aus diesem Buche gehöre zu ihren Lieblingsgedichten. Auch sei das Bändchen nicht ganz ohne Egoismus ausgewählt. "Vielleicht denkst Du bei manchem Vers an mich." Er blätterte wahllos in den Seiten. "Ist nicht heilig mein Herz, schöneren Lebens voll, seit ich liebe?"

   Gomulka saß dabei und beobachtete Holt unverwandt. Dann stand er auf und ging aus der Stube. Eine Welle eisiger Kälte fuhr hinter ihm zur Tür herein. Holt fröstelte. Aber am späten Nachmittag, als Frau Ziesche anrief, gratulierte und fragte, ob es dabei bliebe, sie gedenke es ihm riesig gemütlich zu machen, da lief er doch zur Schreibstube. Gottesknecht gab ihm die Erlaubnis, am Abend in die Stadt zu gehen. Doch kaum war die Dunkelheit hereingebrochen, klingelte die Alarmglocke, und Holt saß bis zum Morgen am Geschütz.

   Wieder einmal suchten die Bomber Ausweichziele. Etwa hundert Viermotorige schütteten ihre Last über Bottrop aus, und dann fielen auch auf das nördliche Essen Bomben, vorwiegend Luftminen und Brandbomben, und das Rot des Feuers schlug zum frostblauen Nachthimmel empor. Wolzow kletterte auf die Erdumwallung des Geschützstandes und starrte in das bren-nende Häusermeer. "Verdammt, dort beklagt sich jetzt keiner mehr, dass ihm zu kalt ist!" Man lachte, ein grimmiges, kurzes Lachen. Einer der Flakwehrmänner hielt in der Arbeit inne. "Rotzjunge! Deine Leute sind ja nicht drin in den Flammen!" Wolzow sprang in den Geschützstand, aber Holt fasste ihn am Arm. "Gilbert, gib Ruhe!"

   Drei Tage später hatte Frau Ziesche Geburtstag. Zu seinem Kummer fand Holt die Wohnung voller Schauspieler und Ballettmädchen. Er war verärgert. Frau Ziesche setzte sich für zehn Minuten zu ihm und redete beruhigend auf ihn ein "Ich kann´s nicht ändern. Rausschmeißen geht nicht. Lass nur, ich finde schon eine Möglichkeit, dass wir wieder ein paar Tage für uns haben." Er trank vor Ärger viel französischen Rotwein, von dem Frau Ziesche einen unerschöpflichen Vorrat zu besitzen schien, auch holte er sie absichtlich nicht zum Tanz und tobte mit den beschwipsten Choristinnen herum, lustlos und immer mehr mit sich uneins. Er fühlte sich fremd zwischen diesen Menschen, und auch Frau Ziesche war fern und fremd. Unvermittelt brach er auf. Er verabschiedete sich flüchtig. Sie flüsterte ihm ungehalten zu: "Warte doch! Bei Voralarm werf ich alle raus!" - "Ich muss in die Stellung", sagte er trotzig. Sie sah ihm mit hochgezogenen Brauen nach. Voller Genugtuung glaubte er, sie gekränkt zu haben.

   Auf dem dunklen Korridor überraschte er einen schnurrbärtigen Mann, der sich mit einem Chormädchen herumdrückte. Holt zog sich den Mantel an. Der Schnurrbärtige sagte weinselig: "Schon gehen, Kamerad?" - "Ich bin nicht Ihr Kamerad", sagte Holt verächtlich. Der andere, in Zivil, sang: "Heute rot... morgen tot... Unser 'Großdeutschland'... Sie haben ihn doch auch gekannt, der Panzergrenadier... gefallen!" Holt warf die Vorsaaltür hinter sich ins Schloss. Fast zwei Wochen lang hörte er nichts von Frau Ziesche, dann rief er doch wieder bei ihr an.

   Die Frostperiode dauerte bis Ende Februar. Die Feuerung wurde knapp, und sie froren auch in den Baracken. Wolzow riss in der Laubenkolonie heimlich ein Dach ab und stopfte Bretter und Teerpappe in den Ofen. "Diese Banditen!" schrie der Hauptmann, bei dem man sich beschwerte. "Verheizen die Lauben, wo Ausgebombte drin wohnen! Natürlich der Wolzow! Ich sperr Sie beim nächsten Dachschaden ein!" Aber diese Drohung nahm keiner mehr ernst, denn zwischen Kutschera und Wolzow herrschte seit langem das beste Einvernehmen.

   Ende Februar verwandelte beginnendes Tauwetter die Batteriestellung in einen grundlosen Morast. Dann folgten sonnige, frühlingshafte Tage. Nun saßen die Jungen Tag und Nacht am Geschütz. Die Briten flogen des Nachts ihre Flächenangriffe gegen die Großstädte, und am Tage zogen die amerikanischen Bomber zu Hunderten über den blauen Himmel. Von Jagdgeschwadern begleitet, flogen sie ihre Angriffe auf Städte, Industriewerke und Verkehrsknotenpunkte. Im Jahre dreiundvierzig hatten die Nachtangriffe überwogen. Das änderte sich nun.

   Die Batterie hatte viermal am Tag Gefechtsschaltung, und immer wieder war das Ruhrgebiet selbst Angriffsziel. Der Munitionsverbrauch stieg, das Patronenschleppen verdrängte mehr und mehr den Schulunterricht. Am Tag zogen sich die Luftkämpfe von der holländischen Grenze bis weit nach Osten hin. Täglich stürzten Maschinen ab, Viermotorige, Mustangs, Focke. Wulf-, Messerschmittjäger. Aber die Bomber zogen unbeirrt ihre Bahn.

   Holt lag auf seinem Bett, die Brust schmerzte, sie waren am Vormittag wieder geimpft worden, gegen Typhus oder Diphtherie, niemand wusste es genau. Wolzow las. Vetter spielte Skat, mit Kirsch und Zemtzki.

   "Da sind wieder sieben Maschinen runtergekommen", piepste Zemtzki, "mit der Zeit müssen die das doch merken!" Er hörte die Meldungen der Untergruppe. Manchmal stürzten im Abschnitt zehn, auch zwölf Maschinen an einem Tage ab. Gomulka sagte sachlich: "Unsere Abwehr vernichtet etwa fünf vom Hundert der eingeflogenen Feindmaschinen, das ist praktisch bedeutungslos." Ziesche rief von seinem Bett her: "Der Gomulka mit seiner jüdischen Zahlenakrobatik will wieder mal Wehrkraftzersetzung treiben!" Vetter drohte: "Pass auf, wenn wir mal deine Wehrkraft zersetzen, mit ´m Knüppel!" Die Alarmglocke trieb sie aus der Stube. Am Geschütz, als er sich den Stahlhelm auf den Kopf stülpte, überlegte Holt: Wo hat Sepp diese Zahl her? Wolzow erzählte von den Fronten. "Ihr könnt euch nicht vorstellen, was im Osten los ist! Ich hab ein paar Kommentare gelesen, im Wehrmachtbericht steht ja nichts drin. Zwischen Süd- und Mittelabschnitt haben die Russen einen dreihundert Kilometer breiten Keil getrieben! Schitomir ist hin. Kirowgrad ist hin; Kriwoi Rog ist hin." - "Aber der Führer", rief Ziesche, wie immer über Wolzows Sachlichkeit erbittert, "hat am 9. November ausdrücklich gesagt: 'Was ist das schon, wenn wir, durch die Kriegsnotwendigkeit gezwungen, einmal einige hundert Kilometer aufgeben müssen...'" - "Durch Kriegsnotwendigkeiten? Durch die Russen gezwungen", sagte Wolzow, "immer noch durch die Russen!... Ach, halt´s Maul", fuhr er Ziesche an, "einem Eierkopf wie dir muss das der Führer ´n bisschen sanfter beibringen. Die militärische Wahrheit ist nur für Männer wie mich."

   Er hatte sich Landkarten aller Kriegsschauplätze besorgt, stand nun fast täglich, über die Karte gebeugt, am Tisch und verfolgte den Frontverlauf. Ziesche beobachtete es mit dem ewig gleichen misstrauischen Gesicht.

   Die Oberhelfer vorn Jahrgang sechsundzwanzig aus Hainburg und den umliegenden Ruhrstädten standen vor der Einberufung zum Arbeitsdienst. Schon Mitte Februar hatte sich Unteroffizier Engel mit drei Obergefreiten auf den Weg gemacht, um irgendwo im Osten Ersatz auszubilden, Schüler vorn Jahrgang 1928.

   Seit Wolzows "schlagartiger Aktion" war die Fehde zwischen Wolzow und den Hamburgern erloschen. Aber nun Warnte der treue Schmiedling: "Eh die aus Hamburg, net wahr, dös is sicher, weil die bevor sie zum RAD gehn, da wohn s´ Ihnen noch a Abreibung verpassen!" Wolzow spottete nur.

   Am 15. März sollten die Oberhelfer entlassen werden. Am 20. wurde der Ersatz erwartet. Am 12. März zog die Untergruppe die 107. Batterie für eine Woche aus dem Einsatz. Vier Geschütze mussten überholt werden, darunter auch Anton. Sie rissen den Geschützstand auf, und eine schwere Zugmaschine zog die Kanone über den Acker. Wolzow, Holt und Vetter fuhren mit in die Werkstatt. Vetter war in dem halben Jahr wesentlich schlanker geworden. An den Jungen zehrte die Schlaflosigkeit.

   In der Waffenwerkstatt entdeckte Wolzow sogleich eine Kanone. "Kommt her! Die 8,8/41... Mit Erdzieleinrichtung!" Er erklärte Holt und Vetter die Richtoptik. Ein Flaksoldat, zu dessen Batterie die Kanone gehörte, unterstützte ihn. Wer weiß, wozu ´s gut ist, dachte Holt...

   Während der folgenden Tage, da die Batterie nicht feuerbereit war, wollten die Luftwaffenhelfer einmal ausgiebig schlafen. Aber Kutschera erinnerte sich plötzlich daran, dass die Disziplin nachgelassen habe, und verfügte Fußdienst. Am Abend heizten sie den Ofen, dass er glühte, und fielen nach dem Stubendurchgang todmüde in die Betten.

   Da stürzte Zemtzki ins Zimmer: "Die Hamburger kommen! Noch andere! Dreißig Mann!" - "Dreck, verdammter", rief Wolzow, "los, Männer, raus!" Er übernahm das Kommando und packte erst einmal Ziesche. "Wenn du nicht Neutralität schwörst, sperr ich dich in meinen Spind!" Widerstrebend gab Ziesche sein Ehrenwort, zog sich aber auch an.

   Wolzow organisierte die Verteidigung. Sein Plan, die anrückenden Oberhelfer auf freiem Felde anzufallen, fand keine Unterstützung, obwohl er ihn, in seinem Taschenbuch blätternd, mit klassischen Beispielen untermauerte. Das Malheur mit dem Ofen war nicht mehr rückgängig zu machen. Holt hatte einen Eimer Kohle hineingestopft. Das Feuer raste. Das Rohr glühte bis unter die Decke. Zemtzki berichtete: "Sie haben beim Waffenmeister Tränengaspatronen geklaut!" - "Gasmasken", befahl Wolzow, .Stahlhelme!" Gomulka hatte sich aus dem Weihnachtsurlaub sein Luftgewehr mitgebracht, knetete Kügelchen aus Kommissbrot und schoss eines probeweise gegen Wolzows Hand. "Ganz schön", meinte Wolzow, "immer schön in die Fresse, Sepp, dann ist es richtig!" Er verwarf die Klopfpeitschen. "Heute müssen stabilere Sachen her!" Eilig demolierten sie den Lattenrost vor der Baracke. Ein Kasten ‚Fanta" wurde bereitgestellt; "Fanta" war eine Art Limonade, mit Coffein versetzt. Gomulka kippte den Tisch auf die hohe Kante und verschanzte sich dahinter mit dem Luftgewehr.

   Wolzow und Holt warteten vor der Barackentür. Sie standen in der kühlen Nacht. Holt sagte: "Wie Hagen und Volker im Nibelungenlied." - "Wirst mal sehen, wie ich die Brüder dresche!" sagte Wolzow.

   Gegen elf zogen sie im Gänsemarsch den Lattenrost entlang. Holt gab Alarm, Wolzow wartete im dunklen Korridor. Als die Hamburger die Tür aufzogen, trat er dem ersten in den Leib, dass er im Fallen zwei andere mitriss. Da die Ãœberraschung misslungen war, wagte sich keiner als erster an Wolzow heran. Aber ein Bombardement mit Steinen und Lehmklumpen zwang ihn zum Rückzug in die Stube. Er rammte von innen ein Brett unter die Klinke. Der Korridor füllte sich mit Menschen. Vor den Fenstern hörte man Getuschel. Ziesche saß nervös auf seinem Bett.

   Eine Weile blieb alles ruhig. Dann keilten die Hamburger mit einer Spitzhacke die obere Türecke auf, einen Spalt nur, aber doch weit genug, dass Gomulka rasch den Gewehrlauf hindurch stecken und abdrücken konnte. "Aaa!" machte es, und der Spalt klappte wieder zu. "Herrlich, Sepp!" Günsche brüllte draußen wütend: "Noch ein Schuss mit dem Luftgewehr, und wir dreschen euch reif fürs Revier!" "Abwarten!" rief Wolzow. Holt dachte: Es sind zu viele, es muss schief gehen!

   Zemtzki drückte sich an Wolzow heran. "Gilbert... Sie haben dich feige genannt!" hetzte er. "Einen Feigling!" Er grinste listig.

   Abermals keiften die Oberhelfer die Tür auf. Gomulkas Schuss ging diesmal fehl, und eine Tränengaspatrone zerklirrte im Zimmer, eine zweite. -. Sie zogen schon die Gasmasken über die Gesichter. Die Hamburger waren enttäuscht und berieten lange. Wolzow war nun endlich in Wut geraten, zertrat einen Schemel und nahm in jede Hand ein Stuhlbein.

   Schritte polterten auf dem Barackendach. "Verflucht, der Ofen!" rief Gomulka. Die Hamburger kippten Wasser aus dem Löschfass in den Kamin und legten ein Brett auf den Schornstein. Sogleich begann der überheizte Ofen zu qualmen. Die Stube füllte sich mit Rauch. Sie hielten es unter den Masken eine Weile aus, dann wurde der Sauerstoff knapp. Holt hörte es in den Ohren rauschen, irgendwer, im Rauch nur undeutlich zu erkennen, taumelte schon, Holt und Wolzow rissen die Fenster auf, rissen die Helme, die Gasmasken herunter und atmeten.

   Nun wurden die Fenster gestürmt, aber sie waren gut zu verteidigen. Wolzow und Vetter schlugen mit den Latten drauflos, dazwischen patschte Gomulkas Luftgewehr. Zu spät erkannten sie, dass der Angriff auf die Fenster nur fingiert war. In ihrem Rücken barst das Türschloss, und die Oberhelfer drangen in die Stube.

   Ein paar wurden sofort niedergeschlagen und krochen stöhnend wieder auf den Korridor hinaus. Wolzow hieb, in jeder Hand ein Stuhlbein, wie ein Verrückter um sich. Dann fiel er, ein Klumpen Oberhelfer warf sich auf ihn. Holt erhielt mehrere Schläge ins Gesicht und auf den Kopf und war nur noch halb bei Bewusstsein. Er sah Gomulka mit dem Gewehrkolben um sich stoßen, sah, wie ihn ein Knüppelhieb ins Gesicht traf und zu Boden warf. Vor seinem Auge schwamm das breite Gesicht Ziesches. Hassenswürdig... ein Schwein, brutaler Kerl... Gewaltverbrecher! Holt schlug sich durch das Gewühl zu Ziesche durch. Er sah Wolzow auf dem Boden mit vier oder fünf Gegnern ringen, die auf ihn losdroschen und sich dabei gegenseitig behinderten, sah Vetter mit blutverschmiertem Gesicht "Fanta"-Flaschen durch den Raum werfen und taumelte weiter, auf Ziesche zu, stolperte über Wolzows Beine und riss den Tisch um, der noch immer auf der Kante stand, und die schwere Platte schlug auf das ringende Menschenbündel. Wolzow, der zuunterst gelegen hatte, kam frei und kroch unter der Tischplatte hervor. Holt sah das nur noch wie im Nebel. Er warf sich auf den überraschten Ziesche, der in der Ecke bei den Betten kauerte, und packte ihn mit beiden Händen am Hals. Endlich! Sie fielen zu Boden. Ziesche röchelte. Du Aas, Gewaltverbrecher! Da traf Holt ein Schlag auf den Kopf. Er ließ los. Die Stimme des Hauptmanns dröhnte: "Diese Banditen rotten sich gegenseitig aus, wo gibt´s denn so was!"

   Holt betastete seinen geschwollenen, schmerzenden Kopf. In der Tür stand Kutschera, barhäuptig, und draußen, vor dem Fenster, Gottesknecht. Ãœberall saßen und kauerten Gestalten am Boden und hielten sich die Köpfe. Der Sanitäter verband ein blutiges Auge. Wolzow, so gut wie unversehrt, stand vor dem Hauptmann, noch immer ein Stuhlbein in der Hand, und er maulte: "Wir sind mit Ãœbermacht angegriffen worden!" Kutschera brüllte: "Und der Kerl, der das eingebrockt hat, der hat am wenigsten abgekriegt! Sie meinen wohl, Sie können sich bei mir alles erlauben!"

   Die Bilanz: Sieben Luftwaffenhelfer waren so sehr verletzt, dass sie ins Revier mussten, Vetter, Gomulka und fünf Oberhelfer und dazu ein Flakwehrmann aus der großen Stube, der nichts ahnend ins Getümmel geraten war. Vetter hatte ein gebrochenes Nasenbein, und Gomulka stand hilflos grinsend mit dick verschwollenem Mund, ein Schneidezahn fehlte, das machte sein Gesicht fremd und sein Grinsen zur Grimasse. Sein Kopf war blutverklebt. Hinter dem Ohr klaffte eine große Platzwunde.

   Kutschera verschwand fluchend. Gottesknecht sagte leise: "Genauso hab ich das kommen sehen!" Holt, mit einem unbeherrschbaren Schluchzen, stammelte: "So ein Wahnsinn! So ein himmelschreiender Wahnsinn!" - "Eine verschworene Gemeinschaft sollten wir sein!" sagte Ziesche von seinem Bett her. Holt sprang schon wieder zu ihm hin. "Noch einen Ton, du verlogener Hund..." - "Schluss", sagte Wolzow. "Lass den Ziesche in Ruh! Wenn er nicht das Maul hält, bekommt er von mir einen Klaps!" Holt kam ein nervöses Lachen an. Einen Klaps, dachte er, einen KlapsÂ…

   Mit vier Stunden Fußdienst war die Sache für Kutschera abgetan. Die Oberhelfer wurden zwei Tage vor der Zeit entlassen; das hatte Gottesknecht durchgesetzt, weil er einen Rachefeldzug Wolzows befürchtete.

   Holt besuchte Gomulka im Revier. Gomulka lag mit dick verbundenem Kopf in den Kissen. Die Wunde war ohne Betäubung genäht worden. "Eine Schinderei", meinte er. "Was gibt´s in der Batterie? Ich hab hin und her überlegt, warum wir uns eigentlich so blödsinnig gedroschen haben. Es ist Krampf."

   "Aus Prinzip", sagte Holt. "Nur aus Prinzip. Bei Fontane hat einer überhaupt keine Lust zum Duell und weiß ganz genau, dass es Unfug ist, aber er schießt sich mit dem Freund seiner Frau, aus Prinzip, und schießt ihn tot, aus Prinzip."

   Gomulka drehte den Kopf ein wenig zur Seite. "Wenn aus Prinzip etwas Sinnloses geschieht, dann ist das Prinzip falsch!" - "Es hat keinen Zweck, viel darüber nachzudenken", sagte Holt. "Das Gesetz des Handelns ist uns klar vorgeschrieben!" Gomulka mochte wohl müde sein, denn er sagte nichts mehr. Holt fuhr zu Frau Ziesche.

   Sie sagte: "Lieber Himmel, wie siehst du aus!" Er erzählte von der Schlägerei. "Ich hätte den Ziesche beinah erwürgt!" Sie strich ihm mit der Hand übers Haar und meinte: "Beruhige dich. Willst du Tee?" Die Berührung ihrer Hand machte ihn matt und willenlos. Bei ihr wird alles Schwere leicht, dachte er. Sie schenkte Tee ein und erzählte Nichtigkeiten. Es war gemütlich und warm, ihm graute vor der Rückkehr in die Batterie. Er entschloss sich, über Nacht hier zu bleiben, obwohl Gottesknecht das nicht decken würde. Aber auch das war gleichgültig. "Ich hab frei bis morgen früh", log er.

   Sie sagte entschlossen: "Werner, du kannst heute nicht bleiben." Er sah sie zunächst nur verwundert an. "Du musst das einsehen", bat sie. "Ziesche kommt auf Urlaub, ich erwarte ihn jeden Tag."

   Er begriff nur langsam, dass nicht der junge Ziesche, sondern sein Vater gemeint war, dieser dicke, brutale Mann. "Was denn...", sagte er schwerfällig, "und ich?"

   "Sei friedlich. Er bleibt ja nur ein paar Tage."

   Nur ein paar Tage... So ist das also, wenn der Ehemann kommt, wird der Liebhaber abserviert... Nun fiel ihm ein, dass der alte Ziesche mit seiner Frau... Sein Verstand trübte sich vor Eifersucht und Ekel. Er packte Frau Ziesche am Handgelenk, derb, außer sich vor Wut. "Wenn du dich von ihm anrühren lässtÂ…"

   Sie erschrak, doch unter dem Griff seiner Hand wurde ihr Gesicht weich, die Lider senkten sich über die Augen. Sie raffte sich auf und sagte: "Was erlaubst du dir!"

   Ach so! Er ließ sie los, sein Kopf schmerzte wieder, er war müde. Er nahm seinen Mantel von der Sessellehne und setzte die Mütze auf. Sie beobachtete ihn gleichmütig. Seine Energie war schon verpufft. Er wartete auf ein Wort. Aber sie schwieg. Als er die Treppen hinabstieg, überfiel ihn Verzweiflung: Jetzt bin ich ganz allein! Er hatte keinen Stolz mehr, kehrte um und klingelte. Sie ließ sich Zeit, bis sie öffnete. Er stand vor der Tür, die Mütze in der Hand, sie zog ihn in den Flur, sie strich ihm ein paar Haare aus der Stirn und lächelte. "Dummer Kerl! Ruf mich an, wenn du Ausgang hast." Er stand unbeweglich vor ihr. "Du darfst..." - "Wofür hältst du mich!" sagte sie. "Eine Frau hat ihre Möglichkeiten!"

   Die Geschütze wurden aus der Werkstatt zurückgebracht, es gab Arbeit über Arbeit. Anton hatte ein neues Rohr erhalten. Die gesamte Munition wurde gegen Patronen mit neuartigen Granaten ausgetauscht. Tags darauf kehrte Gomulka aus dem Revier zurück. Ein Befehl der Untergruppe ernannte Holt und seine Klassenkameraden zu Luftwaffenoberhelfern. Gomulka, ein Pflaster am Hinterkopf, sagte: "jetzt helfen wir nicht mehr, jetzt oberhelfen wir."

   Am Nachmittag langte der Ersatz in der Batterie an, Schüler vom Jahrgang achtundzwanzig, aus Schlesien. Holt, Wolzow, Vetter und Gomulka standen bei der Schreibstube und sahen zu, wie die Neuen von den Lastwagen kletterten und in der Kammerbaracke vorbeidefilierten. "So sind wir auch mal angekommen", meinte Gomulka. Holt nickte. Es war ewig her. "Leute, es ist geschafft!" krähte Vetter. "Jetzt sind wir die Alten!"

   Die Batterie trat auf dem Fahrweg an und wurde eingeteilt. Die neuernannten Oberhelfer von der Geschützstaffel wurden als Geschützführer und Richtkanoniere auf alle sechs Geschütze verteilt. Mit Mühe konnte Schmiedling Wolzow, Holt, Gomulka und Vetter bei Anton behalten. Kutschera, barhäuptig wie immer, von seinem Hund gefolgt, trat vor die Front. "Mal herhörn!" Diesmal sagte er kein Wort von Selbsterziehung. Gomulka bemerkte dazu auf der Stube: "Es hat ihm schon lange nicht mehr gepasst. Aber er konnte sein Prinzip nicht widerrufen." - "Selbsterziehung eines Hauptmanns", spottete Holt.

   Die Batterie war wieder feuerbereit. Gegen Mitternacht zog Wolzow noch einmal den Wischer durch das neue Rohr. Sei es, dass die Neuen am Funkmessgerät noch unsicher waren, dass sie Angst hatten oder sich von der üblichen Düppel-Störung verwirren ließen, das Schießen klappte in dieser Nacht schlecht. Die Batterie schoss nach Süden, die Bomber brummten im Norden vorbei. Wolzow fluchte, denn aus dem neuen Rohr floss brennendes Öl und versengte ihm den Ladehandschuh. In den Feuerpausen hörten sie, fern beim Funkmessgerät, Kutschera toben.

   Den Bestand der Batterie bildeten zu zwei Dritteln die Neuen vom Jahrgang achtundzwanzig. Außer den sechsundzwanzig Oberhelfern aus Holts Klasse waren nur fünf der alten Oberhelfer hier geblieben, Dusenböker und Hörschelmann, die beiden Entfernungsmesser aus Hamburg, und Ziesche mit zwei seiner Klassenkameraden aus Essen. Die beiden Hamburger fanden sich abends bei Wolzow in der Stube ein, brachten Zigaretten und Schnaps mit und hörten sich eine Weile geduldig Wolzows Hohnreden an. Dann feierte man Versöhnung. Günsche war ganz allein an allem schuld gewesen!

9

   In den nächsten Wochen ließ Kutschera täglich Batterieexerzieren auf den Dienstplan setzen. Er schickte die Lehrer weg: "Latein? Schießen ist wichtiger!" Die Briten flogen jede Nacht, die Amerikaner jeden Tag nach Deutschland hinein; im April steigerte sich die Angriffstätigkeit noch mehr und nahm nicht wieder ab. Das ständige Batterieexerzieren nahm den Jungen die letzte freie Zeit. Schmiedling aber sagte: "Dös is a Zeichen für a Bsüchtgung is dös!" Tatsächlich kündigte Ende April der Untergruppenkommandeur seinen Besuch an. Der Termin wurde immer wieder verschoben, und erst im Mai rollte die Autokolonne in die Batterie.

   Der Major zog einen Kometenschweif von Hauptleuten und Leutnants hinter sich her, verschwand erst einmal in der Chefunterkunft und ließ die angetretene Batterie warten. "Die saufen jetzt einen prima Begrüßungsschnaps", erklärte Vetter ungeniert laut. - "Ruhe im Glied!" schnauzte irgendwer. Dann nahte Major Behling mit seinem Gefolge, und als die Melderei begann, rollte hupend eine neue Wagenkolonne ins Batteriegelände. Gomulka murmelte im Stillgestanden: "Ach, du ahnst es nicht!" Denn einer großen Limousine entstieg der General der Flakartillerie Bergmann, in Begleitung eines Obersten und mehrerer Oberstleutnants und Majore. Kutschera zog sein Pferdegesicht in die Breite; so schlecht er beim Untergruppenkommandeur angeschrieben war, so sehr beliebt war er beim General. Er stellte sich an den rechten Flügel seiner Batterie.

   Der General scheute sich nicht, die Erkennungsmarken vorzeigen zu lassen und dann die Sohlen der Schuhe zu besichtigen. Dann wünschte er ein gefechtsmäßiges Batterie-Exerzieren. Es war ein klarer, warmer Tag. Als Zielmaschine flog eine Heinkel He 111. Die B 2 war so sehr mit Offizieren voll gestopft, dass die Luftwaffenhelfer kaum die Geräte bewegen konnten. Der General wünschte Kutschera als taktisch, den Wachtmeister als technisch Schießenden zu sehen. Ehe die Befehle die Wendeltreppe des Instanzenweges vom General bis zum Hauptmann herabgestiegen waren, hatte sie die Messtaffel schon ausgeführt. "Ich sehe", sagte der General zufrieden, "Sie haben Ihre Batterie tadellos in Schwung!" Nach zehn Minuten Exerzieren war es soweit: "Gefechtsschaltung!" Gottesknecht ließ das Müo auslegen, die Heinkel überflog die Batterie und brummte zum nächsten Flughafen.

   Der General verabschiedete sich eilig. Zurück blieb der Major. Er übernahm das Kommando über die Untergruppe und schickte seinen Adjutanten an die Ringleitung. Zehn Minuten später meldete die Luftlage starke Kampfverbände mit Jagdschutz über Holland im Anflug auf die Reichsgrenze. Zugleich hieß es: Im Raum Köln-Essen noch vereinzelte eigene Trans-port- und Schulmaschinen. Als Feuerbereitschaft befohlen wurde, nahm Kutschera den Helm ab, zog sich Mantel und Waffenrock aus und ließ sich den Fahrermantel aus seiner Baracke bringen. Er hatte die Augen überall. "Los, dalli, das Müo einziehen!" Der Major sagte: "Da sind doch noch eigene Maschinen oben, Hauptmann, da können Sie doch nicht das Müo wegnehmen!" Kutschera wandte das Gesicht dem Major zu und kniff die Augen zusammen. "Es ist Vorschrift, Herr Major! Wir haben Feuerbereitschaft. In ein paar Minuten sind die Bomber hier!"

   Auf der B 2 herrschte Verwirrung, ob Kutscheras Befehl auszuführen sei oder nicht. Der Major sagte, gereizt über den Widerspruch: "Lassen Sie das Müo noch liegen, so geht das ja auch nicht, wie Sie das handhaben!" Kutschera kratzte sich nachdenklich den Kopf, als gebe es keinen Major auf der B 2, aber er widersprach nicht länger. "Man kann sich doch nicht wörtlich an die Vorschriften halten", sagte der Major noch. Das Müo blieb liegen, ein zehn mal zehn Meter großes Quadrat aus leuchtend weißen Tüchern, mit einem Kreuz darin, aus einer Höhe von zehn-, auch zwölftausend Metern gut zu sehen, eine Zielscheibe mitten in der Feuerstellung, und nach ein paar Minuten dachte kein Mensch mehr daran.

   Im Nordwesten flog der erste Pulk in den Batteriebereich, fünftausend Meter hoch, und Kutscheras "Feuer frei!" fand beim Kommandeur keinen Widerspruch. Die Batterie schoss Gruppenfeuer mit vier Geschützen, sie schoss sehr genau, so dass der Major, das Fernglas an den Augen, "großartig!" rief. Pulk auf Pulk zog in südöstlicher Richtung an ihnen vorbei. Die Batterie schoss gleichmäßig und ohne Nervosität. Dann änderte ein Verband von sechzehn Boeing Fortress II nach den ersten Gruppen die Flugrichtung. "Neuer Zielweg!" rief Gottesknecht, und sofort: "Direkter Anflug!" Da fiel ihnen allen wieder das Müo ein, aber da war es längst zu spät.

   Die Abschüsse schmetterten. Die Leute am Kommando-Hilfsgerät und am Entfernungsmesser duckten sich und lasen mit verzerrten Gesichtern die Richtwerte ab, bis sie in der Optik die Bomber ihre Last ausklinken sahen: da warf sich vom Major bis zum Luftwaffenhelfer alles in die Deckung der Brustwehr, nur Gottesknecht drückte zusammengekrümmt die Feuerglocke, und Kutschera stand barhäuptig und tobte: "Wollt ihr wohl das Müo einziehen, ihr Banditen!" Das Schießen setzte aus, nur zwei Geschütze feuerten in rascher Folge sinnlose Schüsse in den Himmel.

   Auf einmal war Zemtzki da, der kleine Zemtzki, er kam wohl aus dem Keller, hatte einen hochroten Kopf und stocherte mit dem Zeigefinger in der Luft herum wie in der Schule: "Ich... ich... Herr Hauptmann!" Dann lief er wie ein Wiesel über den Acker und raffte die Tücher zusammen. Aber da war das entnervende Geräusch der Bombermotoren schon zugedeckt von einem hohlen Sausen, das anschwoll zu orkanartigem Rauschen. Die Erde bebte, die Geschütze schwankten und rissen an den Verankerungen, ein sekundenlanger Donnerschlag spaltete den Tag, und Rauchpilze und Erdfontänen wuchsen in eins zusammen und löschten die Sonne aus. Splitter jaulten über Geschützstände und B 2 hinweg. Dann war Schweigen. Und in das Schweigen hinein plauzten ein, zwei Geschütze Schuss auf Schuss, die anderen Kanonen fielen ein, das Feuerleitgerät arbeitete wieder, und wütend und unkonzentriert schoss die Batterie hinter, dem abfliegenden Pulk her. Kein Geschütz war getroffen worden. Die B 2 sah etwas mitgenommen aus, aber auch dort war nichts passiert. Nur Zemtzki, Fritz Zemtzki, lag tot vor der Befehlsstelle.

   Am Abend ging Holt durch die von Bombenkratern zerklüftete Stellung. In den Baracken waren die Scheiben zerklirrt, die Dächer beschädigt, überall wurde gebaut, gesägt und gehämmert. Ein Trupp Flaksoldaten von der Untergruppe legte neue Fernsprechleitungen.

   Holt stand in der Baracke des Waffenmeisters, wo zwischen Werkzeugen und Ersatzteilen Zemtzki auf der Erde lag, Luftwaffenoberhelfer Fritz Zemtzki, mit einer Decke zugedeckt. Holts Augen brannten. Das Entsetzen des Bombenteppichs war noch nicht verwunden. Lange stand er vor dem grauen Bündel. In einem Gefühl, das aus Angst und Neugier gemischt war, schlug er die Decke zurück. Da lag Zemtzki. Das Gesicht war unversehrt, war frech und jungenhaft wie je. Aber der halbe Brustkorb fehlte... Das Herz schlug nicht mehr. Als es noch schlug, hatte der Tote, dieser Zemtzki, den alten Gruber veralbert: "Bitte schön, der Holt spinnt, er kann nichts dafür, er hatte Gehirnscharlach!" Er hatte mit Holt zusammen in den Bergen gehaust und sich einst ein Schweineschwänzchen als Trophäe an die Mütze gesteckt. Immer aber hatte er frech und ein bisschen tückisch aus seinen blauen Augen geschaut, und frech und unschuldsvoll war er zeitlebens gewesen. Jetzt war er tot.

   Die Tür knarrte. Gomulka suchte Holt, trat ein und verzog den Mund wie im Ekel. Die Zahnlücke entstellte ihn und verwandelte jede Bewegung des Gesichts in ein Grinsen. Holt bückte sich und schlug die Decke über den Leichnam.

   "Am 1. Juni wär er siebzehn geworden", sagte Gomulka. "Ja", sagte Holt, "das wär er. Beinahe."

   Im Geschützstand bei Anton setzte sich Holt auf einen Lafettenholm. Gomulka lehnte am Eingang des Mannschaftsbunkers. Sie rauchten. Gomulka sagte: "Vielleicht bin ich der nächste!" - "Oder ich", sagte Holt.

   Gomulka lispelte ein wenig durch die Zahnlücke. "Es ist mir von Tag zu Tag unheimlicher geworden, dass sie uns ungeschoren lassen. Mein Vetter ist in Darmstadt eingesetzt. Dort lagen Anfang des Jahres vierzehn schwere Batterien, zehn Heimatflakbatterien und vier aktive. In der Nähe ist ein Werk, wo sie Panzer bauen. Die Amerikaner wollten es mehrfach angreifen, aber die vierzehn Batterien haben so genau geschossen, mit dem Kommandogerät, dass die Pulks ihre Bomben nicht ins Ziel gebracht haben. Da sind sie zwei Wochen lang Angriffe gegen die Batterien geflogen. Sie haben Hunderte von Bomben auf jede Feuerstellung geworfen. Sie haben sämtliche Funkmessgeräte zerschmissen, und von den vierzehn Batterien sind grad noch zwanzig Geschütze übrig geblieben. Jeder dritte Luftwaffenhelfer ist gefallen, jeder zweite verwundet. Das Werk ist obendrein kaputt. Es kommt ihnen nicht drauf an. In Kassel hat sie ein Anderthalb-Meter-Scheinwerfer gestört, mit dem die Batterien nachts optisch geschossen haben, da haben sie auf diesen einen Scheinwerfer mehr als dreihundert Zentner Sprengbomben geworfen. Ich sag dir: Wir kommen auch noch dran!"

   "Sie werden uns zur Sau machen", sagte Holt.

   "Sie werden ganz Deutschland zur Sau machen", sagte Gomulka. Dann schwiegen sie lange. Aber Gomulka fing wieder an: "Die Russen sind immer noch nicht zum Stehen gebracht. Odessa ist gefallen. Wenn das so weitergeht..."

   "Da muss ja nun wirklich bald was geschehen", sagte Holt. "Fragt sich bloß: was?"

   "Ich weiß nicht", sagte Holt. Von der B 2 brüllte jemand: "Leitungsprobe!" Gomulka hing sich die Geschützführerleitung um. Nachher sprachen sie von anderen Dingen.

   Aber in den Stuben wurde die halbe Nacht gestritten, ob der Kommandeur am Tode Zemtzkis schuld sei. Ziesche protestierte erregt: "Das Führerprinzip duldet keine zersetzende Kritik. Ihr wollt verschworene Kämpfer sein? Derartige Bemerkungen über einen Führer sind einfach Wehrkraftzersetzung!" Auch Wolzow fuhr Gomulka an und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch: "Schluss! Es ist Krieg, da kann es jeden erwischen." Er breitete seine Karten aus.

   Am anderen Morgen, nach schwerer nächtlicher Schießerei, erlebte die zum Appell angetretene Batterie eine Ãœberraschung. Kutschera nahte in voller Uniform. "Heil Hitler, Batterie! Der Major war sehr zufrieden. Der Herr General gleichfalls. Die Division ist inzwischen mit der Prüfung der Unterlagen fertig geworden und hat festgestellt, dass von den vierunddreißig Abschüssen im Bereich seit September vier auf unsere Rechnung kommen. Ruhe im Glied! Die vier Abschüsse sind uns zugesprochen worden. Wenn ihr Farbe habt, ihr Säcke, könnt ihr die Ringe an die Rohre pinseln." Die Unruhe war nicht mehr zu unterbinden. Kutschera stand einen Augenblick unschlüssig, dann schrie er: "Batterie... stillstann! Wir gedenken des Kameraden Zemtzki, der für Führer und Vaterland gefallen ist. Rührt euch!... Herhörn! Die Batterie hat in Hamburg schon mal schwere Verluste gehabt. Ein Toter ist nischt Neues! Der Zemtzki hat Mut gehabt, dafür hat ihm der Major das Ekazwoo verliehen. - Ruhe im Glied! Nun sag ich eins: Wenn das Gequatsche auf den Stuben nicht aufhört, von wegen dem Müo und so... Ich greif mir die Meuterer raus und sperr sie ein! Krieg ohne Tote, wo gibt´s denn so was!"

   Vier Abschüsse! Zemtzki war vergessen. Wolzow zeigte sich aufgekratzt. "Noch zwei Abschüsse, dann gibt´s das Flakschießabzeichen." Holt ging mit Gomulka den Lattenrost entlang, er fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. "Sepp! Die vier Abschüsse, das ist bloß das schlechte Gewissen vom Major!" - "Schau dich um", sagte Gomulka. "Gestern war alles deprimiert, und jetzt?"

   Im Unterricht saß Holt zerstreut und unaufmerksam auf seinem Schemel. Schließlich ging er in die Stube hinüber und warf sich auf sein Bett. Wenn ich falle, wird tags darauf kein Mensch mehr an mich denken.

   Gottesknecht riss die Tür auf. "Pfui! Sie schwänzen wieder!" sagte er. "Holen Sie den Gomulka raus!" Holt folgte. "Mitkommen! Sie beide haben den Zemtzki doch näher gekannt, helfen Sie mir mal, den Brief an seine Mutter zu schreiben." In der Schreibstube sagte er zu Holt: "Ãœbrigens hat eine Dame angerufen und gefragt, ob Ihnen was passiert ist. Hat sich rum gesprochen, dass wir Zunder bekommen haben. Ich hab gesagt, Sie sind wohlbehalten und der Ziesche auch."

   Sie war in Sorge um mich, dachte Holt freudig. Aber dann erschrak er: Und der Ziesche auch... Wusste Gottesknecht? Holt schielte zur Seite. Der Wachtmeister schrieb eifrig und unbeteiligt, und nur Gomulka zog ein merkwürdiges Gesicht.

   "Er war das einzige Kind", sagte Gomulka. Auf dem Schreibtisch lag das Eiserne Kreuz mit dem roten Ordensband. Zemtzki hat nichts mehr davon, dachte Holt. Wenn ich das EK hätte... Bei einem Luftwaffenhelfer würde es Aufsehen erregen!

   Gottesknecht las vor: "...in treuer Pflichterfüllung..."

   War es seine Pflicht, dachte Holt, in den Bombenregen hinauszulaufen? Was mochte in ihm vorgegangen sein? Ob er sich auszeichnen wollte?

   "Was schaun Sie denn so?" fragte Gottesknecht. "Die Sache mit dem Müo kann ich doch wirklich nicht schreiben!"

   "Die werden das bestimmt erfahren", meinte Holt.

   "Jetzt ist Schluss!" rief der Wachtmeister. "Die Ketzerei steht Ihnen ja an der Stirn geschrieben! Holt, in diesem Krieg sind schon Millionen umgekommen, Soldaten, Frauen und Kinder, das wissen Sie, und es hat Sie bis gestern nicht gestört."

   "Herr Wachtmeister", sagte Gomulka, "aber ich denke, es wäre..." - "Halten Sie den Mund!" fuhr ihn Gottesknecht an. "Meinen Sie, ich unterhalte mich hier in der Schreibstube mit Ihnen über den Dunst, der Ihnen gestern vom Gehirn weggepustet worden ist?"

   Holt sah Gottesknecht verständnislos an. Was soll denn das nun wieder bedeuten? Gottesknecht beugte sich über den Tisch. Er sagte leise: "Der Ziesche führt Tagebuch! Der Ziesche notiert jedes Wort, das ihr vor ihm sprecht! 'Wo hat G Punkt die exakte Zahl der feindlichen Bomberverluste her... Fragezeichen!' Rotwerden ist sinnlos, Gomulka! Air Marshall Harris´ Flugblatt an das deutsche Volk, was? Ich bitte mir aus, dass ihr in Zukunft den Mund haltet. Macht mir keinen Kummer, ich hab´s schwer genug, mich immer wieder zwischen euch und den Chef zu stellen. Habt ihr mich verstanden?"

   Sie antworteten beide nicht.

   Der Ziesche schreibt alles auf, dachte Holt erschrocken. Er überlegte fieberhaft, ob in seinen Gesprächen tatsächlich etwas zersetzend oder feindlich gewesen sei... Gomulka sagte fast unhörbar: "Ich versteh, Herr Wachtmeister." In diesem Augenblick trat die Nachrichtenhelferin in die Schreibstube. Gottesknecht sagte unbefangen: "Das genügt. Sie können wieder zum Unterricht gehn."

   Sie grüßten und verließen die Baracke. Holt war verwirrt. In diesem Krieg sind schon Millionen umgekommen... und es hat Sie bis heute nicht gestört... Sollte das ein Vorwurf sein? "Sepp, wie verstehst du das, was Gottesknecht gesagt hat? Was meint er mit 'Flugblatt an das deutsche Volk'?"

   "Mir ist das alles unklar", sagte Gomulka.

   "Früher hab ich gewusst, was los ist", sagte Holt. "Seit ich bei diesem Haufen bin, ist es, als würde mir langsam der Boden unter den Füßen weggezogen."

   "Früher hast du gewusst, was los ist?" fragte Gomulka. "Wirklich?"

   "Es ist... der innere Schweinehund", erwiderte Holt. "Wir müssen stur werden. Alle Soldaten sind stur!"

   Dieser Gedanke befriedigte ihn wenig. Schicksal, Gesetz des Handelns, fanatisch glauben, dachte er wieder; sind wir wirklich willenlos ausgeliefert, nur... Figuren im großen Spiel? Aber das Nachdenken und Grübeln, überlegte er, bringt nichts ein. Hart werden. Glauben. Sich fanatisch der Sache verschwören. Es geht nicht, dass mich ein paar Bomben aus dem Gleich-gewicht bringen!

   Was ist mit mir los? dachte er.

   Gottesknecht ließ ihn bis zum Abend in die Stadt, "zum Zahnarzt", wie der UvD ins Wachbuch schrieb. Holt setzte sich eine Viertelstunde in das Cafe in der Rotthausener Straße, wo die Urlauber aller Batterien mit Ihren Mädchen zusammen saßen, er traf ein paar Bekannte. Der Bombenangriff auf die 107. Batterie war allgemeines Gesprächsthema. Die abgemagerten, unausgeschlafenen Jungen mit den übernächtigen Augen schimpften auf den Major. "Er soll ja als erster flachgelegen haben!" Holt sagte aggressive "So geht´s ja auch nicht! Derartige Gerüchte sind Wehrkraftzersetzung!" Es waren Ziesches Worte. Holt ärgerte sich, ausgerechnet Ziesche nachgeäfft zu haben.

   Er versuchte, Frau Ziesche anzurufen, aber das Leitungsnetz war durch die letzten Bombenabwürfe gestört. Schließlich bekam er auf einem Postamt Verbindung. "Warum kommst du nicht her? Ich war in Sorge um dich!" Ihre Worte stimmten ihn froh. Aber als er mit ihr zusammen saß, als sie das Radio anstellte, brachte der Wehrmachtbericht Nachrichten, die niederschmetternd auf ihn wirkten. Schlacht in Süditalien, Großangriffe auf Valmontone... Sewastopol gefallen. "Nordamerikanische Jagdflugzeuge führten gestern Angriffe auf Ortschaften in Nord- und Mitteldeutschland... Verluste... Nächtliche Terrorangriffe auf Kiel und Dortmund... Orte im rheinisch-westfälischen Raum..." - "Das sind wir", sagte er, "die Bomber werden immer frecher."

   Frau Ziesche hörte die Berichte ungerührt an und fragte, warum er den Kopf hängen lasse, er sei ja heute unleidlich! Er versuchte, ihr sein Herz auszuschütten, und erzählte von Zemtzkis sinnlosem Tod. Aber auch sie sagte: "Nimm dich zusammen! Denk an die Ostkämpfer, dagegen bist du in der Sommerfrische bei deiner Batterie!" Als er sich missmutig verabschiedete, meinte sie versöhnlich: "Sieh zu, dass du dich mal richtig ausschläfst. Nimm doch nicht alles so tragisch!"

   Frühzeitig flogen zwei Mosquitos in sehr schnellem Flug von Norden her über den wolkenlosen Himmel, zehntausend Meter hoch, zwei winzige Pünktchen, die kurze Kondensstreifen hinter sich herzogen. Sie flogen drei oder vier weite Kreise über den umliegenden Ruhrstädten. Fern grollten die Abschüsse einer 12,8 Zentimeter-Batterie. Wolzow starrte zum Himmel und schimpfte: "Jetzt photographieren sie die ganze Gegend! Brauchen wir uns zu wundern, wenn die Bomber sich so gut zurechtfinden?" Die beiden Mosquitos flogen nach Norden ab.

   Etwa hundert Kriegsgefangene zogen in die Stellung, von einem halben Dutzend blutjunger SS-Leute bewacht. "Russen!" sagte Wolzow, als sie den Geschützstand verließen. "Was wollen die denn hier?"

   Der stereotype Kram lateinischer Grammatik, von dem Holt längst kein Wort mehr verstand, war heute so langweilig, dass Holt sich hinausstahl und sich in der Stube aufs Bett legte. Durch das Fenster sah er ein Dutzend der Gefangenen nahe der Baracke Bombentrichter zuschaufeln. Er brannte sich eine Zigarette an, ging ins Freie und sah ihnen zu.

   Die erdfarbenen Gestalten, die mühsam mit Schaufeln und Spaten die Erdschollen in den Krater warfen, erwiesen sich aus wenigen Metern Entfernung als kaum noch menschenähnliche, ausgemergelte und hohlwangige Wesen mit überdimensionalen Schädeln und eingefallenen Gesichtern, grau wie die Mäntel, die viel zu weit um die stakigen Körper schlotterten. Holt hielt die angerauchte Zigarette gedankenlos einem der Gefangenen hin, der sich erst nach allen Seiten umsah, auch zögernd seinen dunklen Blick auf Holt richtete, ehe er sie nahm, die Lunge voll Rauch sog und die Zigarette weiterreichte.

   Holt empfand einen schmerzhaften Druck in der Brust. Mitleid ist Schwäche! sagte er zu sich selbst, aber er fischte doch die angebrochene Zigarettenpackung aus der Tasche. Er wollte sie den Gefangenen hinwerfen, doch dann ging er die paar Schritte über den Acker und drückte die Schachtel in eine rauhe Hand. Als er vor dem Gefangenen stand, sah er mit Erschütterung, dass die Tierhaftigkeit aller dieser Gestalten nichts anderes war als das letzte Stadium eines unvorstellbaren körperlichen Verfalls. Er wollte in seiner Verwirrung auch noch die Streichholzschachtel wegschenken. Da sagte der Gefangene mühsam, als bereite das Sprechen ihm Schmerzen: "Brot!"

   Holt lief in die Stube zurück und riss seinen Spind auf. Sie hungern! dachte er. Im Essenfach lagen genug Lebensmittel. Butterkeks und Drops wurden seit Wochen täglich als Alarmzulage verteilt und häuften sich in den Spinden. Er verstaute alles in seinen Taschen und zog dann den Mantel über, denn offen durfte er die Lebensmittel nicht hinaustragen. Was er zu tun im Begriff war - darüber war Holt sich klar -‚ war verboten und galt als strafbar. Er zögerte und wurde unsicher. Dann schob er doch das Brot unter den Mantel und dachte: Mag es strafbar sein, mögen es ... Untermenschen sein, ich würde auch keinen Hund verhungern lassen! Dann fiel ihm ein, dass es zehn, zwölf Männer waren. Er riss auch Gomulkas Spind auf. Sepp würde es billigen, dessen war er sicher. Eine halbe Dauerwurst, Brot, ein Würfel Kunsthonig, reichlich Keks... Er raffte alles zusammen. Dann sah er die halbe Flasche Korn stehen, die Gomulka für seinen Geburtstag aufsparte. Er nahm die Flasche an sich.

   Ruhig verließ er die Stube, nicht gesonnen, sich erwischen zu lassen. Sorgsam sah er sich um. Außer den arbeitenden Gefangenen war niemand zu sehen. Wer weiß, wo sich der Posten herumdrückte! Die Fenster der großen Stube lagen auf der anderen Seite.

   Er lief über das Feld. Die Gefangenen rissen das Brot in Stücke und versteckten es unter ihren Kleidern. Sie arbeiteten weiter. Einer nach dem anderen kletterte auf den Grund des Bombentrichters hinab und trank aus der Kornflasche. Holt ging in die Stube zurück und legte sich auf sein Bett. Er versuchte zu schlafen.

   Später fing er Gomulka auf dem Korridor ab und zog ihn ins Freie. Gomulka blickte sich unwillkürlich um, als Holt erzählte. Dann sagte er: "Gut... Ich bin einverstanden." - "Ob es richtig ist?" fragte Holt. "Sie sind unsere Feinde." - "Sie haben nicht angefangen", sagte Gomulka.

   In der Stube saß Wolzow auf einem Hocker und schnippelte mit dem Fahrtenmesser am Nagel seiner großen Zehe herum. Vetter und Rutscher saßen auf ihren Betten. Ziesche redete mit Schwung und Enthusiasmus, und die anderen hörten heute tatsächlich zu.

   "Seht sie euch ruhig aus der Nähe an", sagte Ziesche, als Holt und Gomulka in die Stube traten. "Das ist sehr lehrreich. Klarer kann der Beweis, dass es sich um einen rassisch ganz minderwertigen Typ handelt..." - "Bei den Russen?" fragte Gomulka. - "Ja. Ihr braucht euch bloß mal die Gesichter anzusehen..."

   Gomulka unterbrach Ziesche schon wieder: "Die Russen sind als Slawen aber doch Arier", sagte er.

   "Wieso?" fragte Ziesche verblüfft. "Ach so! Arier?"

   "Ja, natürlich", sagte Gomulka. "Das musst du doch wissen!"

   "Sieh mal", erwiderte Ziesche, während er seine Gedanken ordnete. "Auch unter den arischen Rassen, verstehst du... Also die sind nicht einheitlich, nicht wahr! In Russland, also da liegt die Sache klar, da ist das Element der Organisation seit je germanisch und nicht slawisch gewesen. Unter allen Ariern stehen die Germanen weitaus am höchsten, weil sie die nordische Rasse am reinsten verkörpern." Erst jetzt merkte Holt, wie sehr Gomulka Ziesche aus dem Konzept gebracht hatte.

   "Das sollte dir eigentlich alles klar sein...", sagte Ziesche aggressiv, "aber du mit deinem slawischen Namen bist überhaupt lasch und angekränkelt..."

   Wolzow hatte bisher zugehört, den nackten Fuß im Schoß, den Dolch in der Hand. "Was soll denn das heißen? Du denkst wohl, du bist allein ein guter Nationalsozialist?" - "Dein Name ist auch nicht arischer!" sagte Holt.

   Vetter lachte meckernd. Ziesche lief puterrot an. Er wackelte mit dem Kopf. "Mein Name entstand durch Abschleifung aus einem rein germanischen! Aber auf den Namen kommt es nicht an, vielmehr..." - "Schon gut", sagte Gomulka. "Nur eins ist mir noch unklar: Selbst wenn die Slawen nicht so hochwertig sind wie die nordische Rasse, deswegen sind sie doch immer noch Arier! Kann man sie denn da als Untermenschen bezeichnen?"

   Ziesche fühlte wieder sicheren Boden unter den Füßen. "In der Vergangenheit hättest du mit deinem Einwand recht gehabt, früher, als in Russland noch die staatstragende germanische Oberschicht herrschte. Durch die Herrschaft des Bolschewismus ist das anders geworden. Der jüdische Bolschewismus hat die rassisch-völkische Grundlage der Slawen total zerstört. Natürlich ist der Bolschewismus reif zum Untergang, denn der Jude als Ferment der Dekomposition..."

   "Waaas?" machte Vetter.

   "Na ja, so sagt der Führer! Als zerstörerische Kraft... er kann das mächtige Reich nicht erhalten, und das Ende der Judenherrschaft wird zugleich auch das Ende Russlands als Staat sein. Der Führer hat ganz klar gesagt, dass wir vom Schicksal ausersehen sind, Zeugen einer Katastrophe zu werden..."

   Zeugen einer Katastrophe zu werden, wiederholte Holt in Gedanken, und dieser Satz hakte sich in seinem Gehirn fest.

   die die gewaltigste Bestätigung für die Richtigkeit der völkischen Rassentheorie ist."

   Gomulka sagte: "Na ja. Aber sieh dir mal die Frontlage im Osten an."

   Ziesche rief erregt: "Was da gegen unsere Front anrennt, das ist fanatisiertes Pack! Sie werfen die letzten Reserven in den Kampf, Greise und Kranke..." Wolzow schnürte sich den Schuh zu und begann zu schimpfen: "Jetzt werde ich dir mal was sagen, du abgeschliffener Germane! Die Wehrmacht lasse ich auf gar keinen Fall beleidigen! Willst du etwa sagen, dass unsere Divisionen von Greisen und Kranken geschlagen worden sind?"

   "Geschlagen...", protestierte Ziesche, aber Wolzow rief aufgebracht: "Natürlich, geschlagen! In Stalingrad vernichtet! Bei Radomysl und Brussilow geschlagen! Bei Kirowgrad vernichtet! Bei Schumsk und Ostropol geschlagen! Bei Kamenez und Skala vernichtet! Von Greisen, was, und Kranken, wie?"

   Holt, anfangs voller Schadenfreude, fühlte wieder eisige Beklommenheit. Ziesche raffte sich auf und schrie: "Die Ãœbermacht ist vorübergehend so groß, dass..."

   "Ãœbermacht!" höhnte Gomulka. "Wieviel Junge und Gesunde müssen die erst haben bei solcher Ãœbermacht an Greisen und Kranken!" Wolzow stieß das Fahrtenmesser in die Tischplatte: "Herrgott, Ziesche, bist du blöd!" rief er. "Das ist ja unbeschreiblich, wie saudumm, saudumm du bist! Da muss man ja Mitleid haben, so schrankenlos blöd wie du bist! So was will ein Nationalsozialist sein! Quatscht der Kerl von Zusammenbruch und letzten Reserven! Soll ich dir mal an der Karte zeigen, was sich diesen Winter an der Ostfront abgespielt hat?"

   Ziesche, nun ebenfalls wütend, rief : "So! So! So! Du meinst also... Du willst... Ich meine... Der Führer hat gesagt", schrie er, aber da schraken sie alle zusammen: die Glocke schrillte, die Spannung löste sich. Stahlheim, Gasmaske, dachte Holt, dann lief er mit den anderen zur Kanone.

10

   In den ersten Junitagen ließ die Aktivität der anglo-amerikanischen Luftwaffe über Nacht spürbar nach. Nur die nächtlichen Störflugzeuge, Verbände der schnellen Mosquitos, flogen weiterhin über die Grenzen, und am Tage kreisten die Aufklärer in großer Höhe über dem Land. Nach den ununterbrochenen Tages- und Nachtangriffen auf Städte und Einzelziele in den ersten Monaten des Jahres gab dieses Abflauen der Luftoffensive in den Stuben und an den Geschützen unermüdlich Gesprächsstoff. Wolzow brütete über der Karte und vermutete eine "neue Teufelei". Ziesche aber erklärte mit unverhohlenem Triumph: "Unsere verbissene Abwehr! Jetzt geht ihnen der Atem aus!"

   Gottesknecht, der nicht ohne Besorgnis die wachsende nervöse Zerrüttung bei den Jungen beobachtete, setzte es bei Kutschera durch, dass nachts erst bei Feuerbereitschaft geweckt wurde, wenn keine Kampfverbände gemeldet waren. So fanden die Jungen nun ein paar Nächte lang seit Monaten das erste Mal wieder reichlicher Schlaf. Sogleich ließ der ständige Streit nach, die Nervosität legte sich, und ein optimistischer Geist zog in die Batterie ein. Wolzow vertrug sich wieder mit Ziesche, und Kutschera brüllte nicht mehr durch die Batterie, raffte sich dann und wann sogar zu einem groben Witz auf und spielte während der Feuerbereitschaft mit Blitz, seinem Hund. Schmiedling wurde wieder redselig wie in der Ausbildungszeit und freute sich auf seinen Urlaub. Für Holts Wohlbefinden tat der Wehrmachtbericht ein Ãœbriges. Im Osten, so erklärte Wolzow an der Karte, stand die Front von Narwa bis zu den Karpaten der monatelange Rückzug hatte ein Ende gefunden. Vielleicht, so sagte Wolzow, seien die Russen nun doch am Ende ihrer Kraft! Er war sich mit Ziesche einig, dass der amerikanische Vormarsch in Italien demgegenüber gering wog, und auch der Fall Roms konnte den allgemeinen Optimismus kaum dämpfen. "Italien", erklärte Ziesche, "ist Nebenkriegsschauplatz. Die Entscheidung über das Schicksal des Reiches, das hat der Führer oft gering gesagt, fällt im Osten!"

   Wolzow, der tagaus, tagein über seinen strategischen Büchern saß und, von Ziesche dazu angeregt, nun auch "Mein Kampf" las, benutzte die Ruhepause, die Methode der Selbsterziehring gegen die Neuen anzuwenden. Das Opfer, das er aussuchte, hieß Voigt, Munitionskanonier an Geschütz Anton. "Dieser Voigt", erklärte Wolzow, "ist der einzige von den Neuen, der sich nicht freiwillig zur Wehrmacht gemeldet hat. Dem werde Ich kriegerische Tugend beibringen." Holt und Gomulka machen nicht mit. So zog Wolzow mit dem verwilderten Vetter eines Nachts zur Baracke Anton, wo Voigt mit dreiundzwanzig anderen Luftwaffenhelfern in der großen Stube schlief. Eine solche Ãœbermacht hätte sich erfolgreich zur Wehr setzen können, aber man ließ Voigt im Stich und schaute zu, wie Wolzow in die Stube einbrach. Voigt machte Anstalten, sich zu verteidigen, aber er wurde aus der Baracke geschleppt und kopfüber ins Löschwasserfass gesteckt. In der nächsten Nacht goss ihm Wolzow einen Eimer brackigen Löschwassers ins Bett. Dann erfuhr Gottesknecht von der Sache und verbot Wolzow jede weitere Misshandlung bei Strafe.

   An einem klaren, heißen Junitag langweilte sich Holts Klasse im Geschichtsunterricht. Holt blickte sehnsüchtig durch das weitgeöffnete Barackenfenster. Jetzt am Fluss in der Sonne liegen! träumte er. Die Klasse döste vor sich hin. Nur Wolzow, wie immer im Geschichtsunterricht, war bei der Sache und erklärte die Schlacht bei Cannae. Da schrillte die Alarmglocke. Mit nackten Oberkörpern nahm man an der Kanone ein Sonnenbad. Die Luftlagemeldungen sprachen von einzelnen Aufklärern. Auf der Befehlsstelle erhob sich das übliche Geschrei: "Motorengeräusch Richtung neun!" Kutschera nahte mit seinem Hund. Die Geschütze schwenkten die Rohre nach Westen. "Flugzeug neun!" schrie der Flugmelder am Flakfernrohr. Der Hauptmann brüllte vom Acker her: "Frage Typ!" Es war eine Lockheed P 38 F Lightning, die in zehntausend Meter Höhe über den Himmel jagte.

   Holt blickte in das strahlende, blendende Blau, wo die unsichtbare Maschine einen kurzen Kondensstreifen hinter sich her zog. Wolzow beschattete mit dem Ladehandschuh das Ge-sicht und setzte sich dann verärgert auf einen Holm, denn an Schießen war nicht zu denken. Dennoch gab das Kommandohilfsgerät Richtwerte durch, Seiten- und Höhenrichtkanonier meldeten eingestellt. Aber die Zünderwerte blieben weit über Bereich. Der Kondensstreifen verwehte in der Ferne. Auf der B 2 erhob sich von neuem Unruhe.

   Die Richtleute am Entfernungsmesser, Ebert und Nadler, hatten die Maschine im Gesichtsfeld behalten und sahen sie nach Osten abfliegen. Als Dusenböker, der Entfernungsmesser, den Blick von der vierundzwanzigfachen Messoptik löste, wurde als winziges Pünktchen eine zweite Maschine im Sehfeld erkennbar.

   "Herr Wachtmeister", rief Nadler, "da ist... die Lightning stürzt ab!" brüllte er. Dusenböker presste wieder die Augen an die Okulare. "Quatsch", sagte Kutschera. Dusenböker bestätigte: "Es stimmt..." Es war eine Sensation. Kutschera stieß Nadler beiseite und beugte sich über die Gläser, rieb sich die Augen und sagte: "Ihr Heinis, den Tropenkoller habt ihr!" Auf der Befehlsstelle trat wieder Ruhe ein.

   "Eine Lightning in zehntausend Meter Höhe abschießen, wer soll denn das gewesen sein?" fragte Wolzow. Der vorsichtige Gottesknecht ließ bei der Untergruppe anfragen, aber auch dort wusste man nichts.

   Die Feuerbereitschaft wurde aufgehoben. Kutschera, wie immer, wenn er nicht zum Schießen gekommen war, fing auf der B 2 zu schimpfen an: Die Disziplin sei lasch, die Flugmelder pennten, dieser Nadler fresse Bonbons im Dienst! Schon wurden die ersten Luftwaffenhelfer zehn Runden um die B 2 gejagt. "Und den Brüdern an den Kanonen, denen werd ich. . ." Aber da rief, da kreischte der Flugmelder am Flakfernrohr: "Flugzeug drei!!" Dann deutete er nach oben. "Dort!" Kein Motorengeräusch war zu hören. Alles starrte verblüfft zum Himmel. Kutschera rief: "Frage Typ!!" Endlich schwenkten Entfernungsmesser und Kommandohilfsgerät herum. "Frage Typ!" brüllte Kutschera. Der Flugmelder antwortete nicht. Die Geräteführer meldeten: "Ziel aufgefasst!" Kutschera brüllte außer sich: "Frage Typ, Mensch, wird´s bald!" Dusenböker hob den Blick von der Messoptik. "Keine Ahnung, Herr Hauptmann!" Der Flugmelder stammelte: "Das... ich..." Dann fing er an: "Grobansprache Eindecker, ohne Motor, ohne Höhenleitwerk, ohne Fahrwerk..." - "Sind Sie besoffen?" dröhnte Kutschera. "Ja, seid ihr denn alle schwachsinnig!" Gottesknecht hielt ihm das Glas hin. "Die Maschine ist unbekannt." -"Also dann", schrie Kutschera, "Feuer frei!" Ein kleines, silberglänzendes Flugzeug zog am Himmel lautlose Kreise.

   "Fliegeralarm... Flugzeug sechs!" gellte es an den Geschützen, "Schießen mit Kommandohilfsgerät!... Gruppenfeuer!" und: Gruppe!" Die Abschüsse schmetterten, Rauch wehte über die B 2 hinweg. Aus dem Keller brüllte jemand: "Feuerverbot von der Untergruppe! Jäger am Feind!" - "Wo gibt´s denn so was!" rief Kutschera, während am Himmel dumpf die Granaten detonierten. Da schrie Dusenböker: "Herr Hauptmann, die Maschine hat deutsche Hoheitsabzeichen!"

   Es gab niemanden in der Batterie, der jetzt nicht zum Himmel emporblickte, auf das Flugzeug, dessen Lautlosigkeit unheimlich wirkte. "Noch eine Gruppe", sagte Wolzow, "und er wär runtergekommen!" Die Maschine, nach einer letzten Schleife, glitt nach Süden davon.

   "Das ist der Jäger, der die Lightning abgeschossen hat!" Ziesche sprach als erster von einer "neuen Waffe". Am Nachmittag rannte Wolzow von der Schreibstube zur Baracke und zog sich rasch die Ausgehuniform an. Ein Telefonanruf hatte die Flugmelder und Geräteführer aller Batterien zur Untergruppe befohlen. Wolzow lief natürlich mit. In einer Wolke von Bierdunst kehrte er am Abend in die Stube zurück.

   Man schlief schon. "Los, raustreten, ihr Penner!" Er saß auf dem Tisch und berichtete: "Wir waren auf dem Fliegerhorst. Dann sind wir alle noch ins Cafe Italia, und die Olle hat ein Fass Starkbier angestochen, abgesteckt, angesteckt mein ich." - "Was ist mit der Maschine?" rief Holt. - "Tolle Sache." Es handle sich um ein neues Jagdflugzeug. "Raketenjäger!" sagte Wolzow. "Heißt Me 163. Soll phantastisch schnell sein, über tausend Stundenkilometer..." Seine Worte gingen in Geschrei unter. "Ruhe!" Der Jäger habe westlich Dortmund tatsächlich die Lightning abgeschossen. "Der Raketensatz brennt bloß kurze Zeit, dann muss die Maschine irgendwo bauchlanden. Der Pilot hat ganz schön geflucht. Hatte nicht mal Erkennungszeichen mit. Es sollen noch andere neue Typen in Erprobung sein. Me 262, das ist ein Strahlflugzeug, wie das funktioniert, das weiß keiner."

   Die Wende des Luftkrieges! dachte Holt. Im Einschlafen sah er Schwärme der neuen Jäger die Bomber hinwegfegen Und ich, dachte er, war oft so wankelmütig und schwach...

   Im Cafe Italia saßen am nächsten Tag Luftwaffenhelfer aller Batterien. Das gestrige Ereignis entzündete die Phantasie. Man erzählte unglaubliche Geschichten und sagte den neuen Maschinen die Vernichtung ganzer Bomberverbände nach. Das unvermittelte Ende der Luftoffensive wurde den neuen Jägern zugeschrieben.

   Holt hockte in einem angenehmen Zustand von Schläfrigkeit auf dem alten Plüschsofa und ließ sich von den Mädchen etwas über einen Sanitätseinsatz erzählen, auf den sie sich vorbereiteten. Er hörte nicht zu und überlegte, ob um diese Zeit Frau Ziesche daheim erreichbar sei. Er ließ die Mädchen sitzen und lief durch die zerstörten Straßen. Aus den Krupp-Werken ergoss sich zum Schichtwechsel ein Strom von Menschen. Die Fabriken sind nicht totzukriegen, dachte er.

   Frau Ziesche zeigte sich über seinen Besuch erfreut und hörte sich geduldig den Bericht über das rätselhafte Flugzeug an. "Rom hat dein Raketenjäger jedenfalls nicht gerettet", sagte sie, und er ärgerte sich. Sie gingen zusammen ins Kino. Der uralte Kriminalstreifen beeindruckte Holt wenig, aber die Aufnahmen der Wochenschau verfolgte er mit Interesse. Da waren Panzer zu sehen, die sich mit Sturmgeschützen herumschlugen.

   Draußen empfing sie ein klarer und milder Sommerabend. Der böige Wind milderte die Hitze. Sie gingen langsam durch die Straßen einer Villenvorstadt. Nirgendwo Grün, nur Staub und Ruß, die Luft verraucht und unrein... Holt erinnerte sich an die uferlosen Wälder, an Berge und Steinbruch. "Wenn man verreisen könnte, jetzt im Sommer", sagte er.

   Sie sah ihn prüfend von der Seite an, dann lief sie eine Weile wortlos neben ihm her. "Du warst in der letzten Zeit oft patzig und ungezogen." - "Du musst das verstehen", erwiderte Holt. "Im April, im Mai, es war fast zuviel... Die Nerven... Außerdem..." - "Außerdem?" - "Ich war in einer verdammten Krise", sagte Holt. "Jetzt, wo es hinter mir liegt, seh ich erst, wie zerrüttet ich war. Ich hatte Zweifel an allem. Am Endsieg, an mir selbst. Ja, ich hab..." Sie stieß ihn, da er innehielt, ermunternd mit dem Ellenbogen an. "Ich hab nicht mehr gewusst, ob ich dich... mag."

   Sie lachte klingend und drückte seinen Arm. "Auf den Scheiterhaufen mit dem Ketzer!" Er fragte: "Bist du mir böse?" - "Schrecklich!" sagte sie. "Du wirst feierlich abschwören müssen!"

   Die Straßenzüge ringsum lagen in Schutt. Ãœber den Ruinen, über sattem Unkraut stand friedlich der Abend. "Es ist heute wie am Anfang, als ich dich kennenlernte", sagte Holt. "Was hast du eigentlich gedacht, damals auf der Straße?"

   "So fragt man nicht", antwortete sie. "Du wirst es nie lernen! Man zwingt eine Frau nicht, über etwas nachzudenken, das besser ungedacht und unklar bleibt. Frauen wollen nicht nachdenken über ihr Gefühl." - "Warum nicht?" Sie sagte nachdenklich: "Warum soll ich mir meiner Schwäche bewusst werden? Aber du verstehst das nicht. Bei euch ist das anders. Ein Mann fühlt sich bestätigt in Eitelkeit und Herrschsucht..." Er verstand sie nur halb. "Ich hab mich wie ein Sklave gefühlt, damals." - "Mit den Jahren gibt sich das hoffentlich", sagte sie lachend. "Die Frau will ja auch ein bisschen Furcht haben vor dem Mann, sonst wird es langweilig."

   "Wie konnte ich damals ahnen", sagte er unwillig, "dass du..." - "Sprich es nur ruhig aus", erwiderte sie. "Dass ich als verheiratete Frau, und so weiter, das meinst du doch? Es ist eben deine Unerfahrenheit. Sonst hättest du gewusst, dass verheiratete Frauen am leichtesten zu erobern sind." Sie setzte, in einem Tonfall von Trotz, hinzu: "Jede verheiratete Frau ist zu haben. Jede! Der Mann muss die Frau nur fühlen lassen, dass Widerstand nutzlos ist."

   Das Gespräch behagte ihm nicht, es erinnerte ihn an all das Zweifelhafte, Anrüchige in seiner Beziehung zu ihr. Er sagte ablenkend: "Und doch glaube ich, du würdest es mir sehr übel nehmen, wenn ich einmal den Kopf gegen dich durchsetzen wollte!" - "Weil dein Trotz immer den gleichen dummen Grund hat!" rief sie aufgebracht.

   "Verstehst du das nicht?" fragte er. "Kannst du nicht einsehen, wie schwer es für mich ist, in deinem Leben nur... eine Randfigur zu sein!"

   "Du bist dumm! Du bist auf ein Stück Papier eifersüchtig. Du wirst nächstens noch meinen Hauswirt hassen, an den bindet mich nämlich auch ein formeller Vertrag! Wenn du großes Kind ein wenig erfahrener wärst", rief sie, "dann würdest du einsehen, dass höchstens er Grund hätte..." Sie schwieg unvermittelt. "Ich hab schon viel zuviel gesagt!" Sie ging rascher. "Vielleicht lassen sie uns heute einmal zufrieden!"

   Tatsächlich verging die Nacht ohne Fliegeralarm. Am frühen Morgen schlief Holt fest und traumlos. Da weckte Frau Ziesche ihn unsanft. Er hatte so gründlich Batterie, Krieg und Kanone vergessen, dass ihn das Wachwerden wie eine Enttäuschung überkam. "Hör zu!" rief Frau Ziesche, die Hand am Lautstärkeregler des kleinen Radios, das auf ihrem Nachttisch stand.

   Holt blinzelte. Aus dem Radio drangen Worte. "... hat der Feind seinen seit langem vorbereiteten und von uns erwarteten Angriff auf Westeuropa begonnen... - zu ihrem blutigen Opfergang auf Befehl Moskaus angetreten... gelang dem Feind, von See her an mehreren Stellen. -. im Gebiet der Seine-Bucht starke Luftlandeverbände... Treffer auf Schlachtschiffseinheiten... Kampf gegen die Invasionstruppen ist in vollem Gange..." Sie schaltete ab und schüttelte ihn: "Wach endlich auf!" Dann sagte sie: "Da hast du´s!" Er zog sich fröstelnd die Steppdecke bis unter das Kinn. "Es wird ein neues Dieppe geben!" Nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. "Jetzt versteh ich! Deshalb haben uns die Bomber in Ruhe gelassen!"

   Frau Ziesche schob ihm eine angebrannte Zigarette zwischen die Lippen. "Nun ist es doch ein Zweifrontenkrieg!" Er rang noch mit der Enttäuschung, aber er sagte: "Sei nicht so pessimistisch!" Frau Ziesche folgte ihm ins Bad. Er rasierte sich. Sie steckte sich mit nackten Armen die Haare hoch und fragte: "Du willst in die Batterie?" - "Da gehör ich jetzt wohl hin", antwortete er.

   Günter Ziesche stand vor der Baracke, von ein paar der Neuen aus Schlesien umgeben. "Nun können wir endlich auch die amerikanischen Truppen vernichtende Schläge fühlen lassen!" Vetter steckte den Kopf mit verwildertem Haar aus dem Fenster und spottete: "Pass auf, dass die Bomber dich nicht mal vernichtende Schläge auf den Gehirnkasten fühlen lassen!" Während des Unterrichts stand Wolzow in der Stube über seinen Landkarten. Wenige Tage später beugte er sich noch tiefer, noch nachdenklicher über den Tisch. "Die Russen greifen die karelische Landenge an!" Ziesche erklärte: "Dieser russische Angriff in Karelien ist nichts als ein Schwächezeichen" - "In der Normandie", fuhr Wolzow fort, "haben sich gestern die beiden Landeköpfe vereinigt!" - "Um so besser!" rief Ziesche. "Da können wir sie in einem Ansturm ins Meer werfen!" Der Sprecher, in Ziesches kleinem Radio, sagte: "Der Sturm hat begonnen. Die Brust hebt sich im Vorgefühl wahrhaft entscheidender Stunde." Wolzow, über seiner Karte, kratzte sich lange den Kopf.

   Zum Nachmittagsappell ließ sich wieder einmal Kutschera sehen. "Herhörn! Ich hab eine Nachricht, wird heut durch den Rundfunk kommen, ´s geht los! Die Stunde der Vergeltung ist da! Ruhe im Glied! Seit heute morgen liegt London unter dem pausenlosen Feuer neuartiger deutscher Sprengkörper schwersten Kalibers." Nach einigen Tagen wurden Einzelheiten bekannt, und der Name: "V 1".

   Holt registrierte Hochgefühl und Niedergeschlagenheit in jähem Wechsel, ein Auf und Ab seiner Stimmung, das ihn erschreckte. Die Nachrichten vom Einsatz der neuartigen Sprengkörper machten die niederdrückenden Meldungen aus Frankreich vergessen. Als Rundfunk und Zeitungen sich in optimistischen Meldungen überschlugen, war Gomulka der einzige, der darüber die Hiobsbotschaft zur Kenntnis nahm: "Die Amerikaner sind aus dem Landekopf Cotentin herausgestoßen." Tags darauf wurde der Fall von St. Sauveur gemeldet.

   Mit voller Wucht setzten nun wieder die britischen und amerikanischen Luftangriffe ein. Rasch hintereinander flogen die Amerikaner Tagesangriffe auf verschiedene Industriewerke der engeren Umgebung, die Briten Nachtangriffe auf Oberhausen, Duisburg und Gelsenkirchen. Eines Nachts wurden die Gelsenkirchener Hydrierwerke getroffen und brannten tagelang. Schießen und Munitionsschleppen füllte im alten Rhythmus das Leben der Jungen aus. Die Luftlagemeldungen berichteten nun immer häufiger von lebhafter Feindtätigkeit in weit östlich liegenden Räumen. Die Zahl der Einflüge und der eingesetzten Maschinen nahm zu. Die Luftkämpfe am Tag ließen langsam nach, die Stunde kam, da Wolzow sagte: "Sie haben die Luftherrschaft über dem Reichsgebiet!" Eines Nachts schossen sie mehr als hundert Gruppen; anschließend schleppten sie Munition, bis sie vor Erschöpfung taumelten. Da war es Gomulka, der in einem Koller von Wut Ziesche anschrie: "Ich denke, durch 'unsere verbissene Abwehr' haben die Bomber den Atem verloren, was?"

   Optimismus und Begeisterung gehörten vollends der Vergangenheit an, als eine Nachricht, erst als Gerücht durchgesickert, dann bestätigt, die Jungen in Furcht versetzte: Nördlich Recklinghausen, auch bei Duisburg und Dortmund waren Flakbatterien bombardiert worden. Pfadfinder hatten am helllichten Tage das Batteriegelände mit Rauchzeichen abgesteckt und die Bomber in mehreren Wellen ihre Last auf die Kanonen geschüttet.

   "Wir kommen auch dran!" sagte Gomulka. Holt hatte Angst. Die Alarmglocke jagte ihm einen Schauer der Furcht über den Rücken. Erst wenn die Kanonen losdonnerten, wurde er ruhiger. Ich muss die Angst unterkriegen, ich muss! Nach einiger Zeit sagte er sich: Ich werde nicht schlimmer versagen als alle anderen. Auch die anderen haben Angst.

   Ziesche hörte dreimal wöchentlich die Kommentare Hans Fritzsches und versuchte anschließend, die Jungen mit neuen Argumenten von besserer Führung und kommender Stunde aufzupulvern. Wolzow stand unterdessen nachdenklich über der Karte. "Großoffensive im Osten", sagte er. "Männer, da ist was los!" Seine Gelassenheit wurde Holt unheimlich.

   Ziesche hatte Ausgang, Rutscher und Vetter spielten mit Kirsch in der Kantine Skat. Wolzow holte seine Landkarten aus dem Spind. Holt sprang in einem plötzlichen Entschluss vom Bett und fragte mit gespielter Gleichgültigkeit: "Was gibt´s Neues?" Gleich war auch Gomulka da.

   "Es sieht ernst aus!" sagte Wolzow. "Die Halbinsel Cotentin ist in amerikanischen Händen." Er faltete die Karte von Frankreich auseinander. Holt verfolgte die Zirkelspitze, mit der Wolzow nun auf Cherbourg tippte, und sagte erleichtert: "Das ist die Halbinsel Cotentin? Aber das ist ja nur ein ganz kleines Stück von Frankreich!"

   "Es ist immerhin ein strategischer Raum", erklärte Wolzow. "Jetzt können sie sich einen großzügigen Aufmarsch leisten. Doch das alles ist noch recht harmlos, wenn man´s mit der Ostfront vergleicht."

   "Sieht´s dort so böse aus?" fragte Holt bedrückt.

   Wolzow schnob durch die Nase. Er legte die Karte von Osteuropa auf den Tisch. Da öffnete sich die Tür. Gottesknecht trat ein. "Weitermachen!" Er sah sich prüfend in der Stube um. "Die Herren bei der Lagebesprechung, wenn ich mich nicht irre? Na, Wolzow, auf Ihre Lagebeurteilung bin ich gespannt! Schießen Sie los."

   Wolzow schaute Gottesknecht mit schräggelegtem Kopf an, als wolle er sagen: Du hast mir gerade noch gefehlt! Dann meinte er zögernd: "Aber ich muss mir das alles rekonstruieren, das ist gar nicht so einfach." - "Rekonstruieren? Wie meinen Sie das?" -"Na, eben zusammenbasteln. Der Wehrmachtsbericht gibt ja keinen Ãœberblick. Da wird hier mal ´n örtlicher Einbruch, dort eine Absetzbewegung gemeldet und ab und zu ein paar Ortsnamen. Bloß die Kommentare im 'Völkischen' verraten was davon, wie´s wirklich aussieht, da muss man sich ein Bild von den Geschehnissen zusammenstückeln."

   "Also stückeln Sie", sagte Gottesknecht. "Lassen Sie hören! Aber wenn Sie Unsinn reden, gibt´s Mangelhaft!"

   "Bis zum 20. Juni", begann Wolzow, "stand die deutsche Front etwa folgendermaßen: von der Schwarzmeerküste westlich Odessa über Jassy zu den Karpaten, nach Norden über Brody bis zum Pripjet. Dort schloss sich der Mittelabschnitt als ein dicker Bogen an, der etwa dreihundert Kilometer nach Osten verlief, den Pripjet entlang, dann nordöstlich bis Rogatschow und Shlobin, nun im Bogen über den Dnepr nach Norden und zurück aufs westliche Dneprufer, um Witebsk vorgebuchtet, dann ein Stück zurück nach Westen bis Polozk. Dort schloss sich der Nordabschnitt an, dessen Front steil nach Norden bis zum Peipus-See und weiter bis Narwa führte." Er zeigte den Frontverlauf auf der Karte. "Wenn ich mir diesen Frontbogen angeschaut habe, ist mir ganz komisch geworden, weil man ja in jedem Lehrbuch der Strategie und Taktik nachlesen kann, dass solche Frontbögen fast immer ins Auge gehn, siehe Stalingrad! Die riesige Südflanke im Mittelabschnitt, hier, wo sie von Westen dreihundert Kilometer lang nach Osten läuft, ist zwar durch die Pripjet-Sümpfe gedeckt, wo im Sommer kein Mensch Krieg führen kann. Trotzdem ist dieser Bogen mit seiner riesenlangen Front ein weiches Ei, wenn ich mal so sagen darf."

   "Sie dürfen."

   "Tatsächlich haben die Russen nun diesen Frontbogen angegriffen, an vier Stellen, zwischen dem einundzwanzigsten und dreiundzwanzigsten, hier, beiderseits Witebsk, dann hier bei Orscha, bei Mogilew und schließlich beiderseits Bobruisk. Der Wehrmachtbericht sprach schon nach dem ersten Angriffstag von 'örtlichen Einbrüchen', die 'abgeriegelt' worden wären. Das hat wohl nur bis zum nächsten Morgen gestimmt. Nehmen wir als Beispiel die beiden Einbrüche nördlich und südlich Witebsk: am einundzwanzigsten begann dort der Angriff, spätestens am dreiundzwanzigsten waren die Russen an beiden Stellen durch die deutsche Front gebrochen und am vierundzwanzigsten müssen sich beide Stoßkeile vereinigt haben. Dass Witebsk trotzdem noch tagelang im Wehrmachtbericht genannt wurde, der übliche Kram mit schweren Abwehrkämpfen und so, das beweist, dass... " Wolzow zögerte.

   "Na, was denn?" fragte Gottesknecht.

   "Herr Wachtmeister, wenn die Russen schon im Vormarsch weit nach Westen sind und östlich davon im Raum Witebsk schwere Kämpfe gemeldet werden, dann nenne ich das einen Kessel."

   Schweigen. Gottesknecht riss ein Streichholz an und rauchte.

   "Die Falle um Witebsk ist zu", fuhr Wolzow fort. "Die Russen stoßen so rasch nach Westen vor, dass mir ganz mulmig ist! Dasselbe muss sich im Angriffsraum Orsdia-Mogilew abgespielt haben: es hieß 'örtliche Einbrüche', einen Tag später fallen Namen von Orten, die viel weiter westlich liegen. Am schlimmsten aber sieht es hier aus: der Stoß auf Bobruisk muss mit unheimlicher Wucht geführt worden sein. Ich hab besonders aufgepasst, wann die Russen nördlich Bobruisk den Dnepr erreicht haben. Es klingt wie ein Witz, Herr Wachtmeister, aber die Russen müssen tatsächlich gleichzeitig mit unseren Divisionen über den Fluss gegangen sein! Jedenfalls gibt es zur Zeit zwischen Mogilew und Beresino Abwehrkämpfe, während im Raum Mogilew, Orscha und Bobruisk noch gekämpft wird; dort scheint der größte Kessel entstanden zu sein." Wolzow legte den Zirkel hin und stützte beide Hände auf den Tisch. "Orscha ist gefallen, Mogilew und Bobruisk sind abgeschnitten. In dem tiefen Raum zwischen dem Dnepr und der Beresina operieren die Russen. Sie müssen jeden Tag die Beresina erreichen. Offenbar haben sie Bewegungsfreiheit, während im Norden die Front von Narwa bis Polozk frei in der Luft hängt, mit offener Südflanke. Die nördlich Witebsk durchgebrochenen Keile brauchen nur nach Norden einzudrehen, um Polozk zu umgehen, wenn sie nicht etwas anderes im Schilde führen, nämlich in einer weiten Umfassungsbewegung den ganzen Mittelabschnitt bis Minsk einzuschnüren und dabei möglichst rasch zur ostpreußischen Grenze durchzustoßen."

   Gottesknecht war sehr ernst, als er fragte: "Und was ist da zu tun?"

   Wolzow begann zu grinsen. "Eine Prüfungsfrage für´n Generalstäbler ist das, Herr Wachtmeister! Nach den klassischen Regeln der Kriegskunst gilt noch immer der Satz, unter allen Umständen eine Umklammerung durch den Feind zu vermeiden. Ich würde versuchen, auf der Linie Minsk-Sluzk eine neue Front aufzubauen."

   Gottesknecht betrachtete lange die Karte; dann sagte er, ohne den Blick zu heben: "Da käm Ihre neue Front aber schon verdammt nahe an Ostpreußen heran!"

   Wolzow hob die Schultern. "Vor der Linie Dünaburg-Minsk-Sluzk, da geh ich jede Wette ein, bringt die Russen kein Mensch mehr zum Stehen!"

   Gottesknecht setzte seine Mütze auf, rückte sie umständlich zurecht und sah Wolzow mit einem dunklen Blick an. "Sie haben doch Vertrauen zur Führung, Wolzow?" fragte er.

   "Jawohl, Herr Wachtmeister!"

   Gottesknecht klopfte mit dem Knöchel hart auf den Tisch. "Ich würde nicht gar zu oft solche 'Lagebesprechungen' abhalten! Ich empfehle Ihnen dringend, in unerschütterlichem Vertrauen auf unseren Führer zu blicken, besonders immer dann, wenn Ziesche im Zimmer ist. Haben Sie mich verstanden?"

   "Jawohl, Herr Wachtmeister!"

   "Großartig! Na, Holt, und Sie? Was hocken Sie denn auf einmal so traurig in der Ecke?" Er wandte sich an Wolzow. "Sehen Sie sich mal Ihren Freund an! Ich bin ja Psychologe genug, um zu wissen, dass der Holt voller Zuversicht auf den Endsieg baut, und wenn er jetzt so niedergeschmettert in der Ecke sitzt, dann bloß, weil ihm wieder mal irgendeine Weibergeschichte über den Kopf wächst. Aber der Ziesche, oder so einer, der könnte jetzt auf Holt zeigen und sagen: Der Wolzow hat ihn moralisch fertiggemacht mit seiner defätistischen Einschätzung der Lage! Er könnte zum Chef laufen und eine bildschöne Meldung machen: Der Wolzow zersetzt die Wehrkraft seiner Kameraden! Und wie das weitergeht, so mit Tatbericht und allem Komfort, das ist Ihnen ja bekannt. Sehen Sie, und wir wollen doch unter allen Umständen vermeiden, dass so was passiert, nicht?"

   "Jawohl, Herr Wachtmeister!"

   "Na also. Und Sie, Holt, Sie ziehn ein anderes Gesicht, aber sofort! Sie sind überhaupt ein ganz wankelmütiger Mensch! Kaum hat Ihnen die V 1 ein bisschen die Moral aufgemöbelt, da genügt ein Blick auf die Karte, und Sie kippen aus den Pantinen. Schlecht, Holt! Nehmen Sie sich ein Beispiel an Wolzow, der hat eine geradezu napoleonische Gelassenheit... Gesundheitlich geht´s Ihnen doch gut, Holt?"

   "Jawohl", sagte Holt, der sich verhöhnt und elend fühlte.

   "Das ist immer noch die Hauptsache. Also...", er wandte sich zur Tür, "dann haut euch mal bald aufs Ohr, Jungs, wer weiß, ob ihr heut Nacht zum Schlafen kommt. Gute Nacht!"

   "Gute Nacht, Herr Wachtmeister!"

   Wolzow faltete wortlos die Karte zusammen. Gomulka trat ans Fenster und blickte in den späten Sommerabend hinaus. Holt sagte: "Wirklich ein Original, dieser Gottesknecht, nicht?" Es klang verkrampft. Er sagte leise und schnell: "Gilbert, auf Ehre und Gewissen: täuschst du dich auch nicht? Ist es wirklich so, wie du sagst?"

   Wolzow antwortete: "Ich kann mich täuschen. Es kann noch viel interessanter sein, denn ich hab keine Ahnung, wieviel Divisionen in den Kesseln stecken und was weiter westlich an Reserven zur Verfügung steht."

   "Aber da versteh ich nicht, wie du so gleichgültig darüber reden kannst! Mein Gott, was soll denn werden? Es geht doch um Deutschland! Bewegt dich das gar nicht?"

   "Mich?" sagte Wolzow erstaunt. "Aber man muss das doch auseinander halten, ob man selbst im Schlamassel drinsteckt, oder ob man die Lage allgemein beurteilt. Hier, an der Karte, da ist das wie beim Schach, wo man sich als fairer Spieler über jede schöne Kombination des Gegners freut. Außerdem nützt das doch nichts, wenn man den Kopf hängen lässt!"

   "Ich kann das nicht. Ich muss immer denken: Und wie geht das weiter?"

   "Woher soll ich das wissen? Der Führer wird sich schon was einfallen lassen! Das ist ja schließlich nicht der erste Krieg, wo´s mal Rückschläge gibt und doch noch gut endet. Hannibal stand nach der Schlacht bei Cannae vor dem schutzlosen Rom, da hätte keiner mehr einen Groschen fürs Römische Reich gegeben, und dann kam´s doch anders! Oder die Goten, die sind unter Totila nach Byzanz gerückt, und kein Mensch hätte sie aufhalten können, und doch hat Narses noch den Krieg gewonnen." Er zählte weitere historische Beispiele auf. "Friedrich nach Kunersdorf... Das Marnewunder 1914, da haben die Franzosen genauso dagesessen wie heute wir und haben gedacht: die Lage ist mies!"

   Die Analogien verfehlten nicht ihre Wirkung. Holt schämte sich: Ich bin wankelmütig und schwach. Nichts ist verloren, wenn ein jeder an seinem Posten ausharrt!

11

   Es war ein Sonntag im Juli, das schöne Wetter hielt an. Der Tag war tropisch heiß. Dunst verschleierte den Himmel. Ãœber den Werken ringsum lagerte der Rauch der Schlote in grauen Bänken.

   Schmiedling lehnte an der Bunkerwand und erzählte, was er sich für den Urlaub alles vorgenommen habe. Ziesche horchte in den Kopfhörer und verfärbte sich. "Mehrere starke Jagdverbände über Holland! Mit Tiefangriffen muss gerechnet werden." Tiefangriffe? dachte Holt verwundert. Warum nicht gar!

   Wolzow nahm die Warnung ernst. Er schnauzte: "Seit Ostern gibt´s überall Tiefangriffe! Sepp, Werner, hängt euch an die Leitung! Nahfeuerpatronen!" - "Nahfeuer?" sagte Vetter erstaunt. "Mach bloß keine Witze!"

   Ein paar Minuten verstrichen. Auf der B 2 schrie eine Stimme: "Motorengeräusch Richtung neun!" Und schon: "Verband in neun!" Fern, aber nicht allzu hoch, zog ein Schwarm einmotoriger Flugzeuge vorüber. Wolzow streifte die Feldbluse über den nackten Oberkörper. Das Motorengeräusch schwoll auf einmal mächtig an. Ziesche schrie mit einer Stimme, die sich überschlug: "Tiefflieger Richtung neun!" Holts Herzschlag setzte aus. Unwillkürlich riss er das Geschütz nach Westen herum. Eine Woge von Lärm spülte heran. Zwölf Mustang-Jäger rasten über die Stellung hinweg, stießen erst über dem Wäldchen im Osten tief herab und feuerten mit Bordkanonen und Maschinengewehren in die Schrebergärten und Laubenkolonien. "Neuer Anflug Richtung drei!" brüllte Ziesche. Die Mustangs flogen zum zweiten Mal sehr tief an; sie hatten die Batterie entdeckt, lösten ein paar Bomben und schossen mit Bordwaffen auf die B 2 und Geschützstände.

   Eine Druckwelle warf Holt gegen die Kanone, Rauch füllte den Geschützstand, in der Dunkelheit klirrte Stahl, Holz brach... Fern, undeutlich, überschrie Wolzow das Motorengeheul: "Werner, verdammt, nach links!" Eine fremde, entstellte Stimme: "Volle Deckung!" Das Dunkel wehte auseinander, eine einzelne Maschine raste auf den Geschützstand zu, so tief, dass hinter dem Glas der Kabine das Gesicht des Piloten maskenhaft heranwuchs. Ein Satz, Holt war im Mannschaftsbunker. Dort schnallte Wolzow den Helm fest und schrie: "Die Kanone ist hin! Der Luftvorholer läuft aus! Werner, Christian, Sepp, los... zu Berta!" Holt sprang hinter ihm her. Der graue Barackenhaufen am Fahrweg brannte. Neben dem Geschützstand ein breiter, flacher Trichter. Holt lief. Motorenlärm, der sich ins Unerträgliche steigerte. Holt warf sich hin. Wie eine Sturmbö fegte es über ihn hinweg. Er lief und erreichte den Geschützstand. Dort stemmte Wolzow den Verschluss auf. Auch Vetter und Gomulka waren da, barhäuptig, und rissen einen Munitionsbunker auf. Wolzow warf eine Nahfeuerpatrone ins Rohr. Eine Maschine raste heran, Holt zog den Kopf zwischen die Schultern. Die Kanone wankte, Wolzow schrie: "Daneben!" Holt hatte keinen Einschlag gehört, eine Rauchwolke trieb über den Geschützstand, "Links, Werner, ja, so! Weiter runter, Sepp!" Der Schuss schmetterte, die Kanone bebte, Holt dachte befreit: Gilbert schießt! Vetter brüllte: "Neuer Anflug Richtung neun!" Die Maschine war schon über die Jungen hinweg, auf dem Erdwall stiebte Dreck hoch. Wieder zog Wolzow ab, der Schuss krachte. "Feierabend! Hülsenklemmer!" Auf einmal war es ganz still. Gomulka keuchte: "Verflucht... o verflucht!"

   Holt erhob sich taumelnd vom Richtsitz. Wolzow spähte über den Erdwall. Er sagte: "Sie sind weg!" Und: "Brennt ganz schön... Bloß die Chefbude steht noch!" Holt nahm den. Helm ab und befühlte seinen Kopf. Das Feuer knisterte.

   Sie traten ins Freie. Die B 2 wimmelte von Menschen. Beil den Geschützen im Norden rief es langgezogen: "Sa-ni-täää-ter!" Anton bot ein Bild der Verwüstung. Schmiedling lag bewegungslos in einer Blutlache. Ein paar der Schlesier standen verängstigt herum. "Helft doch dem Ziesche!" rief jemand.

   Die Westwand des Geschützstandes war eingedrückt. Ziesche lag auf dem Rücken zwischen zwei Holmen, seine Beine waren bis über die Knie unter dem Erdreich begraben; er lag bewegungslos, mit offenen, hervorquellenden Augen, sein Unterkiefer bebte. Sie wuchteten einen Balken der umgestürzten Holzverschalung hoch und zogen Ziesche hervor. "Es ist nicht zu glauben! Die Beine sind heil!" - "Der Balken hat auf einem Pfahl aufgelegen", erklärte Wolzow ungerührt, "sonst hätte er ihm die Knochen zerquetscht!"

   Sie standen alle um Schmiedling herum, der auf dem Bauch lag, die Hände in den Schlackebelag des Bodens gekrallt. "Und mich hat er 'Leiche' genannt!" rief Vetter. "Dabei hätte der lieber auf sich selbst aufpassen sollen!" - "Halt´s Maul", sagte Gomulka. Holt stand stumm dabei und sah auf den toten Schmiedling. Er hat vier Kinder, dachte er.

   Ziesche stand unversehrt auf, alle Glieder schlotterten. "Nervenschock!" sagte Wolzow. "Das gibt sich!" - "Leitungsprobe!" rief es von der B 2. Die Leitungen waren ohne Strom. Gottesknecht trat in den Geschützstand. "Verluste?" - "Schmiedling tot", meldete Wolzow, "und Ziesche leicht beschädigt." - "Und das Geschütz?" - "Der Luftvorholer dürfte endgültig hinüber sein", sagte Wolzow. Gottesknecht notierte und ging.

   Vier Tote und elf Verwundete war die Bilanz dieses Sonntagvormittags. Die Nachrichtenhelferin war in der Schreibstube umgekommen, verbrannt. Vier Geschütze waren beschädigt, zwei davon wurden bis zum Abend wieder einsatzfähig. Anton und Dora mussten in die Werkstatt gebracht werden. Bei Anton hatte ein Geschoß den Luftvorholer zerschlagen. Ein Splitter mochte Schmiedling getötet haben. Dora war von einer Splitterbombe getroffen worden, von der Bedienung waren zwei Luftwaffenhelfer gefallen und fünf verletzt. Auf der B 2 war Nadler gefallen.

   Am Nachmittag ging der Hauptmann mit Gottesknecht durch die Stuben. Ziesche lag auf seinem Bett, noch immer mit zitternden Gliedern. Kutschera stieß die Tür auf, winkte ab und fragte: "Wie geht´s?" Sein Blick fiel auf Ziesche, der apathisch auf dem Strohsack lag. "Wie sehn Sie denn aus, Mensch?" Gottesknecht flüsterte ein paar Worte, Kutschera fragte: "Wolln Sie ins Revier?" Ziesche schüttelte den Kopf. "Nein, Herr Hauptmann." Kutschera nickte befriedigt. Sein Blick fiel auf Holt: "Habt ihr Banditen dem Ziesche nicht eher helfen können?" - "Herr Hauptmann", sagte Holt, "ich hab das alles erst hinterher gemerkt. Wir sind zu Berta, an was anderes hat keiner gedacht!" Wieder nickte Kutschera. "Na, Wolzow, aber ehrlich: War´s schlimm?" Wolzow legte den Kopf auf die Seite und sah den Hauptmann an: "Herr Hauptmann! Da gehören ein paar Zweizentimeter-Kanonen in die Stellung! Das Nahfeuer hat doch bloß eine moralische Wirkung!" - "Klugscheißen kann jeder", sagte der Hauptmann und langte nach dem Türgriff. Gottesknecht sagte: "Ich schick nachher den UvD durch, zur Leitungsprobe, der Fernsprech-Bautrupp ist schon da." Kutschera, schon in der Tür, wendete noch einmal den Kopf. "Hat jemand ´n Wunsch?" - "Waaas?" rief Vetter. "Na, Herr Hauptmann, auf das Gemetzel wär eigentlich eine Flasche Schnaps fällig, und der Küchenbulle könnte mal wieder eine Büchse Rindfleisch rausrücken!" - "Mensch", rief Kutschera, "nischt als Fressen und Saufen im Sinn!"

   Holt legte sich auf sein Bett. Er schloss die Augen. Es ist vorbei, mag es wiederkommen, es war weniger schlimm, als ich fürchtete. Ich hatte keine Zeit, Angst zu haben. Es ist wohl auch keine Zeit, Schmerz zu empfinden, wenn es trifft... Schmiedling hat ein rasches Ende gehabt. Aber dann schauderte ihn bei dem Gedanken, hilflos zu liegen wie Ziesche, den Blick zum Himmel gerichtet, wo die Jagdbomber entlang rasen... das muss furchtbar sein!

   Der Sanitäter brachte Ziesche ein Schlafmittel. Kaum war er gegangen, warf Ziesche die Tabletten zum Fenster hinaus. "Richtig", sagte Wolzow.

   Holt dachte: Der Tiefangriff war schlimmer als die Bomben damals, als Fritz starb. Zemtzki, Nadler... nun sind es schon zwei aus der Klasse. Und Schmiedling.

   Schmiedling, dachte Holt. Da hat er nun solche Angst vor der Front gehabt, und hier, in der Heimat, erschlägt es ihn. Vielleicht wäre er draußen am Leben geblieben. Oder sollte er fallen? War es ihm bestimmt? Wieder dachte er: Schicksal, Vorsehung... Ist alles Zufall? Schmiedling war mir immer, sehr fremd, ein Mensch aus einer anderen Welt. Was für eine Welt ist das?

   Der UvD riss die Tür auf. "Leitungsprobe, dalli!" Holt ging mit Wolzow und Vetter zu Berta. Eine Zugmaschine würgte Anton aus dem Geschützstand. Ein Kommando Gefangener schaufelte die Trichter zu, arbeitete an dem verwüsteten Geschützstand, besserte die Lattenroste aus und räumte den Schutt der verbrannten Baracken fort. Wolzow begann Munition zu reinigen. "Der Hülsenklemmer war nämlich überflüssig", erklärte Vetter. Holt blickte von der Arbeit auf. Vetter war nicht mehr das dicke, weinende Kerlchen, das sich ewig zurückgesetzt fühlte. Vetter war groß und stark geworden, roh und draufgängerisch.

   Kutschera ließ tatsächlich Schnaps verteilen und auch "Rindfleisch im eigenen Saft". Wolzow öffnete eine Flasche und hielt sie Ziesche hin. "Heute", sagte er, "bist du zuerst dran. Wenn du nicht immer so dusslig quatschen würdest, könnten wir zwei die besten Freunde sein." Ziesche lächelte und trank. Wolzow hob ihm den Arm samt Flasche: "Bisschen mehr, Mensch!" Ziesche verschluckte sich, der Schnaps lief ihm übers Gesicht und in den Halsausschnitt. "Du bist mir ein schöner Germane", spottete Wolzow, "kannst nicht mal saufen!" Er gab die Flasche weiter. Holt fühlte den Alkohol brennend in der Kehle. Ein Schauer lief über den Rücken. Dann breitete sich wohlige Wärme in ihm aus, Klarheit und Zufriedenheit. Das Leben ist doch, schön! Das Leben ist gefährlich, aber es lohnt sich. Und jetzt ruf ich Gertie an, dachte er.

   Im Keller der B 2, der nun provisorisch als Schreibstube diente, saß Gottesknecht und las den "Völkischen Beobachter". Holt wählte Frau Ziesches Nummer. "Werner? Gott sei Dank! Hier gehen die tollsten Gerüchte um, ist es denn wahr?" - Holt vermied vor Gottesknecht jede Anrede. "Komm zu mir", sagte Frau Ziesche. - "Das geht heut nicht." - "Ist Ziesche wohlauf?" fragte sie endlich. "Er hat Glück gehabt", sagte Holt, und nun musste Gottesknecht erraten, mit wem er sprach, "er ist unverletzt, bloß mit den Nerven runter." Er glaubte, die Verbindung sei unterbrochen. Aber da meldete sie sich wieder: "Schade, dass du nicht kommen kannst! Lass dich recht bald bei mir sehen!" - "Ja. Natürlich." - "Und pass auf dich auf, hörst du?" Sie sorgt sich um mich, dachte er, während er den Hörer auf die Gabel legte. Er wäre gern zu ihr gefahren, nun war ihm der Sonntag verleidet. Viele Luftwaffenhelfer ließen sich von ihren Mädchen besuchen. Warum hab ich nicht eine Freundin, mit der ich mich hier sehen lassen kann?

   Vetter und Rutscher gaben keine Ruhe, ehe Holt nicht mit ihnen Skat spielte. Vetter reizte; "Achtzehn... " Wolzow sagte: "Das hat mit Klugscheißerei gar nichts zu tun. Wir brauchen eine Zwozentimeter-Flak!" - "Vierundzwanzig?" wiederholte Holt unschlüssig. "Ich passe. Meinst du, dass die was nützen würde?" Vetter rief: "Vier, sieben, dreißig, drei, sechs...?" - "Und ob!" sagte Wolzow. "Wenn hier eine Vierlingsflak gestanden hätte, da wären die Fetzen geflogen!" - "Die hätten auch eine Vierlingsflak zur Sau gemacht!" - "Vierzig!" rief Vetter. Wolzow sagte brummig: "Aber von den Mustangs hätten mindestens zwei dran glauben müssen!" - ‚Grand!" sagte Vetter stolz.

   Sie spielten. Wolzow, den "Clausewitz" vor sich, meinte: "Da haben sie nun auf der B 2 die beiden MGs, und keiner hat geschossen!" Gomulka sagte von seinem Bett her: "Es wäre auch sinnlos gewesen!" - "Vierundachtzig, siebenundachtzig, einundneunzig, Schneider!" sagte Vetter. "Heute sind fünfzehn Mann ausgefallen. Ob´s da großen Urlaub gibt?" Ziesche brummte von seinem Bett her: "Im gegenwärtigen Stadium des Krieges ist Urlaub überflüssig!" - "Kaum kann der Ziesche wieder den Mund aufmachen", krähte Vetter, "da quatscht er dämlich! So was!" Ziesche schrie bebend: "Ich lass mir diese Beleidigungen nicht mehr gefallen!" - "Was willst du denn machen?" fragte Vetter. "Du weißt ja genau, dass wir dir nach Belieben den Popo vollhauen können!" Aber Wolzow sagte: "Christian, lass den Ziesche in Ruhe, der gehört jetzt zu uns alten Kriegern!"

   Holt wechselte einen Blick mit Gomulka.

   Ziesche musste am Abend doch ins Revier gebracht werden. Das Gliederzittern wollte nicht nachlassen. "Hoffentlich wird er nicht so´n Schüttler!" sagte Rutscher. Aber der Sanitäter erklärte fachkundig: "Der kriegt Prontosil und spurt wieder." Wolzow verbrachte den Tag in der Kantine. Am Abend erzählte er: "Dort sitzen die SS-Leute vom Russenkommando. Die schweinigeln was weg!"

   Nachts dröhnte der Himmel von Bombermotoren. Weit im Osten fielen Leuchtzeichen. "Dortmund!" sagte Holt. Er war an Berta Geschützführer. Ringsum schoss Flak. Dann feuerte auch die 107. Batterie.

   Der Lehrer fand am anderen Morgen fast keine Schüler vor. Holt, Gomulka und Wolzow halfen, Geschütz Anton in Stellung zu bringen. Der Luftvorholer war geschweißt worden. Die Kriegsgefangenen schlossen den Geschützstand. Wolzow befahl Munitionsreinigen. "Ich will so bald keinen Hülsenklemmer mehr erleben!" Sie zogen die Hemden aus und arbeiteten. "Hier an der Kanone ist das Leben noch am erträglichsten", sagte Holt.

   Am Nachmittag wurde Gefechtsschaltung befohlen. Die Luftlagemeldungen nannten Ludwigshafen, Mannheim und Schweinfurt. Weitere Bomberverbände flogen über die Alpen in den süd- und südostdeutschen Raum. Am späten Nachmittag lag Holt übermüdet auf seinem Bett. Gomulka steckte den Kopf durch die Tür und rief ihn heraus.

   Er war aufgeregt. "Schau dir das an!"

   Beim Kugelbaum arbeiteten die Kriegsgefangenen an einem Trichter. Der SS-Posten stieß mit dem Kolben seines Karabiners nach einem der Gefangenen, stieß ihn zu Boden und trat ihn mit Füßen.

   Holt lief in die Stube zurück, wo Wolzow mit Vetter und Rutscher beim Kartenspiel am Tisch saß. "Gilbert! Draußen schlägt ein SS-Mann die Gefangenen!"

   "Na und...?" fragte Wolzow gedehnt. "Was gehn denn mich die Russen an!"

   Ja. Was gehen uns die Russen an? "Wir sollten uns das nicht bieten lassen, Gilbert." - "Jetzt lass mich endlich mit diesem Kroppzeug zufrieden!" schimpfte Wolzow. Aber Holt rief: "Du hast mir einmal geschworen, wenn ich dich um was bitte. .

   Worauf lass ich mich ein?

   Die Sache passte Wolzow nicht. "Mit dem Burschen wirst du doch allein fertig!" Holt wusste nun ganz klar: Es ist Wahnsinn! "Gib mir einen General zum Onkel, und ich brauch keinen andern."

   Wolzow zögerte noch immer. Dann wurde er wütend Er knallte die Karten auf den Tisch und sah Holt böse an. "Langsam ist mir egal, mit wem ich mich prügel." Holt sah, wie unlustig Wolzow zu seinem Wort stand.

   Vetter riss das Fenster auf. Sie schauten hinaus. Der misshandelte Gefangene lag noch immer am Boden. Die anderen schaufelten. Der Posten hielt sich ein paar Meter abseits. Wolzow stapfte über den Acker und rief: "Mensch, vielleicht benimmst du dich hier ´n bisschen zivilisiert!"

   "Das geht schief!" flüsterte Gomulka.

   Man konnte nicht verstehen, was der Posten antwortete, hörte aber Wolzow schreien: "Wer ich bin? Ich bin der Oberhelfer Wolzow! Genügt das?" Wieder sagte der Posten etwas, trat einen Schritt zurück und hob den Karabiner, während Wolzow schimpfte: "Drisch die Iwans im Lager! Aber nicht in unserer Batterie!... Du!" schrie er, sprang zu dein Posten hin, und fasste ihn an der Bluse: "Was willst du mit der Knarre? Bist du verrückt? Nächstens schießen Deutsche auf Deutsche!" Er schüttelte den Posten und ließ ihn dann einfach stehen.

   Er setzte sich wortlos wieder an den Tisch und nahm seine Karten auf. "Schiss hat er gehabt!" sagte Vetter. "Halt´s Maul!" rief Wolzow. Dann fuhr er Holt an: "Das war das erste und letzte Mal, dass ich mich von dir in so was hineinziehen lasse! Du mit deinen verrückten Ideen! Viel zu weich bist du!" Holt fuhr herum: "So! Willst du mir die Freundschaft aufkündigen?" Er schrie: "Dann sag´s doch offen! Meinst du, ich fürcht mich vor dir?"

   Wolzow blickte auf Holt und sagte verblüfft: "Du bist wohl verrückt! Ich prügel mich doch nicht mit dir!" - "Einigkeit ma-ma-macht stark!" sagte Rutscher. Wolzow rief: "Du stotterst ja wieder, Mensch, du musst dir noch mal die Mandeln rausnehmen lassen!" Das Gelächter wirkte versöhnend.

   Die Nacht am Geschütz war lang. Kutschera hatte Kurzurlaub. In der Batterie residierte Gottesknecht. Während des Schulunterrichts saßen die Jungen dann schlafend auf ihren Schemeln. Der Lehrer las mit monotoner Stimme aus einem Buch vor.

   Mitten im Unterricht holte der UvD Wolzow auf die Befehlsstelle, die immer noch als Schreibstube diente. Holt fuhr aus dem Halbschlaf empor und wechselte einen Blick mit Gomulka. Zehn Minuten später ging abermals die Tür. Gottesknecht winkte Holt.

   Holt hatte Gottesknecht noch nie so ernst gesehen, so sorgenvoll und verfallen. Der erste Abend fiel ihm ein. Damals hatte Gottesknecht das Gesicht eines müden, gealterten Mannes gezeigt. Heute sah er verzweifelt aus.

   "Holt, kennen Sie Wolzows Onkel, den General? Wir müssen sofort etwas unternehmen. Wolzow ist eben von der Geheimen Staatspolizei abgeholt worden."

   Holt nahm die Worte hin wie einen Schlag. Unsinnige Angst fasste ihn. "Ich konnte nichts tun", hörte er Gottesknecht sagen. "Ihr untersteht ja nicht einmal der Militärgerichtsbarkeit, so verrückt das ist. Kriegsrechtlich seid ihr Zivilisten. Das erleichtert andererseits eine Intervention von oben." Im Keller der B 2 hielt ein Obergefreiter Telefonwache. Gottesknecht schickte ihn hinaus, ließ sich von der Untergruppe eine Amtsleitung geben und meldete ein Blitzgespräch an. Er rief abermals die Untergruppe: "Hör mal, Kleine, ich hab blitz Berlin verlangt, leg das sofort in die Hundertsieben!"

   Holt fand keinen klaren Gedanken. Schließlich fragte er mühsam: "Und weswegen..."

   "Tun Sie doch nicht so!" fuhr Gottesknecht ihn an. "Das wissen Sie doch am besten! Ich kenn den Wolzow, der hätte keinen Finger gerührt. Sie stecken dahinter, Holt, kein anderer!"

   "Herr Wachtmeister, ich..."

   "Halten Sie den Mund! Sie haben Ihrem Freund einen schlechten Dienst erwiesen!" Gottesknecht war aufgebracht wie noch nie. "Wenn das Theater wenigstens einen Sinn gehabt hätte! Aber wegen der Russen mit der SS anzubinden, das ist doch sinnlos! Was haben Sie sich bloß dabei gedacht?"

   "Mir ist das alles erst hinterher eingefallen", sagte Holt kläglich. Mitleid ist Schwäche, dachte er. Mit uns haben die Jagdbomber am Sonntag ja auch kein Mitleid gehabt! Dass mich der Gilbert bloß nicht verrät!

   Das Telefon summte, Gottesknecht verzerrte das Gesicht vor Konzentration. "Bitte einen Augenblick, Herr Oberst!" Er reichte Holt den Hörer und flüsterte: "Sehn Sie zu, dass Sie den General persönlich an den Apparat bekommen!"

   "Herr Oberst?" rief Holt mit heiserer Stimme. "Hier spricht Luftwaffenoberhelfer Holt. Dürfte ich bitte den Herrn Generalleutnant Wolzow sprechen? Es handelt sich um seinen Neffen!"

   "Gefallen?" fragte eine scharfe Stimme.

   "Nein, Herr Oberst. Aber es ist dringend!"

   Fern in der Leitung klang ein Besetztzeichen. Holt sagte leise: "Er holt ihn." Gottesknecht flüsterte hastig: "Sagen Sie, er hat sich das nur verbeten, weil´s unmittelbar vor der Baracke war! Vielleicht hat´s ihn beim Schlafen gestört oder so! Sagen Sie, es ist ein Missverständnis!"

   Am anderen Ende der Leitung wurden Schritte laut, eine ruhige Stimme sagte: "Wolzow. Was ist los?" Holt erzählte stockend, so gut es ging. Am anderen Ende schrie es: "Ich muss schon sagen, dass ich das Theater mit euch Rotzjungen langsam satt habe!"

   "Herr General", sagte Holt verzweifelt, aber der Generalleutnant schrie wütend: "Wie stellen Sie sich das vor! Bin ich der liebe Gott?" Dann klang die Stimme ruhiger: "Ich werde sehen. Mahlzeit." Es knackte. Aus, vorbei. Holt wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Gelsenkirchen, sprechen Sie noch?" Holt legte den Hörer auf.

   "Was hat er gesagt?" fragte Gottesknecht ungeduldig. Er lachte kurz. "Böse? Das glaub ich!" Erst jetzt wurde Holt völlig klar, was geschehen war. Wenn Wolzow ihn als Anstifter preisgab, dann holten sie auch ihn, und kein Generalsonkel half ihm aus der Schlinge.

   "Wie bring ich das bloß dem Chef bei!" sagte Gottesknecht. "Und Sie, Holt, was machen wir, wenn die Sie auch noch holen?"

   "Herr Wachtmeister", sagte Holt, und er raffte allen Willen zusammen, trotz seiner Angst eine einigermaßen gute Figur abzugeben, "ich bitte Sie, Tatbericht einzureichen, dass... ich der Anstifter gewesen bin!" Er hoffte inbrünstig, dass Gottesknecht diesen Vorschlag ablehnen würde.

   "Sie sind ein Idiot!" sagte Gottesknecht. "Unüberlegt und dumm, Holt, das ist ein bisschen viel Jetzt kommen Sie sich wohl mächtig edel vor, bei soviel teutonischer Aufrichtigkeit, was? Sie wären imstande und machen aus einem Dummejungenstreich eine Verschwörung, mit Anstiftern, Hintermännern und Statuten. Das war und bleibt ein Dummejungenstreich, verstehen Sie? Der Wolzow prügelt sich fürs Leben gern, das weiß hier jeder. Er prügelt sich mit allen, also zufällig auch mal mit einem SS-Mann. Anlass? Braucht er keinen. Er prügelt sich aus Sport. Dabei bleiben wir, Holt! Es hat keinen Anlass gegeben! Den Wolzow ärgert manchmal die Fliege an der Wand, und dann sucht er Händel. So war es auch gestern."

   "Jawohl, Herr Wachtmeister!"

   "Merken Sie sich das, wenn der Chef Sie fragt, oder ein anderer. Was mach ich mit Ihnen?" Er überlegte. "Sie verschwinden. Wenn man nach Ihnen fragen sollte, sag ich, Sie haben Urlaub. So gewinnen wir Zeit, bis sich der General einschaltet. Morgen früh sind Sie wieder hier. Bewegen Sie sich ein bisschen vorsichtig. Warten Sie am Geschütz Anton auf mich, ich sag Ihnen dort Bescheid, wie die Dinge liegen. Verschwinden Sie."

   "Oberhelfer Holt meldet sich ab auf Nachturlaub!"

   "Wer weiß noch von der Sache?"

   "Gomulka, Rutscher und Vetter."

   Gottesknecht schüttelte den Kopf, als könne er alles gar nicht fassen.

   Holt zog sich um und lief dann durch den Wald zur Straßenbahn. Aber er ging zu Fuß. Ein Glück, dass es Gertie gibt! Er läutete bei ihr an. Doch niemand meldete sich. Er setzte sich in einem Lokal abseits in eine Ecke. Vielleicht fahnden sie schon nach mir!

   Geheime Staatspolizei, Gestapo, ein geläufiges Wort. Die Vorstellung, die sich mit diesem Wort verband, war vage und unklar. Holt erinnerte sich, wie Knack im Geschichtsunterricht den Charakter aller nationalsozialistischen Organisationen erläutert hatte, auch Wesen und Aufgabe der Geheimen Staatspolizei. Holt bemühte sich, einige dieser Definitionen in seinem Gedächtnis wachzurufen. Die Geheime Staatspolizei ist der unerbittliche Wächter über die innere Sicherheit des Reiches, oder so ähnlich. Das verjüngte deutsche Volk schützt seine rassische Grundlage, seine Einigkeit und Kraft hart und rücksichtslos gegen alle Anschläge des Weltjudentums, und es bedient sich hierzu der SS und der Geheimen Staatspolizei. Oder: Die Gestapo ist der Arm des Führers, der unbarmherzig allen Feinden des Reiches das Handwerk legt. Oder: Hätte es 1918 schon eine Gestapo nationalsozialistischen Gepräges gegeben, so würde die Revolution der Zuhälter und Deserteure brutal im Keim erstickt worden sein..

   Jetzt erst fiel Holt auf, dass jede dieser Definitionen mit einem Beiwort wie "unbarmherzig", "brutal" oder "rücksichtslos" versehen war, was den Begriff "Geheime Staatspolizei" mit dem Geruch des Schrecklichen umgab. Womit hab ich angebunden! Was hab ich herausgefordert! Wie soll das enden! Immer neue Erinnerungen tauchten in seinem Bewusstsein auf, von weit her, gewaltsam aus dem Gedächtnis getilgt: "... - Ruths Vater ist gar nicht wieder nach Hause gekommen, und niemand weiß, wo er jetzt ist...", das hatte Marie Krüger erzählt, "und niemand weiß, wo er jetzt ist..." - "Im Generalgouvernement bringen sie die Juden zu Hunderttausenden um, die SS...", das war Gertie. Und der alte Mann in seinem muffigen Zimmer: "... tötet die SS heute Hunderttausende von Menschen."

   Eine Welt des Grauens tat sich auf.

   Er sprang auf, warf einen Geldschein auf den Tisch und trat ins Freie. Er lief in eine Telefonzelle. Sie war außer Betrieb. Er rannte planlos durch zerstörte Straßen, bis er ein Postamt fand. Endlich meldete sich Frau Ziesche. "Ich komm eben nach Hause, ich war hei Günter im Revier... Was gibt´s? Wo sprichst du?" Er sagte: "Ich kann heut nicht in die Batterie zurück, erst morgen früh ... Bitte, darf ich bei dir bleiben?" Sie lachte. Er begriff nicht, warum sie so lachte. "Komm schon!" Befreit hängte er den Hörer auf. Fürs erste war er geborgen.

   Sie empfing ihn, nahm ihm den Stahlhelm ab und schob, als sie ihn ins Zimmer geleitete, gutgelaunt ihren Arm unter den seinen. "Was ist das für eine neue Mode?" sagte sie. "Meinst du wirklich, du musst Gruselgeschichten erfinden, wenn du bei mir bleiben willst?" Jetzt wurde ihm klar, warum sie vorhin so gelacht hatte, und er sagte unwillig: "Du irrst dich. Ich bin in einer schlimmen Situation!"

   Sie hörte sich an, was er erzählte, und während sie zuhörte, gefror ihr Gesicht. Noch ehe er fertig war, erhob sie sich, stellte das Radio ab und entzündete in nervöser Hast eine Zigarette. "Und was hast du damit zu tun?" - "Ich hab Wolzow angestiftet", sagte er.

   "Bist du denn nicht bei Trost?" sagte sie erregt. "Wie kannst du so etwas tun?" Er blickte ihr in das blasse, feindselig verschlossene Gesicht, tief enttäuscht. "Du hast recht", sagte er müde. "Ich weiß, dass es nicht richtig war. Aber Verständnis solltest du eigentlich dafür haben."

   "Nein!" sagte sie scharf. "Da täuschst du dich gewaltig in mir. Ich bin eine deutsche Frau! Für so was habe ich nicht die Spur Verständnis!"

   "Was denn, was denn", sagte er fassungslos. "Wer hat mich denn konfus gemacht mit 'russischer Seele'?" - "Ach. - sagte sie gedehnt und sah ihn mit einem unbeschreiblichen Ausdruck an. "Jetzt soll ich wohl an diesem Wahnsinn schuld sein?" - "Jawohl, du!" rief er, außer sich vor Zorn. "Streng dich nur ein bisschen an und erinnere dich!"

   "So nicht, mein Lieber", sagte sie leise, aber drohend. "So auf gar keinen Fall! Du möchtest mich wohl in die Sache hineinziehen, ja? Gib dich keinen Illusionen hin, ich habe mehr Rückgrat als du!" Sie beugte sich über den Rauchtisch, das entstellte Gesicht ihm zugewendet: "Treib mich nicht so weit, dass ich Ziesche gegen dich zu Hilfe rufen muss!"

   Holt fühlte, wie ihn die Beherrschung verließ. Er wollte Frau Ziesche anschreien. Aber da erfasste ihn verzweifelte Schwäche. Apathisch saß er im Sessel. War also Geschwätz, was sie von "russischer Seele" erzählt hat, dachte er, hat sie gar nicht ernst gemeint...

   "Such die Schuld erst einmal bei dir", sagte Frau Ziesche, "bei den Einflüsterungen deines sauberen Herrn Vaters, bei deiner persönlichen Laschheit, der undeutschen Toleranz...!"

   Das ist allerhand! dachte Holt empört, und nun wurden auch in ihm gemeine Gedanken hochgespült. "Drohen ...", sagte er, "mit deinem Mann drohen ist sinnlos! Du denkst nämlich gar nicht daran, ihn gegen mich auszuspielen, ich könnte ihm immerhin ein paar... interessante Einzelheiten aus deinem Leben erzählen." Das war deutlich. Sie stieß nervös die Zigarette in die Aschenschale. Er sah mit Genugtuung, dass er die rechte Tonart gefunden hatte.

   "Du entpuppst dich ja in einer netten Weise", sagte sie. Er fiel ihr ins Wort: "Ich hab nicht zu drohen angefangen!"

   Sie schwiegen beide. "Ich hab gedacht, du hilfst mir", sagte er, "stehst mir bei... Aber du bist ja so unbeschreiblich falsch, dass..." Jetzt fiel sie ihm ins Wort: "Du hast kein Recht, so mit mir zu sprechen!"

   "Nein?" fragte er. Zum ersten Mal im Leben war er zynisch: "Da möcht ich wissen, was man noch anstellen muss mit dir, eh man dieses Recht hat!" Das traf sie wie ein Schlag ins Gesicht.

   "So!" sagte er und stand auf. "Ich geh!" Er hatte keine Freude mehr daran, sie beschimpft zu haben, er empfand weder Scham noch Genugtuung, er fühlte in diesem Augenblick nur Gleichgültigkeit und dahinter dunkel und drohend die Angst. Auf dem Korridor konnte er seinen Stahlhelm nicht finden. Als er ihn schließlich auf einem Korbstuhl liegen sah, öffnete sich die Wohnzimmertür; Frau Ziesche war bleich, und die dunklen Augen glühten in dem blassen Gesicht. Leise, doch sehr deutlich sagte sie: "Du unverschämter Kerl wirst dich jetzt sofort bei mir entschuldigen!" Er schaute sie ein wenig verwundert an und kam nicht los von ihrem Blick. Er sagte: "Es tut mir leid." Er fasste ihre Hand: "Verzeih mir."

   "Wolltest du wirklich fort?" fragte sie später. - "Ja." - "Und an mich hast du nicht gedacht?" - "Nein. Aber du hättest mir gefehlt." - "Du bist ein dummer, unverschämter Junge", flüsterte sie. "Und du bist falsch", sagte er, noch immer böse. Aber sie drängte sich gegen ihn. "Jetzt bin ich nicht falsch", flüsterte sie. Die Sirene trieb sie hoch.

   Voralarm. Während Holt die Uniform überzog, stellte sie im Wohnzimmer das Radio an. Starke feindliche Kampfverbände im Anflug über der deutschen Bucht. Aller Voraussicht nach galt das nicht ihnen. "Wir hätten uns Zeit lassen können", sagte er. Sie richtete im Wohnzimmer den Teetisch her, nun saßen sie ohne Licht vor den weit geöffneten Fenstern. Kurz vor Mitternacht heulten die Sirenen Vollalarm. "Ich hätte mich doch lieber anziehen sollen", sagte sie, noch immer im Kimono. Er beruhigte sie: "Es sind abfliegende Verbände." Zwanzig Minuten lang zogen die Bomber vorbei. Flak grollte im Norden. Sie standen am Fenster. Entwarnung! Sie sagte: "Jetzt ruf ich in der Batterie an und frag nach dir!" - "Mitten in der Nacht? Frag lieber nur, wenn sich Gottesknecht meldet, er wird bestimmt noch auf der B 2 sein!"

   Holt brachte sein Ohr dicht an ihr Gesicht; so konnte er mithören. Gottesknecht meldete sich. "Holt? Wer spricht denn da? Ach so! Nein, Holt hat Ausgang. Er wird morgen früh zu sprechen sein. Hier liegen günstige Nachrichten für ihn." Frau Ziesche sagte noch: "Das hört man gern!" Holt warf sich aufatmend in einen Sessel.

   Am Morgen schob sie ihm ein großes zusammengerolltes Heft unter den Arm. "Schau dir das an, damit du siehst, für wen du dich eingesetzt hast." Er stopfte die Zeitschrift durchs Koppel und rückte die Mütze zurecht, sie stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte, den Mund an seinem Ohr: "Komm bald wieder!"

   In der Straßenbahn nahm er sich das Heft vor. Vom Titelblatt grinste ihn eine grauenhafte Menschenfratze an. Darunter große, fahle Buchstaben: "Untermenschen ...", "IB Sondernummer". Viele Seiten lang die gleichen tierischen Gesichter, mittelalterliche Teufelsmasken, verzerrt, mit gebleckten Raubtierzähnen. Ab und zu eine kurze, einprägsame Textzeile: "Das Reich ist bedroht!" Oder: "Das Antlitz Judas, lüstern nach deutschem Blute!"

   Auf dem Batteriegelände wurden neue Baracken aufgestellt. Gottesknecht winkte Holt zu sich heran. "Wolzow ist wieder da." Er ging neben Holt durch die Feuerstellung. "Es war ein Missverständnis, wie ich dachte." Holt sagte: "Ich habe Ihnen zu danken, dass..." - "Scheren Sie sich zur Hölle!" rief Gottesknecht.

   In der Stube saß Wolzow, frühstückte und erklärte "Minsk ist gefallen! Ich hab also recht behalten!" Als Holt eintrat, rief er unbefangen: "Wieder im Lande?" Er räumte Brot und Wurst in den Spind. "Sepp, Werner, kommt mal mit zur Leitungsprobe!"

   Am Geschütz erzählte er. Man hatte ihn mit dem Wagen auf irgendeine Dienststelle gefahren und dort vor einen Obergruppenführer gebracht. Wolzow hatte die Anschuldigung, er habe einen SS-Mann im Dienst bedroht, sogleich zugegeben. Aber er hatte bestritten, dass dies wegen der Russen geschehen sei. Es habe sich vielmehr um eine "reine Privatsache" gehandelt, davon hatte er sich nicht abbringen lassen, auch nicht, als man drohte, die Wahrheit gewaltsam aus ihm herauszuholen. Dann war er in eine Kellerzelle gesperrt, nach zwei Stunden aber wieder herausgeholt und abermals vor den Obergruppenführer geführt worden. Inzwischen musste schon ein Anruf aus Berlin vorgelegen haben, denn man behandelte ihn nun wesentlich sanfter. Wenn er den wahren Grund angebe, warum er den Posten bedroht habe, so könne er nach Hause gehen. Wolzow hatte sich erinnert, dass die SS-Leute am Abend vorher in der Kantine zusammengesessen und dort auf laute und rohe Weise über ihre Mädchen gewitzelt hatten. Dies gab er nun als Grund an. Die Schmähungen der SS-Leute gegenüber deutschen Frauen seien es gewesen, erklärte er, die ihn bewogen hätten, sich einige SS-Leute einzeln vorzuknöpfen, jedoch sei es dann am anderen Morgen bei dem einen geblieben. Man nahm diese Antwort zu Protokoll, auch Wolzows Bemerkung, die Anzeige sei ein "hundsgemeiner Racheakt". "Na, und dann haben sie mich eben entlassen", schloss er seine Erzählung "Der Obergruppenführer hat mich noch furchtbar angebrüllt, ich soll meine Rauflust im Zaum halten, bis ich an der Front bin."

   "Du bist ganz korrekt behandelt worden?" fragte Gomulka gespannt. Wolzow sagte: "Ja. Aber im Keller, da haben die ein paar Typen als Schließer, Mensch, richtige Zähneeinschläger!"

   Holt sagte: "Ich hatte Angst, du könntest mich verraten!" - "Wenn du wieder so eine verrückte Idee hast, dann such dir dazu einen andern!" fuhr Wolzow ihn an. "Von deiner Humanitätsduselei hab ich genug. Nimm dir ein Beispiel an Ziesche! Wenn´s drauf ankommt, hat der mehr soldatische Härte als du!"

   Kutschera schimpfte am anderen Tag vor versammelter Mannschaft über "die verdammte Händelsucherei von dem Wolzow". Tage später erhielt Wolzow einen wütenden Brief seines Onkels, darin er und seine Freunde mit groben Worten aufgefordert wurden, "derartige anrüchige Scherze ein für allemal zu unterlassen". Damit war die Angelegenheit abgetan.

   Die Julitage reihten sich aneinander, trocken und heiß, dann diesig und trübe. An einem regnerischen Tag wurde die Batterie zum zweiten Male von Tieffliegern angegriffen. Eine Kette Mustang-Jagdbomber stürzte sich auf die Geschütze Dora und Cäsar. Der Sachschaden war gering. Aber zwei Tote und sechs Schwerverwundete blieben liegen. Gomulka sagte: "Das ist alles erst der Anfang. Verlass dich drauf!"

12

   "Holt" sagte Gottesknecht eines Tages, "verdient haben Sie´s nicht, aber ich gebe Ihnen einen guten Rat. Reichen Sie sofort ein Urlaubsgesuch ein, Sie und Wolzow, auch Gomulka, ehe es zu spät ist! Wie´s mit unserer Mannschaftsstärke aussieht, das wissen Sie. Noch ein paar Ausfälle, und mit Urlaub ist´s vorbei!"

   Ãœber dem Ruhrgebiet lag eine Hitzewelle. Dunst verschleierte die Mittagssonne. Türen und Fenster der Baracke standen offen, aber kein kühlender Luftzug strich durch die überhitzten Stuben. "Wir sollen den Chef gleich um Urlaub angehn", sagte Holt. Gomulka rief: "Still!" Wolzow las aus der Zeitung vor: "...und so wird die Schlacht im Osten immer mehr zur großen Bewährungsprobe der Einzelkämpfer. Den Vorstößen schneller sowjetischer Kräfte begegnen unsere Kampfgruppen durch Zusammenschluss in einzelnen Widerstandsräumen... " Gomulka meinte: "Da hast du tatsächlich recht behalten mit deiner Lageeinschätzung!" Wolzow las weiter: " 'Während der feindliche Einbruch in Minsk von Südosten und Nordosten her geschah, stehen weiter südöstlich bis zur Beresina hin immer noch deutsche Truppen, die sich unter fortgesetzten Durchbruchskämpfen nach Westen zurückschlagen. \" - "Also eingekesselt!" sagte Gomulka und nahm Wolzow die Zeitung aus der Hand. "Außerdem geht eindeutig daraus hervor, dass es im Osten ein Bewegungskrieg geworden ist: 'Der Feind versucht', heißt es, die Bewegung weiterhin aufrechtzuerhalten."

   Holt schielte auf Ziesche. Ziesche schlief, oder er gab vor zu schlafen. "Und noch immer keine Gegenmaßnahmen?" fragte Holt. "Lies den Wehrmachtbericht!"

   Gomulka blätterte in der Zeitung. "Gegenmaßnahmen?" Es zuckte in seinem Gesicht. "Moment! Invasionsfront... Also: 'Im Mittelabschnitt der Ostfront stehen unsere Truppen bei drückender Hitze in auch für uns verlustreichen Kämpfen...'"

   Wolzow unterbrach ihn: "Da muss was los sein!" Ziesche richtete sich auf und glotzte verschlafen.

   "Das hat es im ganzen Krieg noch nicht gegeben", sagte Gomulka. "Da brauchst du gar nicht so ´n ungläubiges Gesicht zu machen, Ziesche, schau dir die Wehrmachtberichte an, vom Polenfeldzug bis heute! Das ist das erste Mal, dass es heißt 'in auch für uns verlustreichen Kämpfen'." Er las weiter: " 'Die heldenmütige Besatzung von Wilna'..." - "Wilna?" rief Holt erschrocken. "Na ja doch", sagte Gomulka, "Wilna ist schon vor drei Tagen erreicht worden. 'An Wilna vorbei dringt der Gegner weiter nach Westen und Südwesten vor.'" Er legte die Zeitung fort. "Sieht also nicht nach Gegenmaßnahmen aus."

   Holt saß deprimiert am Tisch. Eben noch hatte er sich auf den Urlaub gefreut. Nun war ihm diese Freude verdorben. Er wunderte sich nur immer wieder über die anderen, die all die niederschmetternden Nachrichten so empfindungslos hinnahmen oder aber ihre Gefühle besser als er zu verbergen wussten. Vetter jedenfalls rief von seinem Bett: "Scheiß auf Wilna! Die solln uns hier mal ausschlafen lassen, das ist wichtiger!"

   Sie schrieben Urlaubsgesuche. Holt überlegte noch einmal: Was fang ich mit dem Urlaub an? Mutter? Nein. Vater? Nein. Holt hatte seit Weihnachten nichts mehr von ihm gehört und vor ein paar Wochen, als die mitteldeutschen Industriezentren bombardiert worden waren, nur durch eine der vorgedruckten Mitteilungskarten erfahren, dass sein Vater lebte. So blieb nur Wolzows Einladung. Wolzow und Gomulka hatten ihn immer wieder aufgefordert, mitzukommen. Solange man noch Freunde hat, ist alles gut! Freunde, dachte er mit leichtem Missbehagen. Gab es zwischen Wolzow und ihm nicht eine leise Entfremdung? Aber dann erinnerte er sich an die verwilderte Villa, die Sommertage am Fluss... und an Uta! Dieser Gedanke war unangenehm. Frau Ziesche fiel ihm ein.

   Er konnte unmöglich auf Urlaub fahren, ohne vorher mit ihr gesprochen zu haben. Vielleicht hatte sie Zeit, vielleicht konnten sie zusammen verreisen, wie Weihnachten... Er saß sinnend und dachte: Ob es noch einmal so wird wie damals? Seltsam, überall die gleiche Entfremdung! Er zog sich rasch die Ausgehuniform an. "Wo willst du hin?" fragte Wolzow. - "Zum Zahnarzt." Wolzow begann zu grinsen. Da schrillte die Alarmglocke. Wolzow lief in der Badehose zum Geschütz, das Drillich unter dem Arm.

   Die Sonne prallte senkrecht in den Geschützstand. Holt, in der Uniform aus Wollstoff, suchte vor den sengenden Strahlen vergeblich im Mannschaftsbunker Schutz; das Erdreich war so heiß, dass die Luft aus dem Bunker wie aus einem Backofen schlug. Er zog sich die Bluse aus. Schröder, einer der Schlesier, saß statt seiner an der Seitenrichtmaschine. "Feuerbereitschaft!" meldete Ziesche, der auch die Ausgehuniform trug. Sie setzten die Stahlhelme auf. - "Einzelne schnelle Feindflugzeuge. . ." - "Die obligaten Mosquitos", sagte Gomulka. Wolzow zog sich den Ladehandschuh wieder aus und setzte sich auf einen Holm.

   "De Havilland Mosquito", sagte er dann träumerisch. "Die sind als Aufklärer vollständig unbewaffnet. Sie fliegen so schnell, dass unsere Jäger sie nur im Sturzflug einholen können."

   Ziesche fragte: "Aus was für Kanälen stammt diese Weisheit eigentlich?" Wolzow warf den Zigarettenstummel auf den Boden. "Das hat im 'Völkischen Beobachter' gestanden! Aber du liest ja bloß immer die Schlagzeilen, die Kommentare musst du lesen! Du bist zwar ein guter Nationalsozialist, aber du könntest dir endlich ein bisschen militärische Sachlichkeit angewöhnen."

   "Rohre Richtung neun!" schrie Ziesche. In der Ferne erhob sich ein dunkles Grollen. "Die 12,8-Batterien in Bottrop schießen!" Wolzow zog sich wieder den Ladehandschuh an und dozierte weiter: "Damit stellst du dir nämlich ein unnötiges Armutszeugnis aus, wenn du die militärische Wahrheit als Zersetzung ansiehst. Nächstens sagst du noch, der Führer treibt Zersetzung, wenn er die Lage als ernst bezeichnet."

   In den Städten heulten die Sirenen Entwarnung. Ziesche schaltete am Mikrophon. "Anton verstanden. Feuerbereitschaft aufgehoben. Die schnellen Feindflugzeuge sind ins Reich eingeflogen... Zwei Mann bleiben an den Geschützen. Die anderen können essen gehen." - "Ich bleib", sagte Wolzow. "Sepp, bring mir das Essen her!"

   Holt zog die Bluse an und lief zur B 2. Gottesknecht furchte die Stirn. "Pünktlich siebzehn Uhr wieder hier, verstanden? Und hören Sie sich beim 'Zahnarzt' mal die Luftlagemeldungen an, wenn Kampfverbände einfliegen, dann kommen Sie sofort zurück!"

   Holt trabte im Laufschritt zur Straßenbahn. Vor dem Hauptbahnhof stieg er aus und lief zu Fuß weiter. Zehn Minuten später klingelte er bei Frau Ziesche. Sie lief in einem Strandanzug in der Wohnung umher und hatte in der Küche Bier auf Eis stehen. "Seit den letzten Angriffen will Ziesche unbedingt, dass ich hier weggeh! Ich soll zu ihm nach Krakau kom-men! Außerdem werde ich dauernd angemeckert wegen der großen Wohnung. Ziesche schreibt, es wäre besser, wenn ich zwei Zimmer abgehe, damit die Volksgenossen nicht sagen können, die Partei macht Schiebung."

   "Eigentlich könntest du hier bleiben, bis ich zum RAD geh", sagte Holt. "Wir sind vorige Woche gemustert worden. Es sind ja nur noch sechs Wochen."

   "Ausgerechnet nach Krakau!" sagte sie. "Dort sind doch bald die Russen! Da fühl ich mich hier im Keller noch wohler!" - "Hör doch mal zu" rief Holt. "Ich will was mit dir besprechen!"

   Sie hörte sich Holts Urlaubspläne an und überlegte lange. "Es wäre schön", sagte sie. "Ich kenne einen Ort im Bayrischen Wald... Nein ... Es geht nicht! Du hast Urlaub, fährst nicht nach Hause, und gleichzeitig verreise ich, Ziel unbekannt... Das muss ja auffallen!"

   Er war enttäuscht. "Ãœberleg dir doch Ausreden!" Sie schüttelte den Kopf. "Ich kann das nicht riskieren. Es wäre herrlich, aber es geht nicht." Nach einer Weile setzte sie hinzu: "Wenn Günter Ziesche nicht wäre!" - "Wenn, wenn!" sagte er. "Alles verdirbt er mir, dieser ekelhafte Kerl!" - "Sei friedlich", meinte sie. - "Dann bleib wenigstens hier, bis ich zum RAD geh", bat er, "ich hab sonst niemanden." - "Werde nicht sentimental, dazu ist gar kein Grund."

   Als der Drahtfunk meldete: "Ãœber dem Reichsgebiet befindet sich kein feindlicher Kampfverband", lag Holt neben Frau Ziesche auf dem Bett. Die Fenster waren weit geöffnet. Er versuchte noch einmal, sie zu überreden: "Hast du nicht irgendwo Verwandte, dass du sagen kannst..." - "Es geht wirklich nicht! Mir tut es selbst leid." Ihm war, als höre er Schritte in der Wohnung. Das musste ein Irrtum sein. "Und wenn du vorausfahren würdest", fragte er hartnäckig, "und ich komm später nach? Da kann doch keinem was auffallen!"

   Die Tür öffnete sich, und auf der Schwelle des Schlafzimmers stand Ziesche, tatsächlich, Luftwaffenoberhelfer Ziesche, den Stahlhelm am Riemen in der Rechten; Holt erschrak und zog nur die Steppdecke über Frau Ziesche.

   Ziesche sagte hilflos: "Aha... aha... aha!", und ehe sie noch recht begriffen hatten, war er verschwunden wie ein Spuk. Die Tür blieb offen. Draußen fiel die Vorsaaltür ins Schloss. Holt sagte wütend: "Dieses Schwein... Dieses schwule Schwein!"

   Frau Ziesche zitterte vor Schreck. Sie war bleich. "Um Gottes willen!" Er wollte sie beruhigen, aber sie hörte auf nichts und stammelte: "Erledigt... erledigt, er schreibt´s seinem Vater!" Dieser Gedanke schreckte nun auch Holt. Er überlegte schwerfällig, was da zu tun sei. Gilbert muss helfen, und Ziesche muss schwören, nichts zu verraten! dachte er zuerst. Aber dieser Gedanke war sinnlos. Auf Wolzow war nicht zu rechnen, und Ziesche würde sich lieber totschlagen lassen, ehe er darauf verzichtete, seine Stiefmutter samt Holt ans Messer zu liefern. Holt saß im Bett, die Knie bis unters Kinn gezogen, und dachte: Elend, verfluchtes!

   Frau Ziesche lag bewegungslos neben ihm. Sie sah auf einmal verfallen aus. "Er jagt mich weg", flüsterte sie, "er jagt mich einfach weg!" - "Warte ab", sagte Holt. "Er wird´s nicht erfahren, dafür lass mich sorgen." Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte, aber der Weg in die Stellung war lang, und unterwegs würde ihm schon etwas einfallen. Er stand auf, nahm seine Sachen und ging ins Bad. Er ließ sich eiskaltes Wasser über den Kopf laufen. Frau Ziesche folgte ihm, fröstelnd trotz der Hitze. "Er darf es nicht seinem Vater schreiben", sagte sie, ein wenig gefasster. Sie redete auf Holt ein: "Werner, was du tust, ist gleichgültig. Aber er darf es nicht seinem Vater schreiben! Du kennst den alten Ziesche nicht, er ist eitel und rachsüchtig." Angst griff nach Holt. Er kämmte sich, warf den Kamm hin und sagte: "Ich werde sehen."

   Er fuhr in die Batterie. Natürlich fiel ihm auch auf dem Wege nichts ein. Er dachte: Welch bodenloser Leichtsinn! Das durfte nicht passieren! Und: Ich werde erst einmal mit ihm reden.

   In der Stube saß Wolzow am Tisch und stocherte mit dem Zirkel auf der Karte herum. Gomulka las. Ziesche fehlte. "Lass ihn mal lieber in Ruhe", sagte Gomulka. "Er wollte auf Nachturlaub gehen, dann ist er wiedergekommen, mit einer Stinklaune. Jetzt sitzt er in der Kantine und schreibt." Ziesche schrieb also schon! Es war höchste Zeit.

   Es dämmerte in dem öden Kantinenraum. Hinter der Theke schlief der Küchenchef auf einem Stuhl. Vor einem der kleinen, verdreckten Fenster saß Ziesche an einem Tisch und schrieb. Als er Holt eintreten sah, raffte er seine Papiere zusammen. Holt setzte sich ihm wortlos gegenüber. Ziesches Gesicht war noch gedunsener als sonst, war blass und rotfleckig, und die Augen blickten voller Hass.

   Holt sagte: "Hör mal zu!" - "Hau ab", sagte Ziesche böse. "Hau bloß ab!" - "Sachte!" meinte Holt. Aber Ziesche brüllte los: "Verschwinde, du... du ... du Schwein! Mit dir red ich nicht! Du hast die Ehre meines Vaters ..." - "Lauter!" sagte Holt. "Noch lauter, damit der Küchenbulle was davon hat!" Der Obergefreite hinter der Theke war aufgewacht und schaute verständnislos auf die beiden Jungen. Dann schloss er seine Schränke ab und verließ die Kantine.

   "Ich will dir mal was sagen", meinte Holt. "Du hast was gesehen, was du besser nicht gesehen hättest. Wir beide denken da anders drüber, es hat gar keinen Zweck, dass wir uns lange unterhalten. Aber dass du dich hinsetzt und brühwarm alles deinem Alten schreibst, das ist... erbärmlich ist das! Wenn du dich beleidigt fühlst und für´n Groschen Mut hast, dann machst du das mit mir ab und lässt deinen Vater aus dem Spiel!"

   Es war ein rettender Gedanke: Wenn Ziesche zu bewegen war, die Sache als eine Art Ehrenhandel aufzufassen, dann war viel gewonnen. Aber Ziesche zischte Holt ins Gesicht: "Gib dir keine Mühe!" Und schon wieder schreiend: "Ich lass die Ehre meines Vaters nicht von dir antasten! Schluss! Jetzt ist endgültig Schluss, jetzt wird aufgerechnet, vorn ersten Tag an, deine ganze morsche Intellektualität... deine undeutsche Sittenlosigkeit... alles wird abgerechnet..." Seine Stimme überschlug sich. Holt verstummte vor diesem Ausbruch. Heiser fuhr Ziesche fort: "Dass du die Frau zur... zur... dass du sie zur Hure gemacht hast, dafür wirst du von meinem Vater die Quittung bekommen! Du und sie! Und das werdet ihr noch bereuen... bereuen... bitter werdet ihr das bereuen!"

   Holt war ratlos. Er sprang auf und packte Ziesche an der Bluse. Aber da schlug lärmend die Alarmglocke. "Da bist du grade noch mal um deine Prügel gekommen!" sagte Holt. Ziesche stopfte zitternd vor Wut seine Papiere unter die Bluse, dann lief er ans Geschütz.

   "Schneller Kampfverband über Nordwestfrankreich im Anflug auf die Reichsgrenze." Dabei blieb es. Drei Stunden verstrichen, es wurde Nacht. Die Flakwehrmänner schliefen im Mannschaftsbunker. Ziesche meldete: "Feuerbereitschaft!" In den Städten heulten die Sirenen. "Gleich Vollalarm?" sagte Gomulka verwundert. "Starke Kampfverbände über Holland im Anflug auf den Raum Köln-Essen", rief Ziesche. Wolzow trieb die Flakwehrmänner aus dem Bunker. Aber die Verbände änderten ihre Flugrichtung und flogen weit im Norden vorüber. "Scheinangriffe, Verschleierungsmanöver", sagte Gomulka. "Die veralbern uns und die Nachtjäger!" Die Sirenen heulten Entwarnung. Die Luftlagemeldungen sprachen später von Bombenabwürfen im Raum Groß-Berlin.

   Holt unterhielt sich mit Gomulka. Von der B 2 her hörte man Kutschera brüllen. Ein paar Scheinwerfer suchten den Himmel ab. Die Nacht war hell. Am Zenit standen Sterne. Ringsum lagerten Dunstbänke. Im Süden wurde ein Hochofen abgestochen, brennende Gichtgase färbten den Himmel blutig-rot. "Was haben die schon für Bomben geschmissen!" sagte Wolzow. "Und die Werke arbeiten immer noch!" Ziesche rief: "Ruhe... Weitere starke Kampfverbände über dem Kanal im Anflug auf den Raum Emden-Oldenburg." Ringsum in den Städten heulten wieder die Sirenen. Eine halbe Stunde später hieß es: "In Küstennähe starke Nebelbildung. Bomber suchen Ausweichziele." - "Da kommen sie hierher." Wolzow sprach mit den Flakwehrmännern: "Wenn sie Christbäume setzen sollten, dann wird erst die Munition aus der Zweitausstattung rangeholt, verstanden?" Das Auf und Ab der Sirenen: Vollalarm! Schon summten am Himmel die Bomberpulks, und nahe im Osten fielen Leuchtzeichen, gleißend hell, sie markierten die Siedlung, die wie eine Insel im Westen zwischen den Werken lag. Nervös tasteten Scheinwerfer über den Himmel und erloschen, ehe die optischen Feuerleitgeräte ein Ziel auffassen konnten. Das schwere Summen der Bombermotore wuchs von Nordwesten heran. Ringsum setzte wütendes Flakfeuer ein. Die fallenden Leuchtkaskaden erhellten den Geschützstand. Ziesche rief: "Schießen mit Funkmessgerät!" Und sofort: "Düppel-Störung! Starres Sperrfeuer Richtung drei!" Er brüllte die Richtwerte in den Geschützstand. "Barrikade... marsch!" Die Abschüsse verschmolzen mit den nahen Bombeneinschlägen zu einem einzigen lang anhaltenden Donner. Holt, mit einer Kopfbewegung, sah Wolzow breitbeinig hinter dem Geschütz stehen, ohne Helm, und sah ihn mit gleichmäßigen Bewegungen Patrone auf Patrone ins Rohr schieben.

   Feuerpause.

   Die Flakwehrmänner warfen stumm die leeren Kartuschen aus dem Geschützstand, irgendwer zählte: "Neununddreißig, vierzig, einundvierzig." Holt dachte erstaunt: Einundvierzig Schuss? Die Kaskaden erloschen. Im Osten war der Himmel nun brandrot, die Flammen schlugen gleich hinter dem zerfetzten Wäldchen, hinter den Schrebergärten hoch. Ein hohles Fauchen drang bis in die Stellung; in der großflächigen, dicht bebauten Siedlung entwickelte sich rasch ein Feuersturm. Einer der Flakwehrmänner, an der Wand des Geschützstandes, krümmte sich zusammen, die Hände vors Gesicht geschlagen. "Seine Leute... dort drüben", sagte jemand rauh. "Egal!" rief Wolzow. "Reiß dich zusammen!" Er fettete den Verschluss ein. Wieder zitterte die Luft im Motorengeräusch. "Düppel-Störung!" schrie Ziesche, mit einer kratzigen Stimme, und Holt dachte schadenfroh: Hat er sich vorhin heiser gebrüllt! "Barrikadenfeuer! Höhe fünfunddreißig-dreißig, Seite achtundvierzig-zwanzig, Zünder zwohundert Grad vom Kreuz!" Holt rückte den Kopfhörer zurecht. "Barrikade... marsch!" schrie Ziesche. Aufs Neue stiebte bei jedem Abschuss der trockene Staub ins Gesicht. Die Augen brannten, geblendet vom Mündungsfeuer. Er hörte nicht, dass Ziesche Feuerpause befahl. Auf einmal war es still. In die Stille keuchte Wolzow: "Jetzt haben die Schweine Sprengbomben in die Flammen geschmissen!"

   Abermals neue Einflüge. Ãœber Frankreich steuerten starke Kampfverbände den Raum Koblenz-Saarbrücken an. "Die haben heut Nacht aber viel vor", sagte Gomulka. Wolzow zog mit einem Flakwehrmann den Wischer durchs Rohr.

   Erst morgens gegen vier, als es schon taghell war, wurden die letzten Pulks im Abflug gemeldet.

   Holt hatte keine Vorstellung, wie der Streit mit Ziesche beizulegen sei. Als sie die Plane über die Kanone zogen, beobachtete er Ziesche und atmete auf, als er ihn wie alle anderen in die Stube gehen sah, wo er sich erschöpft aufs Bett warf.

   Den Papierkram musste er noch unter seiner Bluse tragen. Einen Augenblick dachte Holt daran, ihm den angefangenen Brief mit Gewalt zu entreißen.

   Ziesche schlief, leise schnarchend. Alle schliefen. Nur Holt lag abgespannt und übermüdet wach und suchte einen Ausweg. Er erwog, sich doch noch Wolzow anzuvertrauen, ihn abermals beim Wort zu nehmen... Gegen sieben Uhr trieb ihn die Alarmglocke wieder ans Geschütz.

   Der Morgen war frisch und klar. Im Osten, wo die Siedlung bombardiert worden war, lagerte eine undurchdringliche Rauchbank und verschleierte den Horizont. Die Leitungsprobe mit den optischen Feuerleitgeräten war kaum vorüber, als schon einzelne schnelle Maschinen gemeldet wurden. Sie flogen den Rhein entlang nach Süden. Ziesche meldete starke Kampf- und Jagdverbände über Südostholland. Gomulka sagte: "Bomber mit Jagdschutz? Da werden sich unsere Jäger freuen!" - Wenn´s nur nicht wieder Tiefangriffe gibt, dachte Holt sorgenvoll.

   Wolzow begann zu fluchen. Jetzt, da die Flakwehrmänner die Stellung verlassen hatten und die Jungen allein am Geschütz waren, stellte es sich heraus, dass nachts die Munition aus den Bunkern am Geschütz verschossen worden war. "Also los", befahl Ziesche, "Patronen von der Zweitausstattung ranholen! Tempo!" Während sie die Körbe über den Acker zum Geschütz schleppten, wurde das Auf und Ab der Sirenen laut. Zugleich erhob sich auf der Befehlsstelle das übliche Geschrei.

   Holt warf den zentnerschweren Korb auf den Acker und lief zum Geschütz. Er brachte in der Aufregung nicht den Stecker des Kopfhörers in den Kontakt an der Seitenrichtmaschine. "Rohre Richtung neun!" schrie Ziesche. Irgendwer sagte: "Pfadfinder!" Nur schwaches Motorengeräusch drang an Holts Ohr. Er blickte auf. Drei Maschinen zogen über den Himmel, sehr schnell. Wahrscheinlich Lightnings! In der klaren Luft standen auf einmal schmale, hohe, scharf begrenzte Rauchsäulen. Holt begriff nur langsam. "Sie stecken uns ab, mit Rauchzeichen!" brüllte Ziesche außer sich. Holt sah sich erstaunt nach allen Seiten um: überall standen die Rauchzeichen über der Stellung, vor ihm, beim Kugelbaum musste das sein, riesenhaft, und hinter ihm, bei der Kantine, und nun erst begriff er, dass dies Zielmarkierungen und sie selbst das Ziel waren... Auch Wolzows Stimme war heiser: "Heut sind wir dran!" Fern, rasch stärker werdend, erscholl Motorenlärm. "Fliegeralarm Flugzeug neun"! schrie Ziesche verzweifelt. "Schießen mit Kommandohilfsgerät, direkter Anflug!" In Holts Kopfhörer sprach es klar und deutlich: "Seite steht bei neunundvierzig dreißig..." - "Anton feuerbereit!" schrie Ziesche. "Gruppenfeuer..." - "Schön zügig Patronen her!" rief Wolzow, und Ziesche brüllte überschnappend: "Gruppe!" Holt zog den Kopf zwischen die Schultern und drückte sich eng ans Geschütz. Der Schuss schmetterte und ließ die Kanone aufbocken, die Kartusche klirrte auf einen Holm. In Holt zog Ruhe ein: Gilbert schießt! Noch ehe er das gewaltige Rauschen wahrnahm, diesen heranheulenden Orkan, erlosch der helle Morgen, die Erde hob sich und schwankte und bebte, und Holt war es, als falle er ins Bodenlose... Als er sich aufraffte und nicht wusste, was geschehen war, zitterte die Luft unter den nahen Bombermotoren, und ringsum gab es keinen Geschützstand mehr, nur noch umgepflügte Erde und zersplitterte Balken, und mittendrin kauerte Wolzow am Boden, und vor ihm kniete Gomulka und wickelte ihm ein Verbandpäckchen um die Stirn. Holt spuckte Schlacke und Erde aus. Wo war die Kanone? Er sah sie umgestürzt, statt des schlanken Rohres ragte ein Holm der Kreuzlafette in den Himmel, dahinter lagen ein paar blaugraue Gestalten bewegungslos auf der schwarzen Schlacke. Er kroch zu Wolzow hin, der sich den Helm auf den verbundenen Kopf stülpte: "Los! Zu Berta!" Holt taumelte mühsam hoch, warf einen Blick auf die leblosen Gestalten hinter und unter dem umgestürzten Geschütz, dann lief er über den zerklüfteten Acker. Er sah am Himmel, breit auseinandergeweht, die Rauchzeichen, er sah eine Kette viermotoriger Bomber in geringer Höhe die Stellung anfliegen und warf sich zu Boden. Die Abschüsse zweier Geschütze erschreckten ihn so sehr, dass er sich in einen riesigen Bombentrichter hinabrollte. Dort lag Wolzow, mit blutigem Gesicht, und schrie: "Die zweite Welle!" Der Motorenlärm der tief anfliegenden Bomber war so stark, dass Holt kaum verstand. Wie ein Windstoß fegte es über ihn hin. Zugleich traf ihn die Schallwelle mit solcher Gewalt, dass er sekundenlang nach Atem rang. An seinem Ohr stöhnte Wolzow: "Munition... Jetzt ist Munition in die Luft geflogen ..." Das Dröhnen der Motoren ließ nicht nach. Ein einzelnes Geschütz schoss und verstummte. Holt und Wolzow kletterten aus dem Trichter und liefen zu Geschütz Berta.

   Dort hatten Gomulka und Vetter und zwei von den Schlesiern Schutz vor den Bomben gesucht und machten nun in fieberhafter Eile die Kanone feuerbereit. Wolzow wuchtete den Verschluss auf. "Werner Geschützführer! Sepp K 1! Christian K 6! Los doch, Schröder, steh nicht rum und mach K 2! Du hier, du bist K 7..." Holt legte das Kehlkopfmikrophon um den Hals. Welch Wunder, die Leitung hatte Strom! Mit unbeschreiblicher Erleichterung vernahm er, Gottesknechts Stimme. Wolzow rief: "Wir brauchen Munitionskanoniere!" - "Hier Berta!" meldete sich Holt. "Besetzt mit sechs Kanonieren von Anton. Wir brauchen Munitionskanoniere!" - "Ich schick euch Leute vom Funkmessgerät", sagte Gottesknecht. "Berta! Wer ist Geschützführer? Sind Sie das, Holt?" - "Jawohl." - "Wie sind die Verluste an Anton?" - "Ich weiß nicht." Es summte in der Leitung. "Geschütze... melden!" - "Hier Berta!" Nur das Geschütz Cäsar folgte. Auf der B 2 brüllte Kutschera: "Wollt ihr wohl zu Dora und Emil Notleitungen legen!"

   Ein paar Luftwaffenhelfer drängten sich in den Geschützstand. "Was gibt´s auf der B 2?" fragte Gomulka. Es gab nur Schäden durch Luftdruck. Bei Geschütz Frieda waren die Munitionsbunker detoniert. Die Leute vom Funkmessgerät sagten apathisch: "Dort rührt sich nichts mehr!" Wieder nahte Motorenlärm. Gottesknechts Stimme, im Kopfhörer, fremd und rauh: "Fliegeralarm! Flugzeug neun! Direkter Anflug!... Die dritte Welle!" Holt brüllte die Kommandos heraus, ohne es zu wissen. Die Kanoniere meldeten eingestellt. "Berta feuerbereit!" Er blickte zum Himmel, dort zog abermals eine Kette viermotoriger Bomber heran. "Gruppenfeuer!... Gruppe!" Wolzow lud rasch und sicher. Nur zwei. Kanonen schossen. "Gruppe!" Wolzow zog schon ab. Das Rohr fuhr immer höher empor. "Wendepunkt!" Die Kanone schwenkte nach Osten. Das Rauschen der Bomben war im Schießen untergegangen, ringsum wuchsen die Rauchpilze und Erdfontänen zum Himmel, der Geschützstand bebte. Holt keuchte: "Gruppe!" Tatsächlich, Wolzow lud und zog ab; Gottesknechts Stimme sagte im Kopfhörer: "Diesmal ging´s weit daneben!" Wolzow schob in einer wahren Raserei Patrone um Patrone ins Rohr und schoss ohne Befehl und ohne Pause, bis Vetter meldete: "Zünder über Bereich!"

   "Feuerpause!" Gottesknechts Stimme im Kopfhörer: "Einen Moment! Luftlage!" Es dauerte lange, bis er sich wieder meldete. "Alle Verbände im Abflug. Feuerbereitschaft aufgehoben." - "Berta verstanden." Holt war auf einmal unsagbar müde. Er riss die Hörergarnitur herunter und reichte sie Wolzow, der auf einem Holm saß, den verbundenen Kopf in die Hände gestützt.

   Holt lief zu Anton.

   Er fand sich in der Stellung nicht zurecht. Zwischen den Geschützen war die Erde wie umgepflügt. Bombentrichter gähnten. Der Geschützstand von Anton war ein Haufen Erde, aus dem zersplitterte Teile der Holzverschalung ragten. Holt kletterte über die Reste des Erdwalles zu der umgestürzten Kanone. Er stieß auf Rutscher, der mit dem Unterkörper zwischen dem Pfahlwerk des Bunkers und der Lafette eingeklemmt und zerquetscht worden war. Der Anblick war schrecklich. Holt wurde übel. Er erinnerte sich unvermittelt an Rutschers große und schöne Schwester... Er stieg über den Leichnam hinweg. Vor einem eingedrückten Munitionsbunker, aus dem die blanken Granatpatronen massenweise herausgerutscht waren, lagen zwei weitere Gestalten. Die eine, kleinere war nicht zu erkennen, denn das Gesicht war zertrümmert und der Stahlhelm bis über die Augen herab geglitten. Daneben lag Günter Ziesche, noch durch die Geschützführerleitung mit der Kanone verbunden. Er lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken, in einer Blutlache, und das Blut war aus Ohren, Nase und Mund geflossen. Das Gesicht war seltsam in die Breite gezogen. Wie ist das nur geschehen? dachte Holt... Rutscher und Ziesche, dachte er... Er kauerte sich auf den Boden, öffnete Ziesche die Bluse, zog die Papiere hervor und steckte sie in die Hosentasche. Dann nahm er ihm die Erkennungsmarke ab, auch dem Kleinen, den er nicht erkennen konnte.

   Gomulka war plötzlich bei Holt, noch andere Luftwaffenhelfer und ein paar Mann vom Batteriekommando. Gomulka sah Rutscher, und sein Gesicht wurde grau. Gottesknecht stand erhöht auf dem Erdhaufen, der einmal ein Geschützstand gewesen war, das Notizbuch in den Händen. Holt reichte ihm die beiden Erkennungsmarken. "Der Rutscher... Herr Wachtmeister..." - "Es ist gut. Kümmern Sie sich um Berta."

   Gomulka sprang in einen Trichter, es würgte ihn, er erbrach sich. Dann sagte er: "Bei Frieda... die ganze Bedienung... in Stücke gerissen!"

   Holt dachte auf einmal weit zurück. Ich hab das Elternhaus satt gehabt, ich hab die Schule satt gehabt, ich hab es nicht mehr erwarten können, ich hab mich nach dem Krieg gesehnt...

   Bei Berta saßen alle bedrückt und schweigend an der Kanone. Nur Wolzow tat, als wäre nichts geschehen. "Sechsunddreißig Bombentrichter", sagte er. "Bomben von fünfzehn oder zwanzig Zentnern! Und der Erfolg? Zwei Geschütze sind ausgefallen. Das nenn ich aus dem Vollen wirtschaften!" - "Lass dich verbinden", sagte Holt. Durch Wolzows Verband sickerte Blut. Das Haar war verklebt, das Gesicht blutbeschmiert. Wolzow verließ den Geschützstand. Holt teilte die Bedienung neu ein.

   Fehlt ein ordentlicher K 7, dachte er, nachts haben wir Flakwehrmänner, und was wird tagsüber? Er brüllte: "Los! Geschützreinigen!" Die Schlesier zogen gehorsam den Wischer durchs Rohr.

   Auf dem Fahrweg hielten Sanitätsautos. Gomulka sagte: "Ich werde nie begreifen, was bei Anton passiert ist!" Da traten Kutschera und Gottesknecht in den Geschützstand. Der Hauptmann brüllte: "Heißer Morgen, was? Die Banditen haben meinen Hund erschlagen, das verzeih ich denen nie!" Holt sagte: "Wir brauchen einen K 3, einen K 7 und Munitionskanoniere!" Gottesknecht notierte. "Herr Wachtmeister", sagte Holt, als Kutschera gegangen war, "darf ich mal telefonieren?" Gottesknecht sah ihn zerstreut an. "Warten Sie. Die Leitungen sind noch überbeansprucht." Er dachte nach. "Wenn Sie telefonieren, dann können Sie mir eine... Benachrichtigung abnehmen."

   Die Baracke war so sehr durchgeschüttelt worden, dass ihr Inneres einem Trümmerfeld glich. Es dauerte zwei Stunden, ehe sie ein wenig Ordnung geschaffen hatten. Ein Bombentreffer hatte die Latrine weggefegt, der Unrat klebte an den Barackenwänden. Wolzow, noch immer mit durchblutetem Verband, stützte beide Hände in die Hüften. "Das ist ein uraltes Kampfmittel", sagte er. "Schon die alten Römer haben mittels so genannter Ballisten Scheiße in belagerte Städte geschossen." Holt schrie ihn an: "Scher dich ins Revier!" Er lief in die Schreibstube, wo Gottesknecht über den Mannschaftslisten saß. "Dreizehn Tote, Holt, es ist furchtbar!" Er klopfte mit dem Stift auf die Liste. "Die Bedienung Frieda bis auf den letzten Mann. Neun von den Schlesiern, die waren alle erst sechzehn." Holt fragte beklommen: "Wie ist das passiert?" - "Volltreffer. Es müssen Neunhundert-Kilo-Bomben gewesen sein." - "Und bei uns, bei Anton? Ich versteh das nicht." -"Eine Bombe ist dicht hinter den Erdwall im Norden gefallen; was an der Nordwand stand, ist gewissermaßen in Feuerlee gewesen... Wer weiter weg stand, muss in den Druck- und Splitterbereich geraten sein." - "Da hat der Sepp ein Riesenglück gehabt! Er stand links an der Höhenrichtmaschine." Gottesknecht sagte: "Ihr alle habt ein Riesenglück gehabt." Er erhob sich. "Ich lasse Sie allein, tun Sie mir den Gefallen."

   Holt wartete lange auf eine freie Amtsleitung. Nun war das Gestern wieder gegenwärtig, so fern, als sei ein Jahr darüber hingegangen. Er wählte. Jetzt könnte sie doch mit mir verreisen, dachte er, aber das Blut stieg ihm zu Kopf bei diesem Gedanken. Frau Ziesche meldete sich: "Ich hab kein Auge zugetan, die ganze Nacht! Was ist los? Seid ihr auch bombardiert worden? Ich hör die tollsten Gerüchte!" - "Ja. Es war schlimm. Wir haben dreizehn Tote." - "Und Ziesche? Was ist mit Ziesche? Er darf auf gar keinen Fall an seinen Vater schreiben!" Er unterbrach sie. "Ziesche kann nicht mehr an seinen Vater schreiben. Er ist tot" - "Tot?" fragte sie und zog das Wort in die Länge. "Bist du sicher, dass er nicht schon gestern Abend geschrieben hat?" Er stand starr. "Nein. Er hat nicht geschrieben." Die Verbindung wurde unterbrochen, die Untergruppe verlangte den Chef. Holt schaltete den Apparat nach Kutscheras Baracke.

   Er stand unbeweglich in der Schreibstube. Welch Glück, dass die Verbindung abgerissen war! Plötzlich schlugen seine Zähne aufeinander. Er fror. Er trat ins Freie.

   Die Stellung wimmelte von Kriegsgefangenen, die an den Bombentrichtern schaufelten. Am Geschütz Anton wartete eine der schweren Zugmaschinen. Ein Dutzend drillichgekleideter Flaksoldaten von der Untergruppe richtete mit Hebebäumen und Seilwinden die umgestürzte Kanone auf. Auch Gottesknecht stand dort, mit Vetter und Gomulka. Ein paar Gefangene arbeiteten schon an dem zertrümmerten Geschützstand. Holt ging zu Gottesknecht. Wolzow meldete sich ab ins Revier. Gottesknecht musterte Holt und sagte: "Jetzt müssen Sie die Zähne zusammenbeißen!" Holt lief davon... Es ist ja vorbei! Er warf sich auf sein Bett.

13

   Wolzow kehrte schon am folgenden Tag in die Batterie zurück. Er sah ziemlich mitgenommen aus. Man hatte ihm Dutzende von kleinen Holzsplittern aus Stirn- und Kopfhaut gezogen. "Da ist nicht ein Bett mehr frei im Revier", erzählte er. "Die 109. Batterie hat fünf Tote, die 136. vierzehn. Die Verletzten haben sie bis nach Bochum in ein Reservelazarett bringen müssen."

   Am Abend schaltete er Ziesches kleines Radio ein. "Der Kasten dürfte hin sein!" sagte Gomulka. Aber auf einmal tönte aus dem Lautsprecher die harte Stimme des Sprechers. Holt fuhr kerzengerade auf seinem Bett empor. "... Juli neunzehnhundertvierundvierzig. Auf den Führer wurde heute ein Sprengstoffanschlag verübt. Aus seiner Umgebung wurden hierbei verletzt: Generalleutnant..."

   "Das ist... ", rief Gomulka. "Still!" fuhr Wolzow ihn an. "...Mitarbeiter Berger. Leichtere Verletzungen trugen davon: Generaloberst Jodl, die Generale Korten..." Holt blickte immer abwechselnd auf Wolzow und Gomulka. Wolzow beugte sich aufmerksam über das Radio. Gomulka hielt den Mund offen und starrte wie hypnotisiert auf einen Fleck an der Wand. "...Bodenschatz, Heusinger, Scherff..." Vetter richtete sich auf, ganz langsam, und sein Gesicht spiegelte Verständnislosigkeit. "...Führer selbst hat außer leichten Verbrennungen und Prellungen keine Verletzungen erlitten", sagte der Sprecher im Radio. "Er hat unverzüglich darauf seine Arbeit wieder aufgenommen und wie vorgesehen den Duce zu einer längeren Aussprache empfangen..." - "Den Duce?" sagte Vetter. "Er hat den Duce... ?" Wolzow herrschte ihn an: "Ruhe!" - "... traf der Reichsmarschall beim Führer ein."

   Schluss, aus.

   Die harte Stimme war verstummt. Wolzow stand schweigend, den Kopf schräg gelegt. Aus dem Radio ertönte Marschmusik. Vetter fragte, als habe er nichts verstanden: "Ein Attentat? Ein Bombenattentat? So ein richtiges Bombenattentat?" Wolzow entschloss sich: "Das müssen wir melden! Wer weiß, ob das außer uns jemand gehört hat!" Er nahm seine Mütze. "Komm, Werner!"

   Draußen war es noch immer heiß. Die Sonne stand in den Dunstbänken über dem Horizont. Holt packte Wolzow am Arm. "Was hat das zu bedeuten?" - Woher soll ich das wissen?" sagte Wolzow. Sie liefen über den Lattenrost, der außerhalb der Feuerstellung unbeschädigt auf dem Acker lag. Zwischen den Geschützständen schaufelten die Gefangenen an den Trichtern.

   Gottesknecht stand vor der Schreibstube und rauchte seine kurze Pfeife. "Na, ihr Dioskuren?" fragte er freundlich. "Holt, wie sehn Sie denn aus? Ist Ihnen der Schock gestern so tief in die Galle gefahren?"

   Wolzow trat einen Schritt an Gottesknecht heran. Der Wachtmeister nahm die Pfeife aus dem Mund und zog ein eigenartiges, gespanntes Gesicht. Er blieb eine Weile schweigend stehen. Dann meinte er: "Es ist gut. Der Chef ist zur Untergruppe gerufen worden und noch nicht zurück. ." Er rührte sich nicht vom Fleck. "Der... Führer lebt, sagen Sie?" - "Jawohl. Aber ein paar Generäle sind verletzt, Jodl, Heusinger, Admiral Voß, ich hab mir nicht alle Namen merken können..." Gottesknecht nickt abwesend, tief in Gedanken. Dann rückte er seine Mütze zurecht und verschwand wortlos in der Schreibstube. Wolzow sagte: "Beim Major, da wird der Chef vielleicht schon Einzelheiten erfahren." - "Ich versteh das alles nicht", sagte Holt hilflos. "Denkst du, ich?" meinte Wolzow.

   In der Stube plärrte das Radio noch immer Marschmusik. Vetter und Gomulka stritten miteinander. "Und Badoglio?" schrie Vetter. "Wie war das bei Badoglio?" Gomulka machte eine abweisende Handbewegung. Er sah erschöpft und verfallen aus. "Hört doch mit dem Gequatsche auf", sagte Wolzow. Er dämpfte die Musik. Holt saß verwirrt und apathisch auf einem Schemel. Ein paar Flakwehrmänner polterten durch den Korridor in die große Stube. Holt sah auf die Uhr, es war noch nicht acht. Wolzow fuhr ihn plötzlich an: "Sitzt der Kerl hier rum! Du bist mir ein schöner Geschützführer! Hast du denn deine Nachtbedienung schon beisammen?" Holt erhob sich widerwillig.

   Während der Leitungsprobe ging Gottesknecht von Geschütz zu Geschütz. "Sie bekommen einstweilen drei Mann von Dora, und Flakwehrmänner. Morgen früh wird neu eingeteilt."

   Holt war so müde, dass er nur noch einen Gedanken kannte: Schlafen, mag kommen, was will! In der Stube warf er sich aufs Bett. Schon nach einer Stunde knuffte ihn Wolzow in die Rippen: "Raus! Gefechtsschaltung!" Der übliche schnelle Kampfverband flog über das Ruhrgebiet hinweg.

   Im Geschützstand warteten die Flakwehrmänner, die nun die Nachricht von dem Attentat in der Batterie verbreiteten. Vetter sagte: "Also, mir ist das jetzt restlos klar. Das sind diese Bolschewisten gewesen." Wolzow meinte: "Und wie kommen die Bolschewisten ins Führerhauptquartier? Wo gibt´s denn so was!" - "Also dann waren das diese Kommunisten", sagte Vetter.

   Einer der Flakwehrmänner sagte leise und gleichgültig: "Kommunisten? Deutsche Kommunisten? Die sind alle im KZ oder im Zuchthaus." - "Da gehören sie ja wohl auch hin!" rief Wolzow scharf.

   Erst kurz vor Mitternacht meldete der Luftwarndienst den schnellen Kampfverband im Abflug über der deutschen Bucht. Wolzow und Holt zerrten die Persenning über die Kanone. Vetter sagte: "Die Flakwehrmänner sind komisch." - "Proleten", knurrte Wolzow.

   In der Stube drehte Vetter an dem kleinen Radio, aus dem noch immer Marschmusik ertönte. Er sagte aufgeregt: "Der Führer spricht!" Da wurde schon die Tür aufgerissen. Auf der Schwelle stand Kutschera, groß und bedrohlich. Vetter brüllte: "Achtung!" Der Hauptmann winkte ab. "Alles in die Kantine! Gemeinschaftsempfang!"

   Holt hatte sich nur die schweren, benagelten Schuhe ausgezogen und war angekleidet auf sein Bett geklettert. Ãœbermüdung und Abgespanntheit hatten einen solchen Grad erreicht, dass er alles distanziert wie ein Zuschauer im Kino erlebte, unbeteiligt, gleichsam von fern, ohne innere Anteilnahme. Geht mich alles nichts an, dachte er. Ich wach plötzlich auf, da sitzt Ziesche auf seinem Bett und quatscht: Der nordische Mensch ist zur Neuordnung Europas bestimmt, oder so ähnlich... Holt sprang vom Bett. Ist das tatsächlich erst gestern passiert? Ein Tag ist wie tausend Jahre, aber warum hat Kutschera nicht den UvD geschickt?

   "Vetter!" schrie Kutschera, und seine Stimme dröhnte wie ein Gong. "Was sagen Sie zu dem Anschlag auf unseren Führer Adolf Hitler?"

   "Ich?" stammelte Vetter. "Was ich...? Meinen Sie, was ich...?" - "Sie pennen wohl!" schimpfte Kutschera. Gomulka sagte unaufgefordert: "Herr Hauptmann, in den letzten vier Tagen haben wir keine fünf Stunden geschlafen!" Kutschera wandte Gomulka das Pferdegesicht zu, aber da rief Gottesknecht auf dem Korridor: "Herr Hauptmann, jeden Augenblick beginnt die Führerrede!"

   In der Kantine drängten sich übermüdete Luftwaffenhelfer, Obergefreite und Flakwehrmänner. Gottesknecht bediente den großen Radioapparat, der sonst in der Chefbaracke stand.

   Holt hatte weit hinten, in einer Ecke, Platz genommen, wo er sich wenig beobachtet fühlte. Er machte es sich auf dem harten Stuhl so bequem wie möglich. Wolzow saß neben ihm. Holt war nur noch halb wach, die klirrende Musik aus dem Lautsprecher wirkte einschläfernd. In diesem Schwebezustand zwischen Wachen und Schlafen war die Phantasie seltsam rege. Nun verstummte die Marschmusik. Der Ansager redete und redete. Großdeutscher Rundfunk, angeschlossen die Sender... Sender und immer mehr Sender, dann war es still, eine lange Weile, und Holt dachte: Es geht gleich los!... Er legte den Kopf auf die Seite, so sah er Wolzows Profil. Sein Verstand taumelte an der Schlafgrenze entlang. Wolzow ist der beste Mann in der Geschützstaffel, deutsche Volksgenossen und Volksgenossinnen, und so einen Ladekanonier soll sich eine Batterie erst einmal suchen! Ich weiß nicht, zum wievielten Male nunmehr ein Attentat auf mich geplant und zur Durchführung gekommen ist, zum wievielten Male?, na, aber das muss der Führer doch eigentlich wissen, komisch, so was merkt man sich doch, also, ich würde mir das genau merken, ein Bombenattentat passiert ja schließlich nicht alle Tage... Holt riss die Augen auf. Der Führer spricht! dachte er. Es war ein Zauberwort von Kindheit an: Der Führer spricht! Und zwar spricht er heute besonders aus zwei Gründen: erstens, damit Sie meine Stimme hören und wissen, dass ich selbst unverletzt und gesund bin, zweitens damit Sie aber auch das Nähere erfahren über ein Verbrechen, das in der deutschen Geschichte.. hoppla, nicht einschlafen!... Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und verbrecherischer dummer Offiziere ... Holt fuhr aus dem Halbschlaf hoch... hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen... Holt versuchte, den Schlaf abzuschütteln, es gelang, nur die Augen brannten, aber der Verstand war für ein paar Augenblicke hellwach, Holt hatte das Gefühl, jemand habe ihm einen Eimer eiskalten Wassers über den Kopf gegossen. Offiziere? Ein Komplott deutscher Offiziere gegen den größten Führer aller Zeiten?

   "Die Bombe, die von dem Oberst Graf Stauffenberg gelegt wurde, krepierte zwei Meter von meiner..."

   Stauffenberg? Holt war nicht fähig, sosehr er sich auch Mühe gab, der Rede Wort für Wort zu folgen. Einzelne Satzfetzen hakten sich in seinem Denken fest. Oberst Graf Stauffenberg? Ein Oberst legt eine Bombe? Was hat das zu bedeuten, wie ist das zu verstehen, was war damit bezweckt...?

   "...bis auf ganz kleine Hautabschürfungen und Verbrennungen. Ich fasse das als eine Bestätigung des Auftrages der Vorsehung auf, mein Lebensziel ..."

   Vorsehung, dachte Holt. Er erschlaffte. Müdigkeit und Erschöpfung waren so stark, dass sie auch die Erregung niederzwangen. Ein Schleier zog sich über sein Bewusstsein, seine Gedanken liefen bunt wie im Traum durcheinander. Vorsehung, Schicksal ... Dass Ziesche heute morgen umgekommen ist, das ist auch die Vorsehung gewesen, sonst wär mir´s nämlich dreckig gegangen, Gertie und mir... Es ist eben doch gut, dass es eine Vorsehung gibt... Glaube an die Vorsehung, Glaube an Gott... Ich glaube an einen Sinn der Geschichte, das hab ich doch irgendwann einmal gehört, der Doktor Goebbels muss das gesagt haben, in einer Rede... Ich glaube ... aber mein Vater, mein Vater?... der hat immer das Gesicht verzogen, wenn einer vom Glauben sprach, von der Vorsehung... Kunststück: Der Intellektuelle glaubt nicht, weil er nicht glauben kann, das hab ich auch gelesen, bei Hanns Johst, und mein Vater ist überhaupt ein typischer Defätist, ein richtiger Miesmacher! In der Schule musste ich mal zwei Seiten Hanns Johst auswendig lernen: Es gibt in der Provinz des Glaubens keine Problematik, sondern eine Gnade, ja, keine Problematik, sondern eine Gnade, das hab ich damals nicht verstanden, heute versteh ich´s: man muss an den Führer glauben, an die Vorsehung, an den Endsieg, an die Me 163, an die V 1, an den neuen Ein-Mann-Torpedo, auch wenn die Russen bei Wilna weiter nach Westen vordringen, na, und mit der Invasion, vonwegen: die Brust hebt sich im Vorgefühl der entscheidenden Stunde...

   "Schlaf nicht!" Holt wurde in die Seite gestoßen, das war Wolzow. Na ja doch! Der Führer spricht! Holt sah sich blinzelnd um: alles starrte wie gebannt auf das Radio. Die heisere Stimme im Lautsprecher schrie: "... wie im Jahre 1918 den Dolchstoß in den Rücken zu führen..."

   Richtig, der Dolchstoß! dachte Holt schläfrig. Das war wohl die größte Gemeinheit damals! Wenn man sich das so überlegt, ein Dutzend Zuhälter und Deserteure, und sie haben der Front einfach die Waffe aus der Hand gewunden... aber im Lesebuch stand: Und ihr habt doch gesiegt... und schlägt´s dich in Scherben, ich steh für zwei, und geht´s zum Sterben, ich bin dabei...

   "...ganz kleiner Klüngel verbrecherischer Elemente, die jetzt unbarmherzig ausgerottet werden..."

   Ausgerottet: das hörte Holt noch, dann nickte er ein. Aber Wolzow stieß ihn derb in die Seite: "Mensch, hör zu!" Holt raffte sich noch einmal auf und mühte sich, der Stimme im Radio zu folgen. "...befehle daher in diesem Augenblick: Erstens, dass keine Zivilstelle irgendeinen Befehl entgegenzunehmen hat von einer Dienststelle, die sich diese Usurpatoren anmaßen. Zweitens, dass keine Militärstelle, kein Führer einer Truppe, kein Soldat irgendeinen Befehl dieser Usurpatoren..."

   Was bedeutet bloß Usurpatoren? grübelte Holt, das muss doch aus dem Lateinischen kommen, ach ja, usu rapere, damit war Wiese mal dran, Peter Wiese, der hat´s gut, der ist daheim und kann schlafen! "...entweder sofort zu verhaften oder bei Widerstand augenblicklich niederzumachen..." Niederzumachen, auszurotten, dachte Holt, er begann zu frieren, aber das ließ ihn wieder munter werden. "...freudig begrüßen", hörte er verständnislos, da er den Zusammenhang verloren hatte, "dass es mir vergönnt war, einem Schicksal zu entgehen, das nicht für mich Schreckliches in sich barg, sondern das den Schrecken für das deutsche Volk gebracht hätte. Ich ersehe daraus auch einen Fingerzeig der Vorsehung, dass ich mein Werk weiterführen muss und daher weiterführen werde..." Stille. Eine andere Stimme: "Großdeutscher Rundfunk..." Vorbei!

   Ringsum setzte heftiger, wenn auch gedämpfter Stimmenlärm ein, alles redete durcheinander. Holt klapperte mit den Zähnen. "Batterie...", rief Gottesknecht langgezogen, und der Stimmenlärm verstummte, "... Achtung!" Ein einziges, donnerndes Füßeaufstampfen. Luftwaffenhelfer und Flakwehrmänner standen bewegungslos. Kutscheras Stimme, rauh und brüllend wie je, füllte den niedrigen Kantinenraum. "Befehle werden nur von direkten Vorgesetzten entgegengenommen!" Pause. Dann: "Die schwere Heimatflakbatterie 107 steht in bedingungsloser Treue zum Führer! Sollte jemand in der Batterie..." Pause. Dann "...oder sollte irgendeiner unter den Flakwehrmännern glauben, jetzt könnte man bisschen aufwiegeln, Zersetzung treiben..." Pause. Dann: "Den leg ich selber um, an Ort und Stelle! Da bin ich mir gar nicht zu fein dazu!"

   Die Tür fiel ins Schloss. Gottesknecht ließ auf die Stuben wegtreten. Holt sah auf die Uhr. Es war null Uhr dreißig Minuten. Luftwaffenhelfer und Flakwehrmänner verloren sich in der Weite des Batteriegeländes, kletterten in der Dunkelheit durch das Kratergebirge der halb zugeschütteten Bombentrichter. Auf der B 2, bewegungslos, mit umgehängtem Gewehr, stand ein Obergefreiter Posten.

   Zwei, drei Tage vergingen. Nacht für Nacht dröhnte der Himmel, fielen Leuchtzeichen, lohte das Feuer der Brände.

   Holt schlief erschöpft. Als ihn jemand wachrüttelte, lag er mit dem Gesicht zur Wand, und es dauerte lange, bis er munter wurde. Er wälzte sich herum, sah die gelbe Schnur, den Stahlheim... Der UvD stand an seinem Bett. Holt richtete sich auf. Der Obergefreite sagte mit halblauter Stimme: "Werden Sie endlich wach! Sofort zum Chef!"

   Zum Chef? Holt schaute verständnislos. Was soll ich früh um vier beim Chef, was will Kutschera von mir? "Was soll ich denn...‚" - "Reden Sie nicht, stehen Sie auf! Schnell!"

   Holt schnürte die Schuhe zu und überlegte. Wieder bemächtigte sich seiner das Angstgefühl und wurde zur Panik: Die Russen! Es kann nur wegen der Russen sein! Hätt ich damals bloß nicht den verdammten Wahnsinn angezettelt! Was gingen mich die Gefangenen an!

   "Stahlheim auf", sagte der UvD.

   Wer mag mich verraten haben? Jetzt, nach drei Wochen? Er fühlte mechanisch mit den Händen nach, ob alle Knöpfe geschlossen seien. Oder... was kann er sonst von mir wollen, mitten in der Nacht? Der Gedanke an Ziesches Tagebuch fuhr ihm durch den Sinn. Ziesches Tagebuch! Aber das hatte Gottesknecht an sich genommen, und Gottesknecht... Nein!

   Es war fast taghell. Auf dem Fahrweg hielt ein großer Personenkraftwagen. Vor der Chefbaracke stand Gottesknecht. Holt sah ihn im Vorbeigehen hilfeflehend an. Nickte er nicht beruhigend mit dem Kopf?

   In der verdunkelten Chefunterkunft brannte trübes Licht. Der UvD meldete. Dann stand Holt allein, mutterseelenallein, mit dem Rücken zur Tür. Er riss sich zusammen. Die Hacken knallten, der rechte Arm flog zum Gruß empor: "Oberhelfer Holt meldet sich wie befohlen!" Sekunden zogen sich in die Länge, dann sagte Kutscheras Stimme: "Sie können rühren."

   Jetzt erst nahm Holt Einzelheiten des matt erleuchteten Raumes in sich auf. Die Luft war von Tabakqualm verschleiert. Ein unberührtes Feldbett, zwei Sessel an einem Rauchtisch, ein Schreibtisch, Telefon, das große Radio... Hinter dem Schreibtisch hockte ein Zivilist. In einem der Sessel saß Kutschera mit aufgeknöpftem Waffenrock, neben ihm ein fremder Offizier, nein, ein SS-Führer, und Holt entschlüsselte rasch die Schulterstücke: Rangstufe eines Oberleutnants, ein SS-Obersturmführer muss das also sein... - Obersturmführer... dass ich mich bloß nicht irre! Zum Glück fiel ihm noch ein, dass bei der SS die Anrede "Herr" wegfiel.

   "Näher ran, Holt", sagte der Hauptmann. Auch wenn er ganz leise sprach, war seine Stimme gewaltig. Holt gehorchte. Der fremde SS-Führer sagte: "Sie sind Werner Holt?"

   "Jawohl, Obersturmführer!"

   Frage und Antwort fielen Schlag auf Schlag. Kutschera hörte gelassen zu und rauchte.

   "Kriegsfreiwilliger?"

   "Jawohl, Obersturmführer. Panzertruppe."

   "Was ist Ihr Vater?"

   "Mediziner, Obersturmführer. Jetzt Lebensmittelprüfer."

   "Ihr Vater musste 1938 gemaßregelt werden. Wie stehen Sie dazu?"

   Holt zögerte mit der Antwort, aber dann sagte er: "Ich hab seit Jahren kaum Kontakt mit ihm. Er ist mir sehr fremd."

   "Warum sind Sie dann Weihnachten zu ihm auf Urlaub gefahren?"

   "Er... hatte mich eingeladen, Obersturmführer" Das war eine Lüge. "ich fühlte mich verpflichtet."

   "Sie waren nur einen Tag bei Ihrem Vater, und Sie haben sich dort nicht wie vorgeschrieben auf der Urlauberstelle des Wehrbezirkskommandos gemeldet. Wo waren Sie die anderen drei Tage?"

   Ja um Gottes willen, woher weiß er denn das alles?

   "Los, Antwort!"

   "Ich war in einem Dorf im Kreis Wesel... es heißt Dingden. Dort hab ich in einem Gasthof gewohnt. Gasthof 'Zur Quelle'."

   "Haben Sie sich dort gemeldet?"

   "Ins Gästebuch eingetragen und ausgewiesen, Obersturmführer."

   Eine Handbewegung nach links, und der Zivilist hinter dem Schreibtisch nickte und notierte. Sie werden das nachprüfen, dachte Holt, verdammt, da steht ja auch Gertie im Gästebuch! Aber was will er nur von mir, das sind doch alles nur Randfragen...

   "Kennen Sie einen Oberst Barnim?"

   "Jawohl, Obersturmführer, das heißt, nein..."

   "Was denn nun: ja oder nein?"

   Das war die entscheidende Frage, Holt fühlte es genau. Schon lief unter dem Stahlhelm Schweiß hervor und rann übers Gesicht. "Ich kenne ihn nicht persönlich, Obersturmführer, ich habe ihn nie gesehen oder gesprochen."

   "Wen kennen Sie aus seiner Familie?"

   "Die beiden Töchter, Obersturmführer. Die älteste Tochter kenne ich persönlich, die jüngere nur so vom Sehen."

   "Die älteste Tochter heißt Uta?"

   "Jawohl, Obersturmführer."

   "Wann waren Sie mit ihr das letzte Mal zusammen?"

   "Im September, Anfang September vorigen Jahres, Obersturmführer."

   "Wo bewahren Sie die Briefe auf, die sie Ihnen seither geschrieben hat?"

   Holt schluckte. "Im Spind, Obersturmführer."

   Eine verbindliche Handbewegung zu Kutschera. "Gottesknecht!" brüllte Kutschera. In Holts Rücken ging die Tür. "Herr Hauptmann?" Der Obersturmführer sagte zu Holt: "Erklären Sie, wo die Briefe liegen!"

   Holt blickte auf Gottesknecht. "Mein Spind ist offen... Oben links... eine Mappe, die Briefe sind zusammengebunden..."

   "Bringen Sie die ganze Mappe!" sagte der Obersturmführer. Die Tür fiel ins Schloss. Ehe Holt einen Gedanken fassen konnte, ging die Fragerei weiter.

   "Kennen Sie einen Leutnant Kiefer?"

   Holt überlegte. Kiefer, Kiefer, warte doch malÂ…

   "Antworten Sie!"

   "Ich habe einmal in einer Gesellschaft einen Leutnant getroffen, der mit Uta Barnim verlobt war. Ich komm nicht mehr drauf, ob er Kiefer hieß. Kann sein. Er war von der Panzertruppe."

   "Wann war das?"

   "Voriges Jahr im Juli, Obersturmführer."

   "Was war das für eine Gesellschaft?"

   "Die Schwester eines Klassenkameraden hatte Geburtstag. Ich kam zufällig dazu."

   "Wie heißt dieser Klassenkamerad?"

   "Wiese, Obersturmführer."

   Blick auf Kutschera. Kutschera bewegte verneinend den Kopf. Handbewegung nach links, der Zivilist notierte. "Kannten Sie damals die Barnim schon?"

   "Nein, Obersturmführer. An diesem Nachmittag hab ich sie kennen gelernt."

   An diesem Nachmittag... unvergesslicher Augenblick! Holt fühlte sich elender als je zuvor, fast kam ihm ein Weinen an.

   Die Tür knarrte, Gottesknecht sagte: "Befehl ausgeführt!" und legte Holts Schreibmappe auf den Rauchtisch. Der Obersturmführer nahm die Briefe heraus und blätterte sie durch, es war ein ansehnlicher Packen.

   "Sind das alle Briefe, die sie Ihnen geschrieben hat?"

   "Jawohl, Sturm... Verzeihung, Obersturmführer."

   "Fehlt keiner?"

   "Nein, Ober... sturm ... führer."

   "Was ist los?"

   "Nichts, Obersturmführer."

   "Die Briefe sind beschlagnahmt." Nun wurde die Mappe durchgesehen, aber sie enthielt nur unbeschriebenes Papier. Handbewegung nach links, der Zivilist erhob sich und verließ grußlos die Baracke.

   Der Obersturmführer richtete den Blick prüfend auf Holt, einen scharfen, durchdringenden Blick aus hellgrauen Augen. Holt hielt diesem Blick stand, Aber in seinem Inneren breitete sich ein Schwächegefühl aus, das seine Knie beben ließ. Die Stimme des Obersturmführers klang sehr nahe: "Wissen Sie, wo die Barnim sich aufhält? Können Sie uns einen Hinweis geben, wo sie sich vielleicht aufhalten könnte?"

   "Ich habe wirklich keine Ahnung, Obersturmführer", sagte Holt, und seine Stimme zitterte.

   "Sollte die Barnim Ihnen in Zukunft irgendwelche Nachricht geben, gleichgültig ob brieflich oder telefonisch oder sonst wie, sollten Sie auf irgendeine Weise von ihr hören oder etwas über ihren Aufenthalt erfahren, so haben Sie sofort der Geheimen Staatspolizei, der Polizei oder Feldgendarmerie, notfalls Ihrem Vorgesetzten davon Mitteilung zu machen, unter Hinweis darauf, dass nach der Barnim gefahndet wird. Haben Sie erstanden?"

   "Jawohl, Obersturmführer."

   "Nehmen Sie Haltung an!"

   Holt zog die Hacken zusammen.

   "Hiermit belehre ich Sie darüber, dass Sie sich selbst der schwersten Bestrafung aussetzen, falls Sie im angenommenen Fall eine Meldung unterlassen."

   "Jawohl, Obersturmführer."

   Der Obersturmführer wandte sich an Kutschera. "Ich bin fertig, Hauptmann Kutschera." Kutschera bellte: "Haun Sie ab, Mensch, und halten Sie gefälligst den Mund."

   Holt bewegte sich nicht. Er presste verzweifelt die Hände an die Hosennaht. "Herr Hauptmann... Ich bitte, eine Frage an den Obersturmführer..." - "Da müssen Sie doch nicht mich fragen", schimpfte Kutschera. Der Obersturmführer sah Holt befremdet an.

   "Was wollen Sie?"

   "Ich bitte fragen zu dürfen", sagte Holt mühsam, denn Gewissheit wollte, nein musst er haben, "ob... ob Uta Barnim... Ob der Oberst Barnim..."

   "Der Oberst Barnim", sagte der Obersturmführer drohend und schnell, "ist erschossen worden."

   Ist erschossen worden. Erschossen.

   "Und Sie als Deutscher sollen sich Ihr Lebtag schämen, mit diesem Abschaum bekannt gewesen zu sein!"

   Kutschera: "Und jetzt raus, Sie, aber schnell!"

   Gruß. Kehrtwendung. Tür auf. Tür zu. Die Sonne scheint. Sie steigt aus den Dunstbänken empor. Alles geht weiter. Um acht wird geweckt. Auch ich werde geweckt, und alles war nur ein böser Traum. Zemtzki ist noch am Leben, es gibt keine Short Stirling mehr, keine Kanone und keinen Stubendienst. Es ist alles wieder wie in fernen Kindertagen, als der Vater tröstend sagte: Nein, böse Hexen gibt´s nur im Märchen... Und was dazwischen liegt, zwischen dem fernen Gestern und dem Jetzt, das ist nur ein Traum gewesen. Alles ist nur ein Traum. Hab nur Vertrauen: Wenn der Traum auch drückend ist, einmal wird das Wecksignal geblasen, dann fällt ins Dunkel zurück, was dich bedrückte, und du lachst darüber und schüttelst es ab.

   Holt ging zum Geschütz Berta. Als gegen sieben Gefechtsschaltung befohlen wurde, hatte er sich wieder in der Gewalt. Wolzow nahm ihn beiseite. Holt sagte: "Ich musste ein paar Auskünfte geben. Es ist uninteressant und hat nichts mit uns hier zu tun."

   Wolzow sagte: "Na schön, dann eben nicht."

   Der übliche Morgenaufklärer steuerte den süddeutschen Raum an. Dann folgten Kampfverbände und warfen. im Raum Bremen Bomben. Gegen elf hieß es: "Starke Jagdverbände im Anflug auf den Raum Köln-Essen." Die Untergruppe warnte vor Tieffliegern. Holt gab alle Durchsagen unbewegt weiter. Wolzow und Gomulka redeten auf die Schlesier ein, die jede Warnung vor Tieffliegern in Panik stürzte. Dorsten, Haltern und Lünen meldeten Tiefangriffe auf verschiedene Ziele, auch auf Flakbatterien. Vetter wechselte mit einem der Schlesier den Platz und setzte sich an die Seitenrichtmaschine. Wolzow wickelte den leuchtend weißen Verband vom Kopf und drückte den Stahlheim in die wunde Stirn. Recklinghausen und Dinslaken meldeten Tiefangriffe, dann Moers, Krefeld und Düsseldorf. "Gleich sind sie da!" sagte Holt. Gottesknecht gab einen Rundspruch: "Nehmt volle Deckung!" Wolzow sagte: "Ich schieß Nahfeuer, und wenn ich krepier!"

   Sie waren da. Sie stießen vom Himmel, rasten am Horizont entlang, sehr tief. Fern sprang eine riesige Feuersäule hoch. "Öl!" schrie Wolzow. "Die Raffinerien von Gelsenkirchen!" Irgendwo schoss eine schwere Batterie und verstummte wieder. Fern hämmerte Zweizentimeter-Flak. Eine Kette einmotoriger Maschinen flog von Norden heran und stieß auf die Batterie herab. Sie drosselten die Motoren und flogen so niedrig, dass sie beim Abflug über das Wäldchen hinwegspringen mussten. Sie wendeten und flogen von neuem an, drei Mustangs. Erst warfen sie ihre Bomben, dann feuerten sie mit Raketen und Bordwaffen auf die B 2 und die Geschützstände. Wild und hemmungslos kurvten sie über der Batterie.

   Zwei Geschütze schossen Nahfeuer. Cäsar verstummte nach zwei oder drei Schuss. Berta feuerte sinnlos weiter. Die Jagdbomber flogen immer wieder den Geschützstand an. Einer der Schlesier fiel über einen Holm, Wolzow schleifte ihn zur Seite. Er lud und feuerte. Dann fiel Vetter vom Sitz der Seitenrichtmaschine und auch Berta verstummte. Die Jagdbomber zogen steil in die Höhe und verschwanden.

   Holt und Gomulka bemühten sich um Vetter. Ein Splitter hatte den Stahlhelm getroffen, ohne ihn zu durchschlagen. Vetter erlangte bald wieder das Bewusstsein. "Mensch, du überlebst uns alle!" sagte Wolzow. Er drehte den Schlesier auf den Rücken, dann warf er die Persenning über ihn. Gomulka nahm den Stahlhelm ab und sagte: "Jetzt wird es gottverdammt Zeit, dass wir Urlaub bekommen!" Holt rief: "Starke Kräfte der in den Raum Bremen eingeflogenen Kampfverbände sind nach Südwesten abgedreht. Mit Bombenabwürfen im westfälischen Gebiet ist zu rechnen." Gomulka setzte den Stahlhelm wieder auf. Wolzow trieb die demoralisierten Schlesier ans Geschütz. Im Norden setzte schweres Flakfeuer ein. Vetter lehnte in einer Ecke und hielt sich den Kopf. "Du musst mitmachen", schrie Wolzow, "wir sind nur drei Munitionskanoniere!" Die Bomber flogen nordwestlich vorbei und warfen Bomben auf Duisburg. Die Batterie feuerte. Gegen fünfzehn Uhr wurde die Gefechtsschaltung aufgehoben, eine Stunde später flogen abermals Aufklärer ein, Bomberströme folgten, Jagdverbände und wieder Bomber. Die Jungen blieben sechsunddreißig Stunden lang am Geschütz. Anschließend hatten sie ein paar Stunden Ruhe.

   "Das geht so weiter", sagte Gomulka zu Holt. "Das wird nicht besser, das nimmt kein Ende." Holt antwortete nicht.

14

   Sie hausten zu viert in der kleinen Stube, bis Gottesknecht alles durcheinander brachte. Baracke Berta wurde geräumt für den Ersatz, der nun jeden Tag eintreffen sollte. "Sie dürfen sich aussuchen, wen Sie zu sich in die Stube nehmen wollen", sagte Gottesknecht, "wie bin ich wieder mal zu Ihnen?" Sie entschieden sich für Kirsch und Branzner. Beide hatten anfangs zur Stammbedienung Anton gehört, waren zu Dora übergewechselt und taten nun seit dem Ausfall zweier Geschütze des Nachts bei Berta Dienst. "Die beiden sind in Ordnung", sagte Wolzow. Gomulka sagte zu Holt: "Aber der Branzner steckt in der letzten Zeit dauernd mit Kieback zusammen, und mit denen..." - "Seit dem letzten Tiefangriff", meinte Holt, "ist die ganze Batterie so... fanatisch. Der Angriff hat eine wahre Erbitterung ausgelöst." - "Ich möchte mal wissen, wieso?" sagte Wolzow. "Wir sind doch ein militärisches Ziel. Das ist doch in Ordnung, wenn sie uns angreifen!" - "Seit dem Attentat haben alle die Ãœbersicht verloren", sagte Gomulka. Wolzow erzählte: "Gestern Abend hat Kutschera die Obergefreiten schleifen lassen, weil der deutsche Gruß immer noch nicht klappt!"

   Branzner erwies sich als eine "äußerst zweifelhafte Errungenschaft", wie Gomulka am Morgen nach dem Einzug zu Holt sagte. Unter dem Eindruck der Zeitereignisse, als Reaktion auf die blutigen Gefechte, hatte Branzner sich sehr verändert. Er sah, wie er schon am ersten Abend beiläufig erklärte, den einzigen Garanten des Endsieges darin, allen Anstrengungen des Feindes den unerschütterlichen und fanatischen Glauben an die Sendung des Führers und die Ewigkeit des Reiches entgegenzusetzen. Natürlich gab es gleich Streit.

   Wolzow hörte sich Branzners Erklärung an, mit schräggelegtem Kopf. Holt dachte: Da haben wir ja Ziesche wieder! Aber Branzner übertraf Ziesche noch, denn er war redseliger und wortgewandter, wenn er auch seines schwarzen Haares wegen weniger von Rasse sprach und der völkisch-rassische Gedanke nur gelegentlich in seinen Argumenten Platz hatte.

   "Hör mal zu", sagte Wolzow auf Branzners programmatische Erklärung. "Unerschütterlichkeit, Fanatismus ..." Er brach ab und dachte nach. "Wenn einer ein bisschen bekloppt ist, verstehst du, beschränkt, eben dämlich, wie so die meisten sind, dann ist der fanatische Glaube ein ganz brauchbares Mittel, ihn bei der Sache zu halten. Ohne diesen Glauben würden die meisten immerfort aus den Pantoffeln kippen, weil sie keine kriegerische Tugend haben und weil ihnen die höhere Einsicht fehlt. Aber unsereins? Angenommen, der Krieg wäre verloren, so eindeutig verloren, dass es ein Blinder sieht: ich würde trotzdem weiterkämpfen, ohne fanatischen Glauben, ganz einfach weil sich das für einen Soldaten gehört. Was anderes gibt es gar nicht. Hör zu, Branzner! Was meinst du wohl, warum wir neulich als einzige Kanone Nahfeuer geschossen haben, während ihr samt eurem Glauben schön flachgelegen habt? Etwa weil ich fanatisch glaube, dass das was nützt? Quatsch. Nahfeuer nützt gar nichts. Aber es gehört sich so!" Wolzow redete sich in Eifer. "Ein Soldat muss kämpfen, ohne Frage, ob es einen Sinn hat oder keinen! Ein Soldat ist zum Kämpfen da, zu nichts anderem! Dein Glaube, mein Lieber, ist eine verdammt unsichere Sache, er kann in die Binsen gehn, und dann sitzt du da und schnappst nach Luft! Bei mir kann nichts in die Binsen gehn. Bei mir heißt es: Der Soldat hat zu kämpfen. Also wird gekämpft."

   Was Wolzow sagte, gefiel Holt besser als die Forderung nach blindem, fanatischem Glauben. Jetzt wusste er auch, wo Wolzow seine Ruhe hernahm. Er dachte: Leicht ist das nicht, so zu denken wie Wolzow, ohne irre zu werden. Da muss man wohl seit 1750 aktive Offiziere zu Vorfahren haben.

   "Kämpfen als Selbstzweck", sagte Gomulka, "halten wir das mal fest. Kampf ist für dich Selbstzweck, Gilbert, und das lässt sich hören. Mit dieser Einstellung brauchst du keinen Glauben an den Endsieg oder an den Führer. Aber einen Einwand forderst du geradezu heraus. Es ist ein Widerspruch in deiner Auffassung." Er furchte die Stirn, so angestrengt dachte er nach. "Du hast uns oft genug die Fehler erklärt, die in der Vergangenheit von Feldherren begangen wurden. Terentius Varro, Daun und Karl von Lothringen bei Leuthen, du kannst also nicht abstreiten, dass du einen Zweck des Kampfes anerkennst: den Sieg. Wird deine Ãœberzeugung nicht in dem Augenblick in die Brüche gehn, wo der Kampf aussichtslos ist?"

   "Ach wo, ganz und gar nicht! Natürlich, der Kampf soll zum Sieg führen, der Sieg ist das Salz aufs Brot des Krieges. Solange eine Möglichkeit besteht zu siegen, solange wird um den Sieg gekämpft. Aber man kann auch um eine Remis-Lösung kämpfen. Und wenn die Lage aussichtslos ist, dann wird gekämpft, weil sich das so gehört."

   Holt brütete vor sich hin. Wolzows Worte riefen die Erinnerung an ein Buch in ihm wach, an Ernst Jüngers "Das Wäldchen 125". Eine Stelle in diesem Buch hatte ihn damals beeindruckt, und jetzt war sie gegenwärtig. Er sagte: "Ich glaube, Gilbert hat die... die echte soldatische Haltung." Er zitierte, was aus der Vergessenheit aufgetaucht war: " ‚Aber ein höchstes Gesetz erfüllt, wer in einsamer Nacht und auf verlorenem Posten fällt. Ihrer wird man gedenken, wo immer man die Bitterkeit des Unterganges liebt und den hohen Sinn, den keine Flamme versehrt.`"

   Gomulka sog, mit vorgestrecktem Kopf, dieses Zitat in sich hinein. Nach einem langen Schweigen wiederholte er: "Die Bitterkeit des Unterganges, Branzner hockte mit missmutigem Gesicht auf seinem Strohsack, ihm mochte das alles nicht passen. Holt trat ans Fenster. Die Bitterkeit des Unterganges, wiederholte er noch einmal in Gedanken.

   Gottesknecht riss die Tür auf. "Meine Herren, wollen Sie sich nicht ein bisschen zur Ruhe begeben, ehe das Theater wieder losgeht?" Sein Blick fiel auf Holt. "Was ist mit Ihnen los? Mitkommen! Ich habe mit Ihnen zu reden." Es dämmerte. Gottesknecht hatte seit dem nächtlichen Verhör kein außerdienstliches Wort mit Holt gewechselt. Jetzt sah er müder und sorgenvoller aus denn je. "Ihr Urlaub ist bewilligt", sagte er. "Aber ehe ich Sie abfahren lasse, muss ich Ihnen ins Gewissen reden... wegen dieser... Barnims."

   Holt sagte: "Ich weiß von nichts. Ich kann mir das nicht vorstellen. Ob es mit dem Attentat zu tun hat?" - "Sobald der Ersatz eintrifft, können Sie reisen. Sie fahren zu Wolzow, nicht? Jetzt hören Sie zu! Lassen Sie dort die Finger von den Barnims. Erkundigen Sie sich nach niemandem. Reden Sie mit keinem Menschen. Halten Sie den Mund. Haben Sie das verstanden?" - "Jawohl, Herr Wachtmeister." - "Und jetzt ehrlich: Macht Ihnen die Sache sehr zu schaffen?"

   "Ich... denk nicht drüber nach", sagte Holt.

   Gottesknecht lächelte. Es war ein bitteres Lächeln. "Sie denken nicht nach...", wiederholte er. Er murmelte: "Keiner denkt nach... keiner! ... Los, legen Sie sich ins Bett!" - "Jawohl, Herr Wachtmeister."

   In der Stube wurde wieder gestritten. Wolzow saß auf dem Tisch, rauchte und fragte, als Holt ins Zimmer trat: "Na... und?"

   "Ein bolschewistischer Schriftsteller", rief Branzner erregt, "hat erklärt... Ich glaube, er heißt Ehrenburg oder so ähnlich... Er hat erklärt, dass es für die Bolschewisten nur ein Ziel gibt, und das heißt Berlin!" Er lag im Bett, richtete sich auf und stützte sich auf die Ellenbogen.

   "Das braucht dich doch nicht zu wundern", sagte Wolzow. "Denkst du, die Russen wollen den Krieg nicht gewinnen? Die Eroberung der feindlichen Hauptstadt ist für die Russen das strategische Ziel, das mit dem Siege gleichzusetzen ist. Das kannst du schon bei Clausewitz unter den 'Allgemeinen Grundsätzen' der Strategie nachlesen."

   "Du hast mir zuviel Verständnis für die Russen", sagte Branzner böse. Wolzow lachte nur. Aber auf einmal schimpfte Gomulka: "Das ist ja zum Verzweifeln! Kaum sind wir den Ziesche los, und schon liegt einer im selben Bett und pöbelt uns genauso an! Werden denn diese Stänker niemals alle?"

   "Nein!" schrie Branzner, und ein böses Funkeln war in seinen Augen, als er sich nun gegen Gomulka wandte. "Nein! Sie werden nicht alle! Was du beschimpfst, das sind die besten Deutschen, die echten Nationalsozialisten, jawohl! Alle denken so wie ich, ihr seid die schimpfliche Ausnahme, die ganze Batterie denkt wie ich, das ganze deutsche Volk denkt so und glaubt an den Führer, weil er der größte Deutsche ist und der größte Feldherr und... und. . ."

   "Und, und!" spottete Holt. "Nach dem Führer kommst gleich du, was?, der zweitgrößte Deutsche, der zweitgrößte Feldherr, der zweitgrößte Trottel..." - "Ruhe!" brüllte Wolzow. "Seid ihr denn wahnsinnig?"

   Aber Branzner saß schon auf seinem Bett, wachsbleich, und er sagte, während er nach den Schuhen angelte: "So... so! Ihr habt es alle gehört! Ihr seid Zeugen! Er hat den Führer einen Trottel genannt! Ich mach Meldung!"

   Gomulka rief: "Quatsch doch nicht, Mensch, dich hat er Trottel genannt!" - "Den zweitgrößten", sagte Branzner. Gomulka meinte: "Sei doch froh, dass es offensichtlich noch einen größeren gibt als dich!" Aber Branzner, während er einen Schuh anzog, schüttelte den Kopf: "Nein, also nein, nein! Keine Ausreden! Nein! Ich stelle eindeutig fest, dass es gar keine andere Auslegung gibt: der Führer ist der größte Trottel!"

   Die Tür flog auf. Gottesknecht trat ein. "Branzner!" sagte er. streng. "Was höre ich? Was sagen Sie da?"

   Schweigen.

   "Ich drücke ja beide Augen zu", fuhr Gottesknecht fort, "wenn sich einer mal eine kernige Bemerkung über die Führung erlaubt. Aber was Sie da eben gesagt haben, das geht zu weit!"

   Branzner stand halb angekleidet, einen Schuh in den Händen, vor seinem Bett. Er stammelte: "Ich? Aber ich... Der Holt! Ich meine doch... Das ist doch ..." Plötzlich schrie er verzweifelt: "Aber ich hab das doch gar nicht... ich wollte doch bloß... die anderen hatten doch... ich würde doch nie... ich... ich..." - "Nehmen Sie sich zusammen!" rief Gottesknecht. "Was erlauben Sie sich!"

   Holt war überzeugt, dass Gottesknecht lange an der Tür gelauscht hatte und im passenden Augenblick eingetreten war. Die Art, wie sein Erscheinen die Szene ins Groteske kehrte und auf den Kopf stellte, erfüllte ihn mit einem Lachreiz und mit Furcht.

   Branzner war in sich zusammengesunken und warf hilfesuchende Blicke auf Wolzow, auf Holt, auf Gomulka. Wolzow sagte endlich: "Der Branzner ist ja sonst ein anständiger Kerl, vielleicht hat er es wirklich nicht so gemeint."

   "Wenn niemand etwas gehört hätte, wäre es zweifellos das Beste", sagte Gottesknecht nach einigem Nachdenken.

   "Ich hab nichts gehört", sagte Gomulka. - "Ich auch nicht." - "Ich hab schon geschlafen." - "Ich als Nationalsozialist", sagte Wolzow großartig, "müsste eigentlich darauf bestehen. Aber da will ich halt auch nichts gehört haben."

   "Schön", sagte Gottesknecht. "Ich bitte mir aus, dass solche sinnlosen Streitereien in Zukunft unterbleiben. Gute Nacht."

   Sie schwiegen, bis die Barackentür ins Schloss gefallen war. Branzner sagte: "Was seid ihr... für Schufte!"

   Theater, alles Theater, dachte Holt.

   Gottesknecht sagte: "Ich seh´s ja, wenn ich Sie nicht gehen lasse, dann leidet Ihre Kampfmoral! Haun Sie ab!" Eine Stunde später langte Holt bei Frau Ziesche an.

   Sie packte. Auf dem Korridor standen Koffer, Kisten und Körbe. Frau Ziesche trug eine knallbunte Schürze. Im. Schlafzimmer schichtete sie Wäsche in einen Korb. Holt sah ihr zu. "Ja, lebst du denn auf dem Mond?" rief sie. "Goebbels ist Reichsbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz geworden. Sämtliche Theater, Varietes und Kunstschulen sind geschlossen und fast das ganze Schrifttum ist stillgelegt worden! Jeden Tag können neue Richtlinien für den Arbeitseinsatz bekannt gegeben werden, ganz strenge Maßnahmen! Meinst du, ich hab Lust, Granaten zu drehen? Da ruiniere ich mir fürs ganze Leben die Hände! Sechzig Stunden Arbeitszeit wöchentlich, dazu hab ich keine Lust!" Sie setzte sich aufs Bett und brannte sich eine Zigarette an. "Ich schließe hier zu", sagte sie, "die Sachen werden ausgelagert... Wie steht es denn mit deinem Urlaub?"

   "Bewilligt", sagte Holt. "Es kann jeden Tag losgehen."

   "Wollen wir in den Bayrischen Wald fahren?" fragte sie.

   Er antwortete nicht. Er rauchte und schaute sie aufmerksam an. Sie lächelte, sehr verführerisch, sehr verlockend. Wie seltsam: es wirkte nicht! Holt dachte: Sie hat nicht mal gefragt, wie das mit Ziesche passiert ist... Es wäre wirklich schade, wenn ihre Hände Schwielen bekämen! Auf einmal, es war wie eine Zwangsvorstellung, sah er Schmiedlings große, behaarte Hände, in den Schlackeboden des Geschützstandes gekrallt, sah auch Zemtzkis Hände, Rutschers Hände..."ich weiß nicht", sagte er trübsinnig, "in den Bayrischen Wald? Es wäre schön. Aber ob sich das bei mir noch ändern lässt..." Sie sagte leise: "Es wird bestimmt sehr schön!" Aber auch das verfing seltsamerweise nicht. Er dachte: Sie ist wirklich bildhübsch. Warum regte sich bei diesem Gedanken nichts in ihm, wie sonst? Sie sagte: "Lass deine Papiere umändern, Urlaubsort, Fahrschein. Ruf mich morgen an." Er nickte. Sie erhob sich: "Jetzt lass ich alles stehn und liegen. Ich will unbedingt ins Kino, kommst du mit? In Wattenscheid wird zufällig noch einmal 'Nora' gespielt, nach Ibsen, ich hab den Film voriges Jahr verpasst."

   Sie brauchten fast eine Stunde, bis sie in Wattenscheid anlangten. Die Verkehrsmittel hatten durch die ständigen Angriffe stark gelitten. In dem engen, muffigen Kinosaal wurde Holt ein beklemmendes Gefühl nicht mehr los. Unfug, zur Abendvorstellung zu gehen! Es gibt bestimmt Alarm, bei diesem idealen Wetter: ein bisschen diesig, da sind die Jäger behindert, die Flak auch... Und wir sitzen hier in einer wildfremden Gegend, weit weg von Gerties Wohnung, weit weg von der Batterie... Apathisch saß er in dem harten Klappstuhl, den Stahlhelm auf den Knien. Der Film interessierte ihn nicht. Er atmete erleichtert auf, als der Streifen endlich abgelaufen war. "Komm!" Aber sie wollte noch die Wochenschau sehen. "Es soll Bilder vom Attentat geben!" Er setzte sich wieder. Die Fanfare des Vorspanns war noch nicht verhallt, da brach die Wochenschau auch schon ab auf der Leinwand erschienen die Worte: "Voralarm! Verlassen Sie sofort das Theater!" - "Da hast du´s, verdammt!" rief er wütend. Sie sagte beschwichtigend: "Vielleicht sind es nur Aufklärer!" Alles drängte zum Ausgang.

   Es war zweiundzwanzig Uhr. Draußen umfing sie die Nacht. Der verschleierte Himmel leuchtete schwach. Holt orientierte sich rasch: die Straße, von Trümmergrundstücken und ausgebrannten Fassaden gesäumt, lief nach Norden, vermutlich nach Gelsenkirchen; mochte sich der Teufel in diesem Städtegewirr zurechtfinden! Die Straßenbahn fuhr nicht mehr. Der Menschenhaufen verlief sich rasch. Bald war die Straße menschenleer. Sie gingen sehr schnell und erreichten ein unzerstörtes Stadtviertel mit engen Straßen. Nun schlug das Auf und Ab der Sirenen wie eine Woge zum Himmel hoch. Sie liefen im Laufschritt weiter. Flakfeuer donnerte, fern erst, dann ganz nahe. Am Himmel summten Motoren. Holt tröstete sich: Sie überfliegen uns nur! Sein Blut erstarrte: Oder sind es Pfadfinder? Die Nacht wurde taghell. Irgendwo fielen Leuchtkaskaden, es musste sehr nahe sein, die hohen Häuser versperrten die Aussicht, aber der Himmel gleißte.

   Ein Mann verstellte ihnen den Weg, abenteuerlich uniformiert, die Volksgasmaske um den Hals: "Halt... halt! Von der Straße weg! In den Schutzraum!" Frau Ziesche redete schnell, angstvoll, aber Holt sagte: "Sei vernünftig, Herrgott!" Er zog sie in den Hausflur. "Sie bleiben hier oben", sagte der Luftschutzwart zu Holt. Frau Ziesche rief: "Nein! Ich... ich bin leidend... ganz hilflos, ich brauche Schutz!" Sie zog ihn die steile und tiefe Treppe hinab.

   Der Kellergang war mit Menschen vollgestopft. Holt überschaute den matt erleuchteten Raum, überschaute die hundert Gesichter, die wie kreidige Flecke in der Dämmerung schwebten, überschaute Koffer und Rucksäcke und die Wannen mit Wasser. An sein Ohr drang Kindergeschrei.

   "Nicht den Ausgang verstellen!" Irgendwer schob Holt in den Keller. Holt strebte dem Ende des sehr langen Ganges zu, vielleicht nur, weil dort hinten Platz war. Sie stiegen über Packtaschen und ausgestreckte Beine hinweg. Der Platz war eigentlich gar nicht so schlecht, vielleicht nur etwas weit vom Ausgang entfernt. Sie saßen, als letzte in der langen Reihe, unmittelbar am Mauerdurchbruch. Das flache Tonnengewölbe des Kellerganges war hier noch einmal mit zwei starken Pfählen abgestützt, die wie Säulen den vermauerten Durchbruch zu Holts linker Hand flankierten. Er legte schützend den Arm um Frau Ziesche. Sie zitterte unter dem leichten Sommermantel. "Setz meinen Helm auf!" Der Helm war zu groß, aber so schützte er auch Nacken und Schultern.

   Holt sah sich einem kleinen Mädchen von vielleicht vier Jahren gegenüber. Das Kind war zusammengesunken, in tiefem Schlaf. Daneben lag viel Gepäck. Dann saß eine große, derbe Frau auf der Bank, sie trug eine Tarnjacke aus Zeltleinen und blaue Schihosen. Holt suchte in seinen Taschen die kleine Stabtaschenlampe, fand sie und steckte sie wieder weg. Eine dumpfe Stimme sagte: "Trocken Brot will ich essen mein Lebtag, wenn bloß die Bomben aufhören!"

   Der Keller war sehr tief. Aber das Motorengedröhn der Bomber drang nun doch herab. Ein zitternder, gebrechlicher Greis setzte sich dicht neben Frau Ziesche. So saßen sie, zu dritt in die Mauerecke gepresst. In der gegenüberliegenden Ecke schlief das Kind.

   Ein furchtbarer Schlag, der Keller erbebte, ein zweiter Schlag, dann ein dritter, so gewaltig, dass Holt die Erschütterung der Kellerwand in seinem Rücken fühlte. Ein Windstoß fegte durch den Gang. Holt hörte Frau Ziesches Stimme dicht an seinem Ohr, stammelnd: "0 heilige Maria ... Mutter Gottes... unter deinen Schutz und Schirm fliehen wir..." Vom Kellereingang her kreischte eine Stimme: "Es brennt!" Barsches Geschrei, das schon unterging: "Alle Männer..." und: "...zum Löschen!" Holt wollte sich erheben, aber Frau Ziesche klammerte sich an ihn fest, sie schrie: "Es brennt... ich will raus... Ich will raus hier!" Wahnsinn, dachte Holt, Wahnsinn; er hörte Wolzows Stimme: "Die Schweine... Sprengbomben in die Flammen..." Da traf ihn ein Stoß mit solcher Wucht, dass sein Kopf gegen die Mauer schlug, das Licht verlöschte, das Leben setzte aus, Holt rang nach Luft, und er hustete, hustete...

   Es dauerte lange, ehe er die Taschenlampe fand. Der Lichtstrahl prallte auf eine undurchdringliche weiße Wand von Kalkstaub. Holt stieß Frau Ziesche von sich, erhob sich, trat auf einen Körper, trat darüber hinweg, tastete nach rechts, trat auf Schutt. Sein Kopf stieß gegen etwas Hartes, das war die heruntergebrochene Kellerdecke. Er hustete noch immer, aber der Kalkstaub setzte sich. Verschüttet! Holt wollte schreien, der qualvolle Hustenreiz hinderte ihn. Endlich bekam er Luft, nun zwang er die Panik nieder, aber die Gedanken flatterten. Der Staub wurde durchsichtig. Holt überblickte im hin und her huschenden Lichtkegel der kleinen Taschenlampe die Ecke des Kellerganges, in der sie eingeschlossen waren. Die kaum bezwungene Panik jagte zusammenhanglose Worte durch seinen Sinn:... in einsamer Nacht und auf verlorenem Posten... Der Greis richtete sich stöhnend vom Boden auf. Das kleine Mädchen würgte und zog mit pfeifendem Ton die Luft in die Lungen, als habe es Keuchhusten. Aus dem Schutt ragten zwei Beine in blauen Schihosen. Frau Ziesche hustete und rang nach Luft... und geht´s ans Sterben, ich bin dabei... Er dachte: Ich muss... ich muss.. - Und immer wieder: Ich muss! Er dachte: Gleich kommt das Wecksignal... Er dachte: Der Mauerdurchbruch!

   Er wischte sich über die Augen, in denen der Kalkstaub wie Säure brannte. Er packte Frau Ziesche am Arm und zog sie hoch, sie wollte sich an ihm festhalten, er stieß sie nach hinten, dass sie auf den Schutt fiel. Er schob den Greis hinter sich, er schob das kleine Mädchen hinter sich. Dann nahm er die Holzbank, auf der sie gesessen hatten und rammte sie gegen den Mauerdurchbruch. Vergeblich. Er konnte nicht weit genug ausholen, immer wieder stieß er zu, das Sitzbrett spaltete der Länge nach auf. Er ließ die Bank fallen und schlug mit den Fäusten auf die Ziegelsteine. Er keuchte, er trat mit dem Fuß gegen das Mauerwerk. Er brüllte überschnappend: "Hilfe!" Er warf das volle Gewicht seines Körpers gegen den Durchbruch, er fiel nach vorn und schlug mit dem Gesicht auf kantige Steine, es rasselte, es knisterte in den Ohren, er stöhnte vor Schmerz. Dann lag er bewegungslos und atmete tief.

   Als er aufstand, fielen Steine von ihm ab. Er hielt die Taschenlampe noch in der Hand, aber sie brannte nicht mehr. Er schüttelte sie. Nun flammte sie auf. Vor ihm lag ein langer, leerer Kellergang. Weit vor ihm glühte rotes, zuckendes Licht. Sie sind hier längst raus, dachte er, und dachte: Fliehen! Er hörte hinter sich das hemmungslose Geschrei Frau Ziesches. Er kletterte durch das Mauerloch zurück in den verschütteten Keller, hob sie auf und herrschte sie an: "Still! Still doch!" Ihr Gesicht war verzerrt und entstellt. Er nahm das Kind wie ein Bündel unter den Arm. Frau Ziesche schrie: "Hilf mir... Hilf mir doch! Lass das Kind!" Er musste sie wieder abschütteln, ehe er mit dem Kind in den Nachbarkeller hinüberklettern konnte. Dann half er Frau Ziesche, dann auch dem Greis. Frau Ziesche hielt sich krampfhaft an ihm fest, er zog sie gewaltsam den Gang entlang. Am Fuß der Treppe lag viel weggeworfenes Gepäck. Oben flammte gelbrote Glut durch das Viereck der Haustür. Ein starker Luftzug strich über ihn hin.

   Draußen heulte der Feuersturm. Frau Ziesche schrie: "Ich will nicht ins Feuer... ich will nicht!" Holt sah sich verzweifelt nach einem anderen Ausgang um, es musste ihn geben, denn es gab diesen fauchenden Luftstrom, aber er hörte über seinem Kopf ununterbrochen Mauerteile niederkrachen. Raus! dachte er. Die Bitterkeit des Unterganges. Neben der Treppe, in einer Nische, stand eine große Zinkwanne voll Wasser. Reichsminister Doktor Goebbels: ein Wort zum Luftkrieg, dachte er. Nasse Decken! dachte er, es gab keine Decken. Er tauchte das Kind in die Badewanne, und noch einmal, es kam zu sich und schrie, er legte es auf den Kellerboden. Frau Ziesche lag auf den Knien: "Heiliger Joseph, Nährvater... bitte für uns in der Stunde des Todes... Jungfrau Maria... bitte für alle, die heute im Todeskampf liegen..." Als Holt sie anfasste, begann sie wieder zu schreien: "Nicht ins Feuer!" Er stieß sie gewaltsam in die Wanne. Der Stahlhelm klirrte auf das Zinkblech. Ein Lachen schüttelte Holt, oder war es ein Weinen? Er tauchte ihr den Kopf unter, sie verstummte, er half ihr heraus, sie hatte irre Augen. Holt wälzte sich in der Wanne, dann hing die Uniform wie eine Zentnerlast an ihm. Wo war der Alte? Der Alte war nirgends. Alle, die heute im Todeskampf liegen... "Los jetzt!"

   Er hob das Kind auf, da umklammerte ihn Frau Ziesche abermals: "Mich musst du retten, Jesus Maria, lass doch das Kind!" Er befreite sich, fasste sie am Unterarm und zog sie die Stufen hoch. Das kleine Mädchen hing unbeweglich unter seinem Arm. Als sie auf halber Höhe waren, krachte vor der offenen Haustür brennendes Gebälk auf die Straße, die Funken stoben bis in den Hausflur. Unerträgliche Glut prallte ihnen entgegen. Holt zerrte Frau Ziesche ins Freie. Der heulende Feuersturm schlug über ihnen zusammen und peitschte ihnen Funken ins Gesicht. Wohin? Wo ist Rettung? Alle Häuser ringsum brannten, in großen Flächen brannte der Asphalt, Blasen werfend unter Phosphorpfützen, die Lungen versengten, auf der Straße lagen dunkle Gestalten, schwarze Strünke, mitten im Feuer, glimmende Matratzen, überall Tote, hinter ihnen krachte ein Haus in sich zusammen, vor ihnen kippte eine riesige, flammende Fassade auf die Straße... Zurück! Holts Mütze brannte, er warf sie von sich, er packte Frau Ziesche um die Hüfte und schleppte sie weiter, die nassen Kleider kochten, sein Bewusstsein setzte aus, er stolperte über einen Toten.

   Sie fanden sich auf dem Gelände einer Kohlengrube wieder. Hinter ihnen raste das Feuer. Ãœberall lagerten Menschen auf dein Boden, stumm, wie tot, nur Kinderweinen war zu hören. Frau Ziesche hockte auf der Erde, regungslos, er nahm ihr den Stahlhelm ab. Das kleine Mädchen zu seinen Füßen bewegte sich nicht. Er setzte den Stahlhelm auf, um beide Hände frei zu haben, dann trug er das Kind zu dem großen Sanitätszelt. "Eltern?" Holt sagte: "Ich weiß nicht..." Ein Arzt beugte sich über das Kind, richtete sich auf, ließ das Stethoskop sinken und sagte über die Schulter: "Ex." Zu Holt: "Sie hätten sich die Mühe sparen können." Holt rührte sich nicht. Er sah auf das Kind. Es trug rote Schuhe.

   Ein Mädchen schenkte Kaffee aus, in angeschlagenen Steinguttassen. Holt wurde zur Seite gedrängt. Er ließ sich einen Becher geben und trug ihn zu Frau Ziesche: "Hier... trink!" Sie trank willenlos. "Willst du noch mehr?" Sie schüttelte den Kopf. Er brachte den Becher zurück und ließ ihn wieder füllen. Das Mädchen sagte: "Wie siehst du denn aus! Bist du verletzt?" Er schüttelte den Kopf. Er ging zurück zu Frau Ziesche. "Komm!" Sie reihten sich ein in die Kolonne, die nach Westen zog. Sie gelangten an einen schmalen Kanal, über den eine Holzbrücke führte. Weiter! Ein Güterbahnhof, am Rande eines riesigen Fabrikgeländes. Dort lagerten sich die Menschengestalten auf Bündeln und Koffern. Holt ging mit Frau Ziesche die Chaussee weiter nach Westen. Es war drei Uhr.

   Die letzten Kilometer musste er sie fast tragen. Dann schleppte er sie die Treppe hoch. Auch seine Kraft ging zu Ende. Er legte sie auf ihr Bett, zog ihr den verbrannten Mantel aus und deckte sie zu. Sie hielt die Augen geschlossen. Ihre Zähne schlugen aufeinander. Er ging ins Bad. Sie rief schwach: "Bleib hier!" Er sah in den Spiegel. Das Gesicht war blutverschmiert, Stirn und Kinn waren zerschunden. Die Hände brannten wie Feuer, als er sie ins Wasser tauchte, auch Hals und Gesicht. Das Haar war versengt, die Uniform von Funkenlöchern zerfressen, die Ãœberfallhosen an den Knöcheln verkohlt.

   Er ging wieder ins Schlafzimmer und setzte sich, von Schwäche übermannt, zu ihr aufs Bett. "Du wirst sofort abreisen?" Sie sagte tonlos und ohne die Augen zu öffnen: "Ja." - "Weißt du, wohin?" - "Ja. Ich hab Verwandte in München." Er schwieg. "Geh nicht fort", rief sie, "ich habe solche Angst!" Er erhob sich. "ich muss in die Batterie." Sie begann wieder zu weinen: "Bleib doch!" Er sagte: "Lass dir´s gutgehn." Sie rief hinter ihm her: "Werner!" Er warf die Vorsaaltür zu und lief aus dem Haus.

   Gottesknecht stand auf den Stufen der Schreibstube. Holt meldete sich zurück. Gottesknecht sah ihn lange an, vom versengten, unbedeckten Kopf bis hinab zu den Füßen. "Doch nicht etwa mittenhineingeraten?"

   "Jawohl."

   "In Wattenscheid?"

   "Jawohl."

   Gottesknecht schwieg. Dann fragte er: "Und... schlapp gemacht?" Holt schüttelte den Kopf. Gottesknecht stopfte sich eine Pfeife und entzündete sie. "Lassen Sie sich vom Sanitäter Brandsalbe geben, und Heftpflaster. Oder wollen Sie ins Revier? Gut. Tauschen Sie die Montur. Die Mütze ist weg? Schreiben Sie einen Wisch, ich mach meinen Wilhelm drauf, das soll der Wachsmuth zu den Listen legen. Die Kleiderbude brennt sowieso eines Tages mal ab."

   "Jawohl, Herr Wachtmeister!"

   Gottesknechts Blick ruhte auf Holt. Dann fragte er: "Wohl gerade noch rausgekommen?"

   "Jawohl."

   "Allein?"

   "Ein kleines Mädchen hab ich mitgeschleppt. Und eine Frau. Sie hat mir´s so schwer gemacht. Als ich das Kind endlich draußen hatte, da war´s ... da hat es nicht mehr gelebt."

   "Holt!" sagte Gottesknecht, und er kam die wenigen Stufen herab, und tatsächlich: er nahm Holt am Arm und zog ihn fort, zur Feuerstellung hin. "Werner... Junge ... Kopf hoch!" Er sprach sehr leise. "Zähne zusammenbeißen. Durchhalten. Nicht schlapp machen. Das ist doch die einzige Chance! Ein paar von euch müssen übrig bleiben. Der Krieg geht zu Ende, vielleicht bald. Ihr müsst weiterleben."

   Sie blieben stehen. "Verstehn Sie mich recht", fuhr Gottesknecht eindringlich fort. "Ich bin Lehrer, Jungen wie euch hab ich zum Abitur geführt, ich will das wieder tun. Soll ich vor leeren Klassenzimmern unterrichten? Ihr müsst es durchstehen! Wenn dieser Krieg zu Ende ist, dann... beginnt der schwerere Kampf. Es ist nicht nur das kleine Mädchen, HoIt. Keiner kann mehr die Toten zählen. Es ist schon zuviel gestorben worden! Nach dem Krieg ist soviel Arbeit. Die Suppe ist in fünf Jahren eingebrockt, ein Jahrhundert wird daran löffeln." Er zwang Holt seinen Blick auf. "Wer sich heute freiwillig zu den Ein-Mann-Torpedos meldet, zu den Sturmstaffeln oder Panzerjagdkommandos, der drückt sich vor dem schwereren Kampf, der nachher kommt! Wer sich mit allen Mitteln zu bewahren sucht, nicht aus Feigheit, Holt, sondern aus Einsicht, der bewahrt sich für... Deutschland."

   Deutschland... dachte Holt. Zum ersten Mal im Leben hörte er das Wort nicht von Jubel getragen oder von Heilrufen umrahmt, sondern gleichsam entblößt von altem Flitter und Standartengold, durchzittert von tiefer Sorge. "Deutschland", sagte Gottesknecht, "das ist ja schon heute kein Gigant mehr, der Europa beherrscht, sondern ein blutendes, elendes Etwas. Es wird noch elender werden und bettelarm und wird unsagbar leiden, aber es darf nicht verbluten! Für das riesige, schimmernde Deutschland von gestern zu sterben, das nenn ich Feigheit, Holt. Aber für das arme, todwunde Deutschland von morgen zu leben... das ist Heroismus, dazu gehört Mut. Ich weiß: Sie suchen, Holt... einen Sinn, ein Ziel, einen Weg... Ich kenn den Weg nicht. Ich kann Ihnen nicht helfen. Wir sind alle mit Blindheit geschlagen und müssen durch die sieben Höllen hindurch bis zum Ende." Er schwieg. Dann sagte er noch: "Das muss wohl so sein. Damit wir endlich wir selbst werden."

   Holt ging allein zur Baracke weiter. Die verbrannten Hände schmerzten nicht mehr. Er schaute geradeaus, über die Baracke hinweg, am Horizont lag Dunst. Er blickte durch den Dunst hindurch ins Ferne und Uferlose. Er begriff nichts und verstand nichts. Er horchte, ob nicht das Wecksignal ertöne... aber noch war es wohl nicht soweit.

   Er fiel in einen Schlaf, der an Ohnmacht grenzte. Die anderen ließen ihn liegen und rüttelten ihn erst am Nachmittag wach.

   Holt fand sich in der kleinen Stube wieder, und ein Gefühl der Geborgenheit durchströmte ihn. Er hörte Wolzows rauhe Stimme: "Raus, du Penner! Ich hab dir was zu fressen mitgebracht!" Er fühlte Gomulkas Blick mitleidig auf sich gerichtet.

   Keller, Kalkstaub, Feuersturm, ist das überhaupt Wirklichkeit gewesen? Unmessbares Grauen war nun wie von Nebel bedeckt, unwirklich, unglaubhaft, fern... Holt dachte: War es ein Angsttraum?

   Er richtete sich auf, wie zerschlagen, es gab keine Stelle an seinem Körper, die nicht schmerzte. Doch mit einem Satz sprang er vom Bett und reckte sich.

   Am Tisch saß rauchend der Sanitäter, die Ledertasche auf den Knien. Er grinste. "Bei Ihnen mach ich sogar Hausbesuche, kostet fünf Mark! Los, lassen Sie sich verarzten!" Auf beiden Handrücken hatten sich Brandblasen gebildet. "Die lassen wir schön in Ruhe, sonst entzündet sich das." Er legte Holt einen Mullverband an. "Hier... Prontosil-Rotschiff, das beruhigt die Nerven!"

   Holt zog sich endlich die verbrannte Montur aus. Gomulka sagte: "Du bist am ganzen Körper blutunterlaufen!" Holt sagte nur: "Ich versteh nicht, wie die Leute das aushalten!" Da gab es gleich wieder Streit.

   Holt dachte: Jetzt geht das Theater von neuem los! Branzner furchte die Stirn und sah Holt missbilligend an. "So! Das verstehst du nicht? Na, da werd ich dir das erklären." Gomulka sagte: "Da bin ich aber gespannt!" Branzner warf einen misstrauischen Blick auf ihn und begann: "Die deutsche Nation ist von unwandelbarem Glauben an den Führer und an den Endsieg erfüllt. Darum nimmt sie alle Lasten freudig auf sich. Wer Wind sät, wird Sturm ernten! Der Führer hat das ganz klar gesagt, voriges Jahr, am Vorabend des 9. November, Die Ausgebombten sind die Avantgarde der Rache!"

   Holt sah das Elendslager der Ãœberlebenden auf dem Gelände der Kohlengrube. Avantgarde? Vetter nähte sich mit einer riesigen Stopfnadel einen Knopf an die Drillichjacke. Gomulka fragte Branzner: "Hast du schon mal einen Terrorangriff mitgemacht?"

   "Nein."

   "Dann halt den Mund!"

   "Aber der Führer", protestierte Branzner. "Du sollst den Mund halten!" rief Gomulka. "Der Führer hat auch noch keinen Terrorangriff mitgemacht! Er hat noch nicht einmal eine ausgebombte Stadt besucht!"

   Branzner schluckte, dass sein großer Adamsapfel auf und nieder hüpfte. "Das... das... jetzt ist es genug!" sagte er. "Heut legt ihr mich nicht wieder rein! Jetzt mach ich endgültig Meldung! Ich geh zum Chef!" Holt rief: "Gilbert, nun sorg du doch endlich mal für Ruhe!" Wolzow, der seine strategischen Lehrbücher aus dem Spind holte, fragte uninteressiert: "Was willst du denn melden?" und vertiefte sich in ein Buch. Branzner schnallte das Koppel um. "So fing es 1918 auch an! Ihr treibt Zersetzung! Feindpropaganda ..."

   Gomulka schüttelte den Kopf. Branzner schrie wütend: "Ihr steckt alle unter einer Decke! Kirsch, du hast es gehört!" Kirsch, der Tischlersohn, saß am Tisch und stopfte paketweise Butterkeks in sich hinein. "Ich...?" Er gähnte. "Das können hier alle bezeugen, dass ich fest geschlafen hab!" Gomulka sagte befriedigt: "Da wird sich nichts machen lassen, Branzner!"

   Branzner setzte die Mütze auf. "Also gut! Gut! Ein Verschwörernest! Aber ich lass euch alle hochgehn, alle!" Er schrie: "Volksschädlinge seid ihr, Saboteure. .

   Gomulka tippte sich stumm an die Stirn; er schnitt Holt mit Sorgfalt und Geschick das versengte Haar. "Volksschädlinge?" rief Vetter in seiner Ecke. "Also, Gilbert, so was darfst du dir als Offiziersbewerber nicht gefallen lassen. Stell dir vor, diese Knalltüte läuft zum Chef!" - "Jawohl", sagte Holt, "du musst ihm ein für allemal beibringen, wie er sich zu benehmen hat."

   Wolzow blickte von seinem Buch auf. "Wie hat er mich genannt?" - "Volksschädling", hetzte Vetter, "Saboteur... und überhaupt..." Wolzow sprang auf, langte sich Branzner und fasste ihn mit der Rechten vorn an der Bluse. Branzner wollte sich wehren, aber da traf ihn schon eine schallende Ohrfeige. Vetter meckerte vergnügt, und Kirsch stopfte Keks in sich hinein. Wolzow hob den erschlafften Branzner mit der Rechten langsam in die Höhe, er war so kräftig, dass er ihn in der Luft schütteln konnte. Dann stellte er ihn auf den Boden, stieß ihn gegen einen Spind und zog ihn wieder dicht zu sich heran. "Hör zu! Hör genau zu! Die paar Wochen, die ich noch bei diesem Haufen bin, will ich Ruhe haben! Ich lass mir doch von dir nicht meine Laufbahn vermasseln. Du Wirst also endgültig aufhören zu stänkern! Sonst... Weißt du, was sonst ist? Du bist nachts mit uns am Geschütz. So wahr ich Gilbert Wolzow heiße: Ich schlag dir beim nächsten Schießen mit´m Schraubenschlüssel das Genick ein! Solche Unfälle passieren relativ häufig, das kannst du schon in Prinz Kraft zu Hohenlohes 'Militärischen Briefen über Artillerie' nachlesen! Verstehen wir uns?" Er ließ Branzner los.

   Holt hatte das Empfinden, als schnüre ihm jemand die Kehle zu. Er nahm Wolzows Drohung ernst. Er hatte nie die Szene vergessen, als Wolzow am Rabenfelsen dem wehrlosen Meißner die Mündung der Pistole auf die Stirn gedrückt hatte... Es ist alles dasselbe, dachte Holt in einem Gefühl des Grauens. Ob er einen Wachhund totschlägt, ob er sich prügelt oder Nahfeuer schießt... es ist alles dasselbe!

   Bei der Leitungsprobe sagte Gomulka unvermittelt zu Holt: "Stell dir vor, Wolzow wär unser Feind!" Er hing die Kopfhörer in den Bunker. "Wenn du nicht sein Freund wärst..." - "Ein Glück, dass er vorhin nicht richtig zugehört hat", sagte Holt. "Wer weiß, was das für ein Theater gegeben hätte!"

   Gomulka setzte sich auf einen Holm. "Sag mir mal ganz ehrlich: Wie war das heut nacht?" - "Ich sag es nur dir", erwiderte Holt. "Es war über jede Beschreibung furchtbar. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgend etwas auf der Welt schlimmer ist. Lieber Tiefangriffe und Bombenteppiche" hier draußen."

   Gomulka schwieg. Dann sagte er zusammenhanglos: Wolzow hat von seinem Onkel Post bekommen. Der ist schon wieder befördert worden, zum Kommandierenden General. Er übernimmt eine Einheit an der Westfront. Früher hatte er eine Luftwaffen-Felddivision in Russland, die wurde eingeschlossen. Bei Woronesch. Aber er ist mit einem Fieseler-Storch aus dem Kessel entkommen."

   Bei Woronesch eingeschlossen, dachte Holt. Da hat man ja auch nie davon gehört. Er dachte verwundert: Vor einem Jahr hätte mich so eine Bemerkung niedergedrückt. Gomulka sagte beiläufig: "Ich hab auch Post von daheim." Holt frag sagte klommen: "Und ... hast du was gehört? Hängt es mit dem Attentat zusammen? Ist sie festgenommen worden?" Gomulka schüttelte den Kopf. "Sie soll spurlos verschwunden sein..." Fragen Sie nach niemandem, dachte Holt, reden Sie mit keinem... - "Sippenhaft!" flüsterte Gomulka. "Oberst Barnim soll mit seinem Regiment kapituliert haben, und als er selbst zu den Russen wollte, da haben sie ihn..."

   Holt sprang auf. "Hoffentlich lassen sie uns heut nacht schlafen", sagte er hastig.

   In der Nacht, an der Kanone, riss Wolzow Witze über den Mosquito-Verband, der kreuz und quer durch das Land flog, ehe er sich nach Berlin wandte und dort Bomben warf. "Da verarschen sie die Nachtjäger", sagte er, "die suchen jetzt bei München!"

   Am anderen Morgen war der Ersatz da. Vetter kam früh um sieben von der Leitungsprobe, als die anderen noch in den Betten lagen, und rief: "Die Schusterjungen sind da! Mensch, das sind keine Oberschüler, das sind solche Heinis, Bäckerlehrlinge, Schlosser, lauter solches Kroppzeug von der Berufsschule... Fragt mich einer: 'Kamerad, ich finde mir hier nicht zurecht...'. Ich hab gesagt: 'Da musst du dir mal beim UvD erkundigen, sonst kann ich dich nicht helfen ...' Sagt der auch noch: 'Danke!' Männer, das wird was! Wenn die sich nicht benehmen, dann führ ich hier offiziell die Prügelstrafe ein!" Wolzow rief von seinem Bett: "Mit denen geben wir uns gar nicht ab!"

   Beim Morgenappell nahte Kutschera seltsamerweise ordentlich angezogen, von drei hohen HJ-Führern begleitet. Gottesknecht holte einen Karton aus der Schreibstube. Wolzow stieß Holt überrascht mit dem Ellenbogen an. Kutschera rief: "Die Luftwaffenoberhelfer Dusenböker, Hörschelmann und Wolzow... vortreten!" Er überreichte den drei Jungen das Eiserne Kreuz. Gottesknecht stopfte ihnen die Bänder ins Knopfloch, die HJ-Führer schüttelten ihnen die Hände. Dann ließ Kutschera das Batteriekommando vortreten und las Namen von einer Liste: "Dusenböker, Ebert, Gomulka, Grubert, Holt..." und so weiter, alle, die noch vom Jahrgang 27 da waren, mit den beiden Hamburgern noch siebzehn Mann. Holt lief nach vorn. Er dachte: Wir waren achtundzwanzig, als wir herkamen... dreizehn Tote aus einer Klasse! Gottesknecht steckte ihm das Flakschießabzeichen an die Bluse, das begehrte silberne Abzeichen, an der linken Brust zu tragen...

   Die Batterie wurde eingeteilt. Gottesknecht rief: "Holt, Wolzow, Gomulka, ihr könnt morgen fahren!" Wolzow sagte strahlend: "Herr Wachtmeister, also, auf das EK müssen wir zusammen ungeheuer einen saufen!" - "Sie sind wohl verrückt!" empörte sich Gottesknecht. "Mit siebzehn Jahren alkoholische Exzesse, dem leiste ich keinen Vorschub!" Am Abend brachte Wolzow aber doch eine Flasche Kognak. Holt wurde nach ein paar Schlucken angenehm müde. Er dachte glücklich: Urlaub, Ruhe, endlich!

   Beim Stubendurchgang befahl Gottesknecht: "Morgen wird alles eingepackt! Spinde leer machen! In unserem Batteriegelände wird ein Flakschwerpunkt gebildet... Großkampfbatterie mit achtzig oder hundert Geschützen."

   Nachts saßen sie faul im Geschützstand und sahen den Neuen beim Schießen zu. Am anderen Margen packten sie. Vetter musste bleiben. Der Urlaub begann zwölf Uhr und dauerte vierzehn Tage, zuzüglich zweier Reisetage. Sie liefen im Trab nach Essen. Als sie endlich auf dem Bahnhof angelangt waren, heulten die Sirenen Vollalarm. Ein Wehrmacht-LKW nahm sie mit nach Süden. In Wuppertal kletterten sie in einen Personenzug. Nach ein paar Stationen blieb der Zug auf freier Strecke stehen. Wolzow sah aus dem Fenster. "Los, raus!" Und sie liefen, während die Bomber sie überflogen, zu einer großen Schutthalde. Die Flak schoss, ringsum grollte es dumpf. Sie liefen auf einem Feldweg nach Westen. Hinter Ihnen schütteten die Viermotorigen ihre Bomben aus.

15

   Ãœber der Wolzowschen Villa hing ein trüber Morgenhimmel. Es regnete.

   Holt und Wolzow trugen die Rucksäcke ins Haus. Holt streckte die Füße von sich. Der Klubsessel war weich. Wolzow berichtete: "Das Haus ist voll fremder Leute, Bombenfrischler, weißt schon, Evakuierte und Ausgebombte. Da baun wir für dich ein Feldbett in mein Zimmer und sind ganz unter uns."

   Holt schlief erschöpft und traumlos. Als er am Nachmittag wach wurde, öffnete Wolzow eine Konservenbüchse. Ãœber dem Spirituskocher, in der Pfanne, brutzelte Fett. Holt erschrak vor der heillosen Unordnung, die ringsum herrschte alles lag durcheinander, die Stahlhelme, die Uniformen, die geöffneten Rucksäcke. Ãœberall Gerümpel, das ausgestopfte Rebhuhn obenauf, die Duellpistolen, der zertrümmerte Totenkopf. "Wir müssen hier erst mal aufräumen, Gilbert!" - "Wieso? Ich find´s ganz gemütlich." Wolzow kippte den Inhalt der Konserven-büchse in die Pfanne. Der Duft gebratenen Fleischs füllte das Zimmer.

   Holt wickelte den Verband von den Händen. "Mein Onkel", sagte Wolzow, "ist in Frankreich, vorher war er noch mal hier und hat einen Haufen Kram dagelassen, Vorräte: Konserven, Rotwein, russischer Tabak, sogar Kaviar, ich hab vorhin so´n Döschen aufgemacht, schmeckt wie Hering, aber satt wirst du nicht davon, da musst du schon zehn Büchsen auf einmal fressen..." - "Ob ich nicht erst mal deine Mutter begrüße?" fragte Holt. "Lieber nicht. Du störst sie bloß beim Heulen. ich hab ihr gesagt, dass wir da sind, das genügt."

   Das Haus war verwahrlost. Im letzten Jahr mochte nichts mehr aufgeräumt oder gar gesäubert worden sein. Nur im Erdgeschoß, wo nun Fremde wohnten, herrschte Ordnung. Holt ging ins Bad. Der Abfluss der Wanne war mit Haarbüscheln verstopft. Aus dem Hahn über dem Becken lief kein Wasser. Richtig, dachte Holt, da hat Gilbert damals das Bleirohr rausgerissen... Er duschte sich. Er sah im Spiegel, dass sich die blutunterlaufenen Stellen auf dem Rücken blau und grün färbten.

   Zum Frühstück aßen sie das Büchsenfleisch aus der Pfanne. "Brot?" dozierte Wolzow. "Fleisch ist viel gesünder. Attila soll nur Fleisch gegessen haben." Er hatte als erstes den zerlesenen Clausewitz aus seinem Rucksack geholt. Holt blätterte darin. "Wenn du dich endlich mal ´n bisschen mit Kriegskunst beschäftigen willst", sagte Wolzow, "dann fängst du am besten mit Schlieffens 'Cannae' an."

   Holt klappte das Buch zu. "Danke", sagte er und nahm die angebotene Zigarette.

   Wolzow fuhr fort: "Wenn man keine militärischen Kenntnisse besitzt, kann man nämlich die Vorgänge an den Fronten gar nicht richtig verstehen. Soll ich dir sagen, warum Leute wie Branzner die Wahrheit über die militärische Lage nicht hören wollen?" entgegnete Wolzow. "Weil sie innerlich... unsicher sind, weil sie trotz aller schönen Worte den Krieg eigentlich gar nicht richtig mögen! Schau mal, der Führer sagt zwar immer, der Krieg sei uns aufgezwungen worden, aber das sagt er bloß wegen der Leute. In Wirklichkeit war nach 1918 natürlich ein neuer Krieg fällig, ich weiß doch von meinem Vater, dass ein richtiger Soldat so eine Niederlage nicht hinnimmt, ohne an die kommende Revanche zu denken. Das steht auch alles in 'Mein Kampf', und auch, dass wir uns neuen Boden im Osten mit dem Schwert erobern müssen..."

   Holt hatte kaum aufgeatmet, von der zermürbenden Anspannung des Luftkrieges befreit, er hatte sich kaum in die Atmosphäre der kleinen Stadt und des Urlaubs eingewöhnt, da stießen ihn Wolzows Worte in die alte Niedergeschlagenheit zurück und riefen die Erinnerung wach: "...Eroberungskrieg vorbereitet und entfesselt..." so hatte Vater gesagt, und auch Gomulkas lakonische Worte angesichts der verhungernden Gefangenen waren gegenwärtig "Sie haben nicht angefangen..."

   "Einer wie ich", redete Wolzow unterdessen, weiter, "na, wie soll ich sagen?... der bejaht den Krieg, und wenn keiner wäre, müsste man schnell einen anfangen. Es muss ein ordentlicher Krieg sein, nicht so´n Ramschkrieg wie 1806, sondern nach allen Regeln der Kriegskunst, wie bei Alexander oder Napoleon. Also frag nur, jetzt haben wir Zeit. Willst du die Lage erläutert haben? Wir kämpfen nun langsam auf der inneren Linie, und das schöne Vorfeld ist hin."

   Holt rauchte, er ließ Wolzow reden. Er sah auf die Uhr und erschrak. "Schluss! Das Wehrbezirkskommando macht zu!"

   Sie trafen Gomulka in der Stadt. Der Regen war versiegt, die Wolkendecke riss auseinander, und ab und zu huschte Sonnenlicht über die Erde. Sie gingen stadtwärts. Nachdem sie sich auf der Urlauberstelle gemeldet hatten, bummelten sie durch die engen Kleinstadtstraßen zum Marktplatz.

   Sie gingen an einem Lebensmittelgeschäft vorbei. Aus der Ladentür trat ein schmächtiges, sehr junges Mädchen und trat noch einmal zurück, um die drei vorbeigehen zu lassen. Das Mädchen, in einem ärmlichen bunten Kleid, trug am Arm einen Einkaufskorb.

   Ihr Haar war braun. Auch ihre Augen waren braun. Ihr Blick streifte über Holt hinweg. Er dachte:... da stand das Kind am Wege... es war eine Zeile aus einem Gedicht, das er einmal gelesen hatte: Da stand das Kind am Wege. Das kleine Mädchen mit den roten Schuhen fiel ihm ein. Er blieb stehen. Warum sieht sie so traurig aus?

   Das fremde Mädchen ging den Weg zurück, den er eben gekommen war. Ãœber ihr lastete der Himmel mit seinem Regengewölk. Durch ein Wolkenloch ergoss sich Sonnenlicht und blendete Holt. Er ging weiter. Was war das? dachte er. Wer war das? Wolzow schalt: "Der Kerl pennt am hellichten Tage!"

   Auf dem Marktplatz begegneten sie einer Rotte junger Leute, Peter Wiese war dabei und Herbert Wurm, bei dessen Anblick Wolzow die Brust mit dem Ordensband herauswölbte, und dann die Mädchen: Rutschers Schwester, die Friedel Küchler in Uniform, ihre Freundin, Putzi genannt, noch drei, vier andere. Sie trugen Badesachen bei sich. "Donnerwetter, der Wolzow mit ´m EK !" hieß es. "Und das, was ist das?" - "Flakschießabzeichen, gibt´s bei soundsoviel Abschüssen." Man schlug den Weg zur Badeanstalt ein. Holt blieb stehen. "Wir wollten doch Zemtzkis Eltern besuchen." Rutschers Schwester war noch blasser als früher und zog Holt beiseite. "Sie waren doch mit ihm am Geschütz..." Nichts erzählen! Holt dachte an den zertrümmerten Geschützstand, an die umgestürzte Kanone. Läuft mir der Krieg bis hierher nach? Die Mädchen erzählten von Einsätzen im Kinderlandverschickungslager... Man verabredete sich für den kommenden Tag.

   Sie besuchten Zemtzkis, saßen verlegen auf den Stühlen und redeten Frau Zemtzki ein, die Sache mit dem Müo sei wirklich nur ein Gerücht. "Ein ganz gemeines Gerücht", meinte Wolzow. Draußen schwur er: "Das war der erste und letzte Besuch dieser Art! Zu meiner Mutter braucht auch keiner hinzugehn, wenn´s mich erwischt." Gomulka ging zum Zahnarzt, um endlich die Lücke in der Schneidezahnreihe schließen zu lassen.

   Nachts schreckte Holt ein Angsttraum aus dem Schlaf: Flammen, überall Flammen... Es wird noch oft wiederkehren. Es ist erst drei Tage her! Drei Tage. Die Zeit ist durcheinander. Wie alt bin ich jetzt? Siebzehneinhalb. Wenn es bis zum Flakeinsatz sechzehneinhalb gewesen sind, dann müssen seither dreißig, fünfzig Jahre verstrichen sein. Noch mehr. Die Feuernacht in Wattenscheid allein hat hundert Jahre gedauert. Er sank wieder in Schlaf, glücklich in dem Gedanken: keine Alarmglocke, keine Mosquitos, keine Leitungsprobe. Im Einschlafen dachte er wieder: Da stand das Kind am Wege mit einem Einkaufskorb.

   Wolzow triumphierte am nächsten Morgen: "Herrliches Wetter! Der Himmel verlässt die alten Krieger nicht!" Beim Frühstück erzählte er, was er sich vorgenommen hatte: "Da liegen noch die Tagebücher von meinem Vater rum, die muss ich endlich lesen. Dann will ich in die Berge, unsere Pistolen ausbuddeln." Holt wollte Peter Wiese besuchen. Wolzow fragte: "Ausgerechnet den Miesepeter? Was du bloß an dem findest!" Vorerst beschlossen sie, baden zu gehen. Holt hatte Bedenken, mit seinem zerschundenen Rücken. "Da lagen die Helden, die Wunden vorn", zitierte er. "Die alten Germanen hätten mich mit Schimpf und Schande davongejagt." - "Da gab´s auch noch keinen Luftkrieg." Wolzow fuhr mit den Beinen in die Ãœberfallhose. "Das waren Zeiten! Stell dir das vor Kampf Mann gegen Mann, o was hätt ich dazwischengehaun, bestimmt!" Die Vorstellung einer längst vergangenen Kampfesweise überwältigte ihn. "Ich wär der größte Feldherr des Altertums geworden", prahlte er. "Dem Hannibal hätte ich mit einer Gegenumfassung geantwortet. So ein Blödsinn! Varro stellt die Truppen sechsunddreißig Mann tief auf, was nützt ihm da seine Ãœberlegenheit? Ich hätte die Hastati und Principes nur in zwölf Glieder gestellt und die Triarii seitlich gestaffelt in Reserve behalten, da hätt ich Hasdrubals Reiterei in den Aufidus geschmissen..."

   "Oder Napoleon", spottete Holt, "da hättest du ganz Russland erobert..." Aber Wolzow entgegnete: "Nein." Er zog sich die Hose über den Bauch. "Wenn ich Napoleon gewesen wär, hätte ich Russland nicht angegriffen. Die Russen hätten ja kommen können, wenn sie was wollten. Da hätte ich aus der Nachhand geschlagen, ganz nahe meiner Basis." Er knöpfte sich die Hose zu. "Bei Napoleon ist es anders. Napoleon hat als Feldherr keinen Fehler gemacht. Wenn da behauptet wird, er hätte vor dem Marsch auf Moskau erst die baltischen Festungen erobern müssen, dann ist das Geschwätz. Napoleon hat in Russland richtig gehandelt, das hat Clausewitz ein für allemal nachgewiesen. Napoleons Russlandfeldzug ist deshalb nicht gelungen, sagt Clausewitz, weil die feindliche Regierung fest, das Volk treu und standhaft blieb, weil er also nicht gelingen konnte. Was schaust du denn so? Was ist denn?"

   "Nichts", antwortete Holt. "Beeil dich. Schade um den schönen Nachmittag!"

   Die Badeanstalt war fast menschenleer. Holt schwamm zum anderen Ufer, Wolzow blieb zurück. Als Holt die Flussmitte erreicht hatte, legte er sich auf den Rücken und ließ sich treiben, Blödes Beispiel, dachte er, musste ich ausgerechnet auf Napoleon kommen? Am jenseitigen Ufer lag er eine Weile im Gras. Stimmt also gar nicht, dass der Führer Napoleons Fehler vermieden hat, wie´s immer heißt. Napoleon hat demnach gar keine gemacht.

   Als er wieder die Badeanstalt erreichte, hielt er sich ermattet an der Treppe fest und hing eine Weile im Wasser. Dann kletterte er an Deck. Das Herz arbeitete in harten Schlägen. Auf dem alten Stammplatz neben dem Sprungturm sah er sie alle beisammen, Jungen und Mädchen, Wolzow und Gomulka mittendrin. Langsam ging er über das Floß. Nein, dachte er, das ist doch nicht möglich! Ganz allein, weit abseits, saß das fremde Mädchen, an einen Pfeiler des Geländers gelehnt, die Knie bis unter das Kinn gezogen, hockte dort mit geschlossenen Augen.

   Holt schlich zum Sprungturm und warf sich auf die Planken. Sogleich fragte die Friedel Küchler, wer ihn denn so grün und blau geschlagen habe. Holt antwortete nicht. Aber Gomulka, der sonst Kraftausdrücke gar nicht liebte, fuhr sie an: "Wo der Werner sich das geholt hat, du dumme Gans, dort hättest du dich vor lauter Angst von oben bis unten be... schmutzt!" Die Mädchen verzogen die Gesichter. Wolzow begann derartig zu lachen, dass oben am Ufer der alte Bademeister verwundert aus seiner Bretterbude schaute.

   Dann saßen sie stumm und träge in der Sonne. Jemand fragte: "Wie ist denn der Luftkrieg nun eigentlich?" Wolzow grinste. "Wie der Luftkrieg nun eigentlich ist? Der Luftkrieg ist nun eigentlich ganz einfach! Das ist der einfachste Krieg, den´s überhaupt gibt. Wir sind unten und schießen nach oben, und die sind oben und schmeißen nach unten."

   Holt dachte: Ich muss noch warten, eh ich frag, sonst fällt´s auf! Er fragte schon, so ganz nebenbei: "Wer ist das Mädchen dort drüben?" Alle wendeten die Köpfe. Ein paar Mädchen lachten. Holt sagte gereizt: "Ihr seid albern!" Wolzow brummte: "Alle Mädchen, sobald mehrere beisammen sind! Eine allein möcht am liebsten in die Erde versinken." - "Gut beobachtet", sagte Gomulka.

   "Die ist nicht von hier", erzählte Friede! Küchler, die weißblonde BdM-Führerin, nach einer Weile. "Die ist evakuiert, aus Westdeutschland, ich glaube aus Schweinfurt. Die soll hier oben" - sie tippte mit dem Finger an die Stirn - "nicht ganz in Ordnung sein. Von ihrer Scharführerin weiß ich, dass sie keine Eltern mehr hat und in Schweinfurt Dienstmädchen war, das heißt, sie war im Pflichtjahr. Sie ist ja erst fünfzehn. Sie soll bei einem Angriff verschüttet worden sein, und als man nach einer Woche den Keller geöffnet hat, war alles tot, bloß sie hat noch gelebt. Dann hat sie im Krankenhaus gelegen. Jetzt ist sie hier bei einer kinderreichen Familie im Pflichtjahr, der Mann ist in der SS, dort ist sie gut aufgehoben. Im Mai musste sie wieder ins Krankenhaus. Jetzt hat sie Schonung und braucht bloß vormittags zu arbeiten."

   Wolzow legt sich lang auf die Planken. "Krieg Ist eben Krieg." Holt kämpfte gegen die Vision eines Kellers, in dem sich zwischen erstarrten Leichen ein Lebender um den Verstand schrie. Er hörte ringsum das Geplauder der Mädchen. Er fragte mit heiserer Stimme: "Warum kümmert ihr euch nicht um sie?" Man verstummte. "Die will ja nicht. Die weicht ja allen aus."

   Holt sprang auf. "Volksgemeinschaft", höhnte er, "alle für einen..." Er sah viele Augenpaare verständnislos auf sich gerichtet. Ihm war, als höre er die blonde BdM-Führerin von verschworener Gemeinschaft reden, und das war noch kein Jahr her! Er hörte auch Frau Ziesches Stimme: Lass doch das Kind! Mich musst du retten! Dann wandte er sich rasch ab. Hinter seinem Rücken sagte Gomulka: "Er hat so was vor paar Tagen selbst erlebt."

   Das ist es ja gar nicht, dachte Holt, als er das Floß entlangging. Ich hab es durchgestanden, ich würde es wieder durchstehen.

   Am Ende des Floßes, wo die Paddelboote und Angelkähne befestigt waren, setzte er sich nieder und ließ die Füße ins Wasser hängen. Der Fluss glänzte im Licht.

   Acht Tage verschüttet! dachte er. Er sah sich das kleine Mädchen mit den roten Schuhen zum Verbandplatz tragen, und jemand sagte: Ex. Die Mühe hätten Sie sich sparen können. Brennendes Dachgebälk krachte auf die Straße, und Funken stoben bis in den Hausflur... Kennen Sie einen Oberst Barnim? Und dann:... erschossen worden. Was ist mit Uta? Vielleicht lebt sie nicht mehr... Vielleicht hat sie nie gelebt. Vielleicht hab ich Uta nur geträumt, wie die Mustangs, den Schmiedling, die Bombenteppiche.

   Er erhob sich und ging langsam zu dem Mädchen, das noch immer in der Sonne saß, den Rücken an die Planken des Geländers gelehnt;. Er setzte sich an ihrer Seite auf den Boden. "Ich heiß Werner Holt. Ich bin Luftwaffenhelfer und hab Urlaub." Sie wandte flüchtig den Kopf zu ihm hin. Langsam stieg ihr die Röte in die Wangen.

   Wenigstens ist sie nicht gleich fortgelaufen, dachte er. Ihr Gesicht war ihm eigentlich gar nicht fremd, die bewimperten Lider, die dunklen Brauen und die roten Lippen. Ich darf sie nicht so anstarren, sonst läuft sie doch noch weg! Was sag ich bloß? "Ich bin auch fremd, ich bin erst voriges Jahr hierher aufs Gymnasium gekommen, nur ein paar Monate, dann ging´s zur Flak."

   Flak ist falsch, dachte er. Luftwaffenhelfer war auch falsch, das erinnert sie an den Bombenkrieg. "Ich hab´s zu Hause nicht länger ausgehalten, ich weiß nicht, warum." Zu Hause, das ist auch falsch, weil sie keine Eltern mehr hat... - Eigentlich hab ich auch keine Eltern mehr. "Sie müssen... Du musst entschuldigen", sagte er verwirrt. "Ich rede lauter Unsinn... Es ist aber auch schwer", sagte er gradheraus, "ein fremdes Mädchen anzusprechen. Außerdem hab ich Angst, dass du fortläufst."

   Sie rührte sich nicht.

   "Ich hab dich schon gestern gesehen, mit dem Einkaufskorb", fuhr er fort. "Am liebsten wär ich dir gleich nachgegangen. Als ich hörte..." Jetzt schlug sie die Augen auf, aber sie blickte geradeaus... "... dass du aus Schweinfurt bist..." Er dachte: Was red ich da? "...als ich das hörte, dachte ich, dass dich hier überhaupt keiner verstehen kann."

   Sie schloss die Augen und saß unbeweglich.

   Verstehen, dachte Holt, kann man denn überhaupt einen anderen Menschen verstehen? "Wir sind im Ruhrgebiet eingesetzt. Ich weiß nicht, wie oft ich in den Luftlagemeldungen gehört hab: 'Raum Würzburg-Schweinfurt'... " Er erinnerte sich sehr deutlich. Es war im Oktober gewesen, die Amerikaner hatten an die tausend Begleitjäger mitgeschickt, und die Luftkämpfe zogen sich von der holländischen Grenze bis in den süddeutschen Raum. Mehr als hundert Viermotorige waren abgestürzt, aber Schweinfurt war dennoch bombardiert worden... Holt sah ein Häusermeer in einer grauen Rauchwand versinken, darin unaufhörlich die Blitze der Einschläge zuckten, bis sich das Rot der Brände durch den Rauch fraß... Er schüttelte die Erinnerung ab. Wie sagte Gottesknecht immer? Zähne zusammenbeißen!

   "Es ist gut, dass ich damals nichts von dir wusste. Ich hätte ja keine Ruhe gehabt. Helfen hätte ich dir auch nicht können." Er saß lange stumm neben ihr. Unsicher durch ihr standhaftes Schweigen fragte er: "Soll ich gehn?" Sie schüttelte unmerklich den Kopf.

   Die Gesellschaft am Sprungturm brach auf. Wolzow sah im Vorbeigehen auf das Mädchen, dann verlor sich der Stimmenlärm auf der Liegewiese. Sie blieben allein auf dem Floß zurück. Die Abendsonne stand tief über den Bergen jenseits des Flusses und wärmte nicht mehr. Er fragte: "Ich weiß noch gar nicht, wie du heißt."

   "Gundel. Eigentlich Gundula." Er horchte auf ihre Stimme, eine dunkle, etwas brüchige Stimme. Er wiederholte: "Gundel..." Sie wandte ihm das Gesicht zu. "Und mit Familiennamen?" - "Thieß." Ihre Stimme gefiel ihm. "Wird dir nicht kalt?" Sie sagte statt einer Antwort: "Die andern werden böse sein, wenn du nicht mitgehst. Es sind doch deine Freunde." - "Gilbert und Sepp", sagte er, "die andern gehn mich nichts an."

   Sie lächelte. Er sah zwischen den Lippen die blanken Zähne schimmern. "Woran denkst du?" Das Lächeln vertiefte sich. Sie sagte: "Ich möcht wissen, was du gestern gedacht hast." - "Ich?" Die Frage verblüffte ihn. "Ich hab dir nachgeschaut. Zuerst fiel mir eine Zeile aus einem Gedicht ein... Da stand das Kind am Wege..." Sie neigte den Kopf zu ihm hin: "Und wie geht´s weiter?" Er überlegte angestrengt. "Da stand das Kind am Wege... und winkte ihn nach Haus... Es ist von Storm, glaub ich." Er sah, dass sich ihre Lippen bewegten; sie wiederholte für sich die beiden Verszeilen. "Und du?" forschte er. "Was hast du gedacht?" Da stieg ihr wieder die Röte ins Gesicht, und sie stand auf. Er war einen halben Kopf größer als sie. Er sah ihr nach, dann rannte er über die Liegewiese zu seiner Kabine und fuhr in die Uniform. Er wartete am Ausgang.

   Sie trug wieder das verschossene bunte Kleid. Er lief wortlos neben ihr durch die Parkanlagen zur Stadt. Als hinter der Brücke die Straße nach links zum Fischerviertel abzweigte, blieb sie stehen und sagte: "Nicht... Es ist besser, wenn sie dich nicht sehen."

   "Gehst du morgen wieder baden?" Sie nickte. Dann, als sei dies schon zuviel gewesen, ging sie davon, die enge, schattige Gasse entlang.

   Holt besuchte am anderen Morgen Gomulka. Wolzow schlief noch. Auf dem Tisch lag ein Stoß schwarzer, in Wachstuch gebundener Hefte, in denen Wolzow die halbe Nacht gelesen hatte, die Tagebücher seines Vaters. Holt schrieb einen Zettel: "Bin bei Sepp. Sehen uns vielleicht beim Baden." Als sein Blick auf Wolzow fiel, der im Schlafe leise schnarchte, hatte er Lust, ihm ins Gesicht zu brüllen: Gefechtsschaltung! Sollst mal sehen, wie er hochkommt! Gomulkas bewohnten ein Haus am Stadtrand. Im Vorgarten blühten Gladiolen und Astern. Gomulka öffnete im Bademantel und führte Holt durch die Diele in ein helles Speisezimmer. Aus dem angrenzenden Raum drang das Gespräch mehrerer Frauenstimmen. Gomulka erläuterte: "Wir haben Verwandtenbesuch".

   Sein Zimmer war einfach möbliert. Hier herrschte eine peinliche, fast pedantische Ordnung und Sauberkeit. Als Gomulka den Schrank öffnete, sah Holt die Wäschestücke auf die gleiche Breite gefaltet, exakt aufeinandergestapelt, die Schuhe in Reih und Glied und die Kleidungsstücke sauber gebürstet auf den Bügeln. Er dachte an die Unordnung bei Wolzow.

   Sie suchten sich im Garten einen schattigen Platz. Die Aprikosenbäume hingen voll reifer Früchte. Gomulka meinte: "Heuer ist ein gutes Aprikosenjahr. Wir lassen sie ganz reif werden, überreif, da kann man sie ohne Zucker zu Marmelade kochen." Holt hob ein paar der herumliegenden Früchte auf, aß und warf die Kerne ins Gebüsch. Träge und zufrieden legte er sich unter einen Baum. Gomulka fragte: "Was machst du am Nachmittag?" - "Ich bin verabredet." Gomulka fragte vorsichtig: "Stimmt es, dass sie . . . nicht ganz richtig ist?"

   "Das ist ein verdammter Quatsch, Sepp! Das ist typisch für die Küchler, diese Ziege!" Holt fuhr ruhiger fort: "Ich weiß auch nicht, warum ich so eine Wut auf die hab. Wenn ich sie seh, dann wird mir schon ganz kribblig..." Er dachte: Sie ist das weibliche Gegenstück zu Ziesche und Branzner und all denen. "Sag mal, Sepp", fragte er nachdenklich, "warum haben wir eigentlich immer gegen die etwas, die begeistert sind, von der... nationalsozialistischen Idee durchdrungen? Wenn einer kommt, irgendein Fremder, da denkt man: Sympathischer Kerl! Kaum macht er den Mund auf, da geht´s los: Herrenrasse, unbedingte Gläubigkeit, fanatischer Wille, eben das übliche. Sofort denk ich: Lieber Gott, das ist ja auch so einer. Eigentlich sollten die doch unser Vorbild sein, Leute wie Ziesche, in ihrem... gläubigen Fanatismus."

   "Mir persönlich", sagte Gomulka bedächtig, "ist Fanatismus... na, unheimlich will ich´s nennen. Warum? Mit einem Fanatiker kann man nicht reden. Der Inbegriff des Fanatismus ist für mich eine wütende Bulldogge. Lach nicht, Werner, es ist wirklich so!"

   "Aber gerade Fanatismus wird doch von uns gefordert!" rief Holt. "Und gerade, weil ich dazu neige, alles zu zergrübeln, zu zergliedern, beneide ich diejenigen, die fanatisch glauben können. Ich geb mir wer weiß was für Mühe, fanatisch zu sein! Man hätte es viel einfacher. Das Nachdenken und Grübeln, das macht einen fertig, Sepp! Ich wünschte, ich wär ein Fana-tiker."

   Gomulka richtete sich auf, "Da könnte ich nicht dein Freund sein. Stell dir vor, ich sag etwas, da springst du auf, mit funkelnden Augen, und machst Meldung... Es ist ja sowieso unmöglich, ganz aufrichtig zu sein!" Er ließ sich wieder ins Gras sinken. "Das Nachdenken", sagte er mit ungewöhnlichem Ernst, "das macht dich nicht fertig, nur das sinnlose Nachdenken! Suchen ist richtig, nur nicht sinnlos suchen, gewissermaßen mit verbundenen Augen, im dunklen Zimmer..."

   Mit verbundenen Augen im dunklen Zimmer, dachte Holt, ja, ein gutes Gleichnis, oft ist es tatsächlich so, als tappe man im Finstern umher, dann denk ich: Das versteh ich nicht, und das werde ich nie verstehen ... Was hab ich nicht alles heruntergeschluckt in diesem einen Jahr. Barnims hier sind alle verhaftet, der alte Ziesche macht im Generalgouvernement eine unbeschreiblich dreckige Arbeit, die Juden, die stillschweigend verschwunden sind, werden mit... wie hieß es doch, Chlorkohlensäuremethylester oder so, das hat Vater gesagt, und gelogen hat er noch nie! Aber da darf ich überhaupt nicht daran denken! Denn wie soll ich durchkommen, ohne Sicherheit, ohne Halt? Was ist denn überhaupt noch sicher auf dieser Welt?

   "Vielleicht verstehen wir diese Zeit nicht", sagte er. "Aber jetzt, wo die Russen vor Ostpreußen stehen, bleibt da nicht wenigstens eins: dass wir für Deutschland kämpfen? Haben wir bisher nicht für Frauen und Kinder in Essen und Gelsenkirchen gekämpft? Vielleicht hat es nicht viel genützt, aber daran hab ich mich immer festgehalten: wir schützen Frauen und Kinder!"

   "Die anderen aber doch auch", sagte Gomulka. "Wenn du damit anfängst, dann gibt es überhaupt keine Klarheit mehr. Was meinst du denn, wofür die Russen kämpfen? Lass dir mal erzählen, wie die SS von Anfang an in Russland gehaust hat, die Feldgendarmerie und die Wehrmacht! Der Ziesche hätte dir genau erklärt, dass wir ein Recht haben, die Russen auszurotten, weil´s Bolschewiken sind. Nun versetz dich mal in so einen Bolschewisten hinein, dem vielleicht die ganze Familie erschossen oder nach Deutschland zur Zwangsarbeit gebracht worden ist. Kämpft der nicht für Frau und Kinder?"

   "Sepp... Du sagst das so einfach!" rief Holt. "Du nimmst diesen Widerspruch einfach hin! Und was gibt dir Halt?" - "Mir?" sagte Gomulka gedehnt und ausweichend. "Das ist schwer zu sagen, sehr schwer..."

   Holt dachte unvermittelt an des fremde Mädchen. Ein Mensch wird mir Halt sein, dachte er. Vielleicht hätte es Uta sein können, aber ich Idiot bin zu Gertie Ziesche gelaufen, und statt Halt zu finden und Sicherheit hab ich erleben müssen, wie mir ein Mensch immer gleichgültiger wurde, so schauerlich gleichgültig, dass mich heut noch friert, wenn ich daran denke.

   "Komm essen", sagte Gomulka.

   Auf der Veranda war der Mittagstisch mit unübersehbarem Aufwand an Porzellan und Silber für acht Personen gedeckt. Gomulka stellte vor: "Mein Freund Werner Holt." Seine Mutter war eine stattliche Frau, blond und blauäugig. Holt hörte Namen von Tanten und Nichten. Rechtsanwalt Doktor Gomulka war ein Mann von fünfzig Jahren, mit schütterem grauem Haar und einer dunklen Brille, dennoch wie ein Doppelgänger seines Sohnes anzusehen. Er sagte höflich: "Ich freue mich wirklich sehr, Herr Holt!" Er pflegte verschiedene Wörter seiner Rede über Gebühr zu betonen.

   Man aß eine Aprikosenkaltschale, dann Aprikosenauflauf, Aprikosenkompott, und statt des Kaffees gab es einen sehr dünnen, aber echten Tee, dazu Aprikosenkuchen. "Sie sehen", sagte Frau Gomulka, "der Garten ernährt seinen Mann." Das Tischgespräch bestritten fast ausschließlich Gomulka und sein Vater. Es dauerte nicht lange, bis Holt die leise Gereiztheit heraushörte, die im Gespräch zwischen Vater und Sohn mitschwang. Aus Höflichkeit beantwortete er dann und wann eine Frage; der ungeduldige Wunsch, mit sich allein zu sein, verstummte erst, als sie im engeren Kreise am Tisch sitzen blieben.

   Die Verwandtschaft zog sich zurück.

   "Wir hätten Sie gern schon früher einmal bei uns gesehen", begann der Rechtsanwalt in einem Ton, als sage er: Herr Präsident, meine Herren Geschworenen! "Lassen Sie uns ein paar offene Worte sprechen. Ihre Klasse hat Verluste gehabt, dreizehn Tote, wenn ich recht informiert bin... Wie schätzen Sie Ihre weiteren Aussichten ein?"

   "Wir haben Glück gehabt", antwortete Holt. "Gilbert Wolzow meint immer, der Himmel verlässt die alten Krieger nicht." - "Ein zweckoptimistisches Wort", entgegnete der Rechtsanwalt, "finden Sie nicht? Rauchen Sie? Bitte. Danke, ich bediene mich selbst." Er setzte eine Shagpfeife in Brand.

   Frau Gomulka sagte, die Teetasse in der Hand: "Jede Mutter möchte ihren Sohn wiederhaben." Gomulka rief heftig: "Mama! Du wolltest nicht wieder davon anfangen!" Sie wies ihn zurecht: "Ich glaubte dich besser erzogen zu haben, als dass du dir einen solchen Ton erlauben dürftest." Der Wortwechsel erfüllte Holt mit Missbehagen.

   "Ihr Vater", begann der Anwalt wieder, während er seine Brille abnahm, "wenn ich recht unterrichtet bin, so ist er gemaßregelt worden... Sie gestatten, dass ich davon spreche? Hat er sich nie mit Ihnen über die weitere Perspektive unterhalten? Haben Sie nicht gewisse Grundsätze für eine zweckentsprechende Verhaltensweise vereinbart?" Ehe er Holt ansah, setzte er seine Brille wieder auf.

   Gewisse Grundsätze? Zweckentsprechende Verhaltensweise? Holt sagte abwehrend: "Mein Vater ist ein Sonderling, er hat keinen Sinn fürs Praktische... Sepp und ich, wir haben uns natürlich mal überlegt, wie wir uns verhalten wollen. Aber es kommt doch immer ganz anders. Zum Beispiel die endlose Fehde mit den Hamburgern, da sind wir hineingeraten, ohne es gewollt zu haben."

   Der Rechtsanwalt sog unzufrieden an seiner Pfeife. "Damit Sie mich recht verstehen: ich bin ein Gegner der Handlungsnormen. Ich bin überhaupt gegen jede Norm. Sie sollen durchaus kein Schema suchen. Es gibt da zum Beispiel Soldaten, deren Gedanken in das Schema gepresst sind: Nie freiwillig melden! Dieses wie jedes Schema ist unbedingt falsch. Der Mensch bedarf der Elastizität. Ich wünschte, ihr Jungen besäßet diese Elastizität. Die heutige Zeit, oder besser: die Gegenwart... unsere Epoche jedenfalls neigt zur Ãœberbewertung des starren Prinzips und setzt es über die Entscheidung des einzelnen."

   Holt hatte das Gefühl, der Anwalt schleiche mit seinen Worten um ihn herum wie die Katze um den heißen Brei. Holt suchte keine Antwort, er suchte den Widerspruch, er wusste nicht, warum; es ging ihm ähnlich wie Weihnachten bei seinem Vater. "Entschuldigen Sie, Herr Doktor. Ich weiß nicht, ob das stimmt, was Sie sagen. Während der diesjährigen russischen Angriffe im Mittelabschnitt, da wurde die Rolle des Einzelkämpfers besonders hervorgehoben, eines Kämpfers also, der auf die persönliche Initiative und die Freiheit seiner Entscheidung angewiesen ist."

   "Zweifellos!" sagte der Anwalt sarkastisch. "Wobei diese Handlungsfreiheit ebenso unbeabsichtigt erteilt als auch von vornherein eingeengt worden ist." - "Eingeengt? Wodurch?" fragte Holt nervös. "Nun... Durch die totale Ausrichtung des einzelnen. Eben durch das, was ich die heute gültigen Normen nenne. Kampf bis zur Selbstaufopferung zum Beispiel, Ehrlosigkeit jeder Kapitulation. Und so weiter."

   "Ohne zwingenden Grund", sagte Holt herausfordernd, "halte ich Kapitulation allerdings für unehrenhaft." Er war davon durchaus nicht überzeugt. Hatte nicht Sepp erzählt: Der Oberst Barnim soll mit seinem Regiment kapituliert haben...?

   Der Rechtsanwalt sah Holt mit einem forschenden Blick an, ehe er die Brille abnahm. "Persaepe accidit, ut utilitas cum honestate certet", sagte er bedächtig. "Sehen wir davon ab, den Ehrbegriff zu erläutern, den Sie da ins Feld führen. Gut, gut... Sie haben recht, ich habe ihn ins Feld geführt. Es genüge vielmehr die Frage, ob Sie sich in der Lage fühlen zu beurteilen, wann denn der 'zwingende Grund' gegeben sei. Aber lassen wir das."

   Gilbert müsste hier sein, dachte Holt verärgert, er würde ihm schon erklären, unter welchen Umständen eine Kapitulation gerechtfertigt ist! Das Gespräch war ihm zuwider. Gomulka mischte sich ein. "Entschuldige, Papa. Das Gerede führt zu nichts. Damit ist uns nicht gedient. Solche Spitzfindigkeiten", sagte er mit erhobener Stimme, "würzen vielleicht ein Tischgespräch, aber sie geben uns keinen Halt."

   "Nein, nein", entgegnete der Anwalt, "ganz recht, gewiss nicht Â… Aber es gibt erst recht keinen Halt, wenn man sich über tiefgehende innere Zerwürfnisse hinwegsetzt."

   "Wobei es wahrscheinlich ist", rief Gomulka geradezu verbittert, "dass sich gewisse Zerwürfnisse, die ich lange mit ansehen musste, erst recht demoralisierend ausgewirkt haben!"

   Der Rechtsanwalt sog an seiner Pfeife. Er furchte die Stirn. Frau Gomulka hob den Blick und sagte kühl: "Ich glaube, im letzten Jahr haben sich ganz andere Dinge demoralisierend auf dich ausgewirkt." Gomulka war erregt: "Wofür ihr nicht das geringste Verständnis habt!"

   Der Rechtsanwalt nahm die Pfeife aus dem Mund. "In entscheidenden Fragen", sagte er ruhig, wenn auch tadelnd, "hast du deine Eltern niemals anders als einmütig gesehen. Deine Anspielung auf gewisse Zerwürfnisse verdient also äußerst taktlos genannt zu werden, noch dazu in Gegenwart eines Gastes. Est adulescentis maiores natu vereri." Diese Phrase schien Gomulka noch mehr zu verbittern, denn er rief: "Stultus es... qui facta infecta facere verbis cupias! Lass doch die weisen Sprüche, Papa, dein Latein imponiert mir ja nun weiß Gott nicht!" - "Und was unser angebliches Unverständnis für deine Erlebnisse im Ruhrgebiet anbelangt", fuhr der Anwalt mit unerschütterlicher Ruhe fort, "so wollen wir mit ihrer Hilfe lediglich deinen Gesichtskreis erweitern. Lassen wir das. Ich habe diese Differenzen vorausgesehen und nehme dir nichts übel. Denn wo anders als zu Hause vermöchtest du auch, deinem jugendlichen Oppositionsdrang ungestraft nachzugehen?"

   Holt war diese Szene peinlich. Er sagte, so unbefangen wie möglich: "Bitte erlauben Sie, dass ich mich verabschiede." Vielleicht hatte er den unglückseligen Streit durch seinen Widerspruch provoziert. "Mein Widerspruch war ungehörig", sagte er aufrichtig, "und er war falsch. Man verteidigt oft nach außen hin Dinge, die... hier innen drin ganz und gar nicht so klar sind. Vielleicht verteidigt man sie gerade deshalb! Auf Wiedersehen, gnädige Frau. Danke, es wird schon schiefgehen. Heil Hitler, Herr Doktor."

   Sepp brachte ihn durch den Vorgarten. Er war noch immer aufgeregt. Holt sagte beschwichtigend: "Nimm´s doch nicht so tragisch, Sepp! Ich kenn das! Mit meinem Vater geht mir´s genauso." - "Aber der Wahnsinn ist ja, dass er recht hat!" rief Gomulka. "Er hat recht, ja! Aber ich kann´s nicht zugeben, nicht so ohne weiteres, ich kann nicht!" - "Schwimm dich frei, Sepp", sagte Holt, "wir müssen selber durch den Dreck!"... Durch die sieben Höllen, dachte er.

   Er ging die Allee entlang. Schluss jetzt mit der Selbstzerfleischung! Ich denk nicht dran, mich selber fertigzumachen! Auf einen imaginären Punkt schauen, dachte er, und vorwärts, marsch!

   Er schaute bei den Tennisplätzen auf der Parkinsel eine Weile dem Spiel zweier Mädchen zu. Dann wartete er auf der Brücke. Es war schon drei Uhr vorbei. Er lehnte mit dem Rücken am Holzgeländer, in der sengenden Sonne, und warf den Zigarettenrest in das faulige, abgestandene Wasser. "Nun komm schon", sagte er laut. Er sah immer wieder auf die Uhr und wunderte sich, dass von Mal zu Mal kaum Minuten verstrichen waren. Die Zeit ist aus den Fugen! Er sagte: "Komm!" Aber als sie dann aus der engen Gasse in den Inselweg einbog, erschrak er und stand wie festgenagelt am Geländer. Sie ging langsam über die Brücke, als sehe sie ihn nicht. Erst als er ihren Namen rief, blieb sie stehen.

   "Ich wusste ja gar nicht, ob dir´s ernst war", sagte sie unbefangen und sah aus großen Augen zu ihm auf. "Ich war komisch gestern, nicht? Ich hab erst über alles nachdenken müssen." - "Ich war komisch", widersprach er. "Ich hab unmögliches Zeug geredet, da musste ich dir ja ganz unheimlich werden!" Sie lachten beide; das nahm die letzte Befangenheit. "Gehn wir baden? Wir können auch ein Stück wandern." "Wie du willst", antwortete sie.

   Gleich hinter dem Gerichtsgebäude führte ein Feldweg den Berg hinan und mündete in einen breiten und stillen Waldweg. Holt litt unter der Hitze und zog die Mütze durchs Koppel. Auf der Höhe wehte der Wind dann kühlend über sie hin. Holt erzählte, was ihm gerade einfiel, von Wolzows "schlagartiger Aktion" gegen die Hamburger, damals, vor dem Weihnachtsurlaub.

   "Der große?" fragte sie. "Ist das dein Freund? Ich glaube, er... hat kein Herz." Er fragte verblüfft: "Wie meinst du das?"- "Gestern, als sie alle vorbeigingen", sagte sie, "da hat er mich angeschaut. Er sieht so ... gleichgültig aus." - "Aber er ist ein treuer Freund", rief Holt, und er rief es gleichsam auch sich selbst zu. Er erzählte weiter und gab sich Mühe, die Situation anschaulich zu schildern, wie Wolzow das Aquarium nach Günsches Bett geworfen hatte ..."Das ist schrecklich!" rief Gundel. "Und die Fische?" - "Es waren keine drin", log Holt, "bloß leere Schneckenhäuser, Steine und so was." - "Ich glaube, er hätte es auch mit den Fischen hingeworfen", sagte sie. Holt schwieg. Er sah Wolzow im Biologiezimmer Zickels Zierfische an die schnurrende Katze verfüttern...

   Der Wald nahm sie auf. Der Weg war kühl und schattig. In den Wipfeln rauschte das Laub. "Du sagst ja gar nichts mehr." Er meinte: "Ich überleg. Hab ich auch kein Herz?" - "Du musst nicht gekränkt sein", sagte sie. "Ich wollte deinen Freund nicht beleidigen." Er fand sie eigenartig, ganz anders als die Mädchen, die er kannte. "Die anderen", begann er vorsichtig, "haben gesagt, du sonderst dich ab... du weichst allen aus... Aber warum hast du mich dann gestern nicht weggeschickt?"

   "Ich weich allen aus", wiederholte sie, "ja, das stimmt. Die einen wissen nichts und reden immerfort von Zusammennehmen. Das ertrag ich nicht. Die anderen wissen nur die Hälfte und haben Mitleid, oder sie heucheln. Mitleid mag ich nicht. Ãœberhaupt... ich pass nicht zu denen." - "Und ich?" fragte er. "Bei dir", sagte sie nachdenklich, "hatte ich das Gefühl, du... könntest wirklich mich meinen." - "Das versteh ich nicht", entgegnete er. - "Ich weiß schon, was ich sagen will. Ich kann es bloß nicht richtig ausdrücken... Außerdem könnte es ja sein, dass du mich brauchst." In einer impulsiven Regung streckte er die Hand nach ihr aus. Sie wich zur Seite, bis an den Rand des Weges, doch dann folgte sie ihm durch das kniehohe Farnkraut zum Waldrand, wo die Sonne auf Brombeerhecken fastete. Der gelbe Roggen neigte sich schwer im Wind. Jenseits des Talgrundes auf dem Hügelrücken ragte der Rabenfelsen in den Himmel. "Setz dich", sagte er, "der Boden ist trocken, es gibt auch keine Ameisen hier."

   Sie saß mit untergeschlagenen Beinen im Gras und zupfte einen Faden aus dem Rocksaum. Holt legte sich lang auf den Boden und verschränkte die Hände unter dem Kopf. "Erzähl mir was." Er sah, dass sie überlegte. "Du hast keine Eltern mehr? Erzähl mir von deinen Eltern." Sie zögerte und sah zu dem schwarzen Basaltfelsen hin. "Von meinem Vater weiß ich nichts", sagte sie schließlich. "Ich kann mich kaum noch an ihn erinnern. Ich war erst vier Jahre alt, als er verhaftet wurde."

   Verhaftet? Sie kann kein... Verbrecherkind sein... Hätte ich bloß nicht gefragt! dachte er müde... Sie beobachtete ihn.

   "Es war im Februar 1933", erzählte sie. "Er ist nie wiedergekommen, aber er hat noch lange gelebt, in einem Lager. Ich war schon elf Jahre alt, als die Todesnachricht kam, am 3. August 1940. Meine Mutter hat nie von meinem Vater gesprochen. Aber als der Brief kam, da war sie weiß wie die Wand. Ich hör noch jedes Wort. Sie hat gesagt: 'Ich hab geschwiegen, weil ich gedacht hab, ich kann ihm helfen, dass er zurückkommt... Aber jetzt', hat sie gesagt, 'jetzt kann ich nicht mehr schweigen.' Ich hab das nicht verstanden. Ein paar Tage später ist sie abends zu mir ans Bett gekommen. Sie hat gesagt: 'Sie haben deinen Vater bespuckt, sie werden auch deine Mutter bespucken, aber du darfst niemals glauben, was sie von uns behaupten.' "

   Gundel flüsterte nur noch. "Von diesem Tag an war alles durcheinander. Ich hab oft gehört, wie meine Mutter nachts fortgegangen ist, wir hatten ja nur Stube und Küche. Im Dezember, am 9. Dezember, als ich aus der Schule kam, da war die Polizei da. Sie haben mich gefragt und gefragt, und nachher hat mich eine Frau mitgenommen und hat mich geschlagen, ich soll sagen, was ich weiß. Ich wusste nichts. Dann bin ich in ein Heim für verwahrloste Jugendliche gebracht worden. Im Frühjahr haben sie meine Mutter sechsmal zum Tode verurteilt und gleich hingerichtet." Sie schwieg. "Nun weißt du´s. Ich bin auch schon angespuckt worden. Im Heim, da waren Mädchen, die gestohlen hatten und noch viel schlimmeres, aber die waren alle besser als ich. Und alle haben auf mich geschrieen: 'Dreckstück'..." Ihr Gesicht war verschlossen. "Geh! Lauf ruhig weg! Ich brauch keinen." Er lag unbeweglich und starrte in den Sommerhimmel, bis die Augen schmerzten. "Sprich zu niemandem darüber!" sagte er endlich. "Dass nur dir nichts geschieht."

   Ihr Gesicht wurde weich. Er sagte leise: "Ich weiß nicht, wie lang der Krieg noch dauert. Ich weiß nicht, was los ist in der Welt und was aus mir wird. Manchmal denk ich, das ist alles nur ein böser Traum. Wenn ich heimkomm aus dem Krieg, dann musst du noch da sein. Ich weiß sonst nicht, wo ich hingehen soll." Sie sagte: "Wirst du mich auch nicht gleich wieder vergessen?" Er riss einen Getreidehalm ab und warf ihn ins Feld zurück. "Nein." Auf einmal lachte sie. "Ich glaube, jetzt kann ich dir auch sagen, was ich gedacht hab, vorgestern, auf der Straße." Sie blinzelte in die Sonne, die schon dicht über dem Rabenfelsen stand. "Ich hab gedacht: Der müsste mein Bruder sein." - "Dein Bruder?" Holt war verwirrt, und sie fragte auch noch: "Möchtest du nicht mein Bruder sein?"

   Er richtete sich auf. Aber nun sah er nicht nur das Gesicht mit den großen Augen und dem kindlichen Mund, sondern auch die nackten braunen Arme, die junge Brust, die das knappe Kleid schlecht verbarg, die winzigen Füße mit den Holzsandalen, die unter dem ausgebreiteten Kleidersaum hervorsahen. "Nein. Nicht dein Bruder", sagte er und sprang auf. "Komm. Es wird bald Abend." Er hielt ihr die Hände bin und half ihr aufzustehen, einen Augenblick standen sie unbeweglich voreinander, dann riss sie sich los. Er folgte ihr, sie gingen durch den Wald stadtwärts.

   Es dämmerte. Zwischen den Bäumen herrschte ein durchsichtiges Halbdunkel. Der Pfad teilte sich. Holt wählte den längeren Weg. Eine Bank stand zwischen den Sträuchern, er zog Gundel neben sich auf den Sitz und fasste ihre Hände. Dann hob er sie auf seinen Schoß. Ihr Kopf lag an seiner Schulter. Er legte den linken Arm um sie und strich ihr mit der Rechten das Haar aus der Stirn. Etwas wie Mitleid überkam ihn, er sagte: "Du bist noch so jung!" Sie antwortete mit geschlossenen Augen: "Du doch auch!" Er küsste sie, nur flüchtig. "Nicht doch", sagte er, "du musst den Mund nicht so fest zumachen! Die Lippen nur ganz leis aufeinander legen..." Sie begann plötzlich zu lachen: "Probier´s noch mal!" Er küsste sie wieder, sie hatte begriffen. "War´s jetzt richtig?" fragte sie. Er antwortete: "Das darfst du mich doch nicht fragen, du dummes Kind, wenn dir´s gefällt, dann war´s richtig." Sie hob ihm schon wieder die Lippen entgegen, sie fand Gefallen daran. Er zog sie fester an sich. Sehr behutsam, um sie nicht zu erschrecken, legte er die Hand auf ihre Brust. Sie wollte etwas sagen, aber er drückte ihr Gesicht fest an sich, dann öffnete er ihr das Kleid bis hinab zum Gürtel, sie trug darunter nur den Badeanzug. Er fühlte ihre warme Haut, er streifte den Träger des Badeanzugs über die Schulter und strich mit den Fingerspitzen hauchzart über die Wölbung ihrer Brust. Sie seufzte: "Ich hab Angst." Aber sie legte den nackten und kühlen Arm um seinen Hals.

   Er kam zu sich und erschrak so sehr, dass er sie fast von sich stieß. "Was ist?" fragte sie. Er zog sie ganz sacht wieder zu sich heran, er sprach, den Mund in ihrem Haar: "Nichts. Du gefällst mir. Du bist wie... eine Elfe." Sie sagte unvermittelt: "Du hast recht."

   "Womit hab ich recht?"

   "Dass du nicht mein Bruder sein willst."

   Das überwältigte ihn. "Wenn der Krieg vorbei ist", sagte er, "dann komm ich und hol dich. Wenn du mich nur bis dahin nicht vergessen hast!" - "Ich dich vergessen!" rief sie. Er erhob sich und trug sie ein paar Schritte weit, und während er sie auf den Weg stellte, lag sie eine Sekunde lang an seiner Brust wie das kleine Mädchen mit den roten Schuhen. Er presste sie hilflos an sich und barg das Gesicht in ihrem Haar.

   Er ging langsam durch die winkligen Gassen. Wolzow war noch nicht zu Hause. Holt saß lange am offenen Fenster. Er konnte durch die Sommernacht bis hinab zum Fluss sehen. Nach Mitternacht polterte Wolzow ins Zimmer, staubig und verschwitzt. "Das war ein Gewaltmarsch!" Er warf ein schweres Bündel auf den Tisch: "Unsere Schießeisen!" Das Leder der Taschen war feucht und verschimmelt. Holt hielt den belgischen Browning in der Hand, ein paar Rostflecke auf dem dunklen Stahl ließen sich abreiben. Sie rauchten Zigarren und putzten die Waffen. Wolzow war merkwürdig wortkarg. "Was hast du?" fragte Holt. "Ich? Nichts", antwortete Wolzow. Er zog den Schlitten der Walther-Pistole zurück und ließ eine Patrone in den Lauf schnappen, zielte auf das ausgestopfte Rebhuhn und drückte ab. Der Schuss krachte in dem engen Zimmer wie eine Kanone, der Pulverdampf wehte zum offenen Fenster hinaus. Wolzow warf die Pistole auf den Tisch. Im Haus wurde es lebendig. Von unten rief jemand: "Was ist... Um Gottes willen!" Wolzow sprang zur Tür und brüllte: "Ruhe! Sonst kracht´s noch mal!" Dann saß er wieder auf dem Bett. "Und du?" fragte er übellaunig. "Warst du bei der Kleinen? Spinnt sie denn nun wirklich? So genannte traumatische Neurosen sind das, gibt es im Krieg häufig, 'Kriegsneurosen', das sind bloß abnorme Reaktionen, gab´s auch schon früher, ich glaube, ich habe schon bei Altgeld in 'Sanitätsdienst im Felde' drüber gelesen. Meistens ist es nur Simulation. Was denkst du, wie die das während des Weltkrieges in den Lazaretten des 16. Armeekorps gemacht haben? Da haben sie den Kriegsneurosen Gewaltexerzieren verordnet, dreimal täglich vier Stunden, du kannst dir nicht vorstellen, wie das geholfen hat! In acht Tagen waren schwere Fälle von Schüttlern und Verkrümmten wieder fronteinsatzfähig..."

   Als Holt auf seinem Feldbett lag und einschlief, sah er Wolzow wieder über den schwarzen, in Wachstuch gebundenen Heften sitzen und lesen, mit finsterem und verschlossenem Gesicht.

   Am anderen Morgen gegen elf erwachte Holt durch ein Klopfen an der Tür. "Runterkommen, die Post ist da!"

   Die Briefträgerin ließ sie beide unterschreiben. Holt sah den Umschlag. Er las nur den Stempel: "Frei durch Ablösung Reich". In einem Schwindelgefühl lehnte er sich gegen den Türpfosten.

   Wolzow riss den Umschlag auf und las laut vor: "Sie haben sich... Mensch, das war vorgestern!... bei der RAD-Abteilung 2/461..." Sie gingen wieder die Treppe hoch, Wolzow bürstete seine Uniform. Die Briefe waren von Gelsenkirchen an die Batterie und von dort an Wolzows Adresse nachgeschickt worden. Wolzow befahl: "Du holst den Sepp!" Aber Holt lief die Gasse hinab.

   Er fand das Haus wieder, riss die Tür auf und stieg die Treppe hoch. Es war dunkel hier, die Luft roch muffig. Hinter dem ersten Treppenabsatz kniete Gundel und scheuerte die hölzernen Stufen. Als sie ihn hörte, wandte sie den Kopf. Ihr Gesicht leuchtete auf. Sie war barfuss und trug eine graue Kleiderschürze. Verwirrt strich sie sich mit dem Handrücken eine Haarsträhne aus der Stirn.

   "Ich muss fort!" sagte er. "Ich muss dich noch mal sprechen." - "Du musst fort?" fragte sie fassungslos. "Schon heute?" Oben schlug eine Tür. Eine Frauenstimme rief: "Gundel! Mit wem schwatzt du?" Holt sah, wie Gundel erschrak, warnend den Finger auf die Lippen legte und hastig weiterarbeitete. Eine große, derbe Frau mit wirrem Haar stand auf der Treppe und lehnte sich schimpfend über das Geländer. Als sie Holt sah, rief sie erschrocken: "Guten Tag... was wollen Sie?"

   "Heil Hitler!" schrie Holt. Warte, dir werd ich! dachte er, während er die Hacken zusammenknallte. "Heil Hitler heißt das, nicht guten Tag, wo gibt´s denn so was!" Das Gesicht der Frau lief rot an. "Das brauchen Sie mir..." - "Offenbar doch!" schrie Holt, von einer grimmigen Freude erfasst, und er versuchte, Hauptmann Kutschera nachzuahmen: "Mal herhörn! Ein Benehmen wie die Banditen!" Die Frau schielte argwöhnisch nach oben, wo geräuschvoll eine Tür aufgerissen wurde, und sagte: "Aber machen Sie doch kein..." Benagelte Sohlen polterten die Treppe herab, ein Mann beugte sich über das Treppengeländer, ein vierschrötiger Kerl mit grauem Stutzbärtchen und Glatze; er trug schwarze Reithosen und Stiefel, und das Netzhemd ließ die behaarte Brust sehen. "Was is´n hier los fragte er.

   Durchhalten! Jetzt ist schon alles egal! Holt bellte: "Was hier los ist? Die Frau da empfängt einen, dass man denkt, man ist in der Pollackei! An den Baum binden und auspeitschen!" Das saß. Der Kerl sagte drohend: "Haste wieder dein ungewaschnes Maul... - Los, du, verschwinde!" Und zu Holt: "Nu sei mal friedlich, Kamrad... - Was willste denn?" Jetzt fort! dachte Holt, planmäßig absetzen! "Ich will die Eltern eines gefallenen Kameraden besuchen", sagte er. "Nadler, das muss hier wo sein." - "Nadler?" wiederholte der Kerl auf der Treppe und überlegte. "Da biste aber schiefgewickelt, da biste falsch, aber komm erst mal hoch." Holt zögerte. Die Neugier ließ ihn die Treppe hinaufsteigen.

   In einer großen Wohnküche lungerten fünf Kinder herum, ein sechstes lag in einem Korb am Fenster. Der Kerl zog sich einen schwarzen SS-Rock über und sagte zu den Kindern: "Hagen, Wulf, haut ab ... Raus, Annegret, nimm die Kleinen mit, dalli!" Dann ließ er sich auf das Sofa fallen: "Nimm Platz!" Holt studierte die Rangabzeichen. Es wurde Zeit zu verschwinden. "Ich bitte um Entschuldigung, Unterscharführer, ich konnte natürlich nicht wissenÂ…"

   "Nu setz dich erst mal", sagte der Kerl. "Is schon gut, hast ja recht, dieses Weibszeug spurt nicht, was hab ich nicht schon versucht! Erzähl mal, wo kommst´n her?" - "Gelsenkirchen", sagte Holt einsilbig. "Ja richtig! Die Jungs von hier sin ja alle dort unten... Und wie, sieht´s dort nu aus?" - "Wie soll´s denn aussehen", sagte Holt. "Es wird gearbeitet, trotz der Bomben, die Leute sind zähe." - "Na also", meinte der Kerl befriedigt. "Hier gibt´s Gerüchte, du ahnst es nicht... von Demoralisation un so... Unser Mädel spielt sich wer weiß wie auf, bloß weil sie in Schweinfurt was aufs Dach gekriegt hat... Hab ich längst durchschaut... von der Arbeit drücken will sich das Aas! Du musst´s ja nu wirklich wissen." Holt erhob sich. "Ich hab heut die Einberufung zum RAD bekommen, irgendwo im Protektorat muss das sein, nach der Slowakei hin."

   "Slowakei? Feine Ecke haste da erwischt!" Der Kerl nickte freundlich mit dem kahlen Schädel. "Die dort unten sin ganz schön frech... Zugüberfälle, Brückensprengungen un so, immer freiweg, wern immer frecher, un die Russen setzen nachts welche mit´m Fallschirm ab... Na, unsre gehn da jetzt aber ran, die wern hingemacht, das geht eins fix drei." - "Vorher muss ich noch aufs Meldeamt, wegen der Adresse", sagte Holt, "ich hab nur noch ganz wenig Zeit..." - "Hals- und Beinbruch", sagte der Kerl und führte Holt zur Küchentür, "halt die Ohren steif! - Hagen", schrie er, "Wulfi, Annegret, Heidrun, könnt wieder reinkomm!"

   Holt lief die Treppe hinab. Im Vorbeigehen drückte er Gundels Hand. "Nach drei... wieder an der Brücke, ja?" Sie nickte. Holt stand vor dem Haus, erschüttert, verstört. Auf dem Wege zu Gomulkas dachte er: Sie muss dort raus!

   Bei Gomulkas öffnete niemand. Aus der Wohnung dröhnte Radiomusik bis auf die Straße. Holt klingelte und klopfte, nichts rührte sich. Er lief durch den Garten. Die Verandatür stand offen. Holt trat ins Haus. "Sepp!" Er trat in die Diele. Das Radio dröhnte so laut, dass eine Vase auf dem Fensterbrett klirrte. Auf einmal verstummte die Musik. In der Stille hörte Holt durch die angelehnte Speisezimmertür Gomulkas Stimme, in einer fremden Sprache, langsam und betont. Nun die Stimme des Rechtsanwaltes: "Das Kroatische macht dir die meisten Schwierigkeiten, du musst es jeden Abend in Gedanken wiederholen! Jetzt noch einmal auf Russisch!" Komisch, dachte Holt, wirklich komisch! Wieder hörte er Gomulkas Stimme fremdartige, konsonantenreiche Worte formen...

   "Sepp!" rief Holt. In diesem Augenblick setzte wieder das Radio ein. Frau Gomulka erschien in der Tür. "Entschuldigen Sie vielmals, ich habe geklingelt, geklopft, gerufen..." Sie führte ihn unbefangen ins Speisezimmer. "Wir haben Sie erwartet. Was meinen Sie, wann Sie reisen müssen?" - "Heute noch", sagte Holt. "Komm mit, Sepp, zu Wolzow!" Gomulka ging, sich anzukleiden. Holt hockte trübselig auf einem Stuhl. Sie muss raus dort, dachte er. "Herr Doktor", sagte er in plötzlichem Entschluss, "dürfte ich Sie wohl um... eine Unterredung bitten?"

   Der Anwalt wechselte einen Blick mit seiner Frau. "Aber gern!" Er führte Holt in sein Arbeitszimmer. An den Wänden standen Regale mit Hunderten von Büchern. Holt, in einem Klubsessel, wurde ein unbehagliches Gefühl nicht los. Worauf lass ich mich da bloß wieder ein?

   "Es ist... wegen gestern", begann er stockend. "Ich bin mir darüber im Klaren... Ich will sagen, man kann sich so furchtbar täuschen, aber bei Ihnen glaube ich..." - "Aber ich bitte Sie!" unterbrach ihn der Anwalt. "Der kleine Streit ist doch nicht der Rede wert... Uns muss es peinlich sein, nicht Ihnen! Zwischen den Vätern und den Söhnen gibt es gelegentlich Differenzen, das hat doch nichts zu bedeuten." Er erhob sich. "Sie verstehen mich falsch", sagte Holt schnell. "Ich wollte nur erklären, warum ich gerade zu Ihnen... warum ich mich gerade an Sie... es ist eine... Vertrauensfrage."

   Doktor Gomulka setzte sich wieder. "Immer frisch von der Leber weg! Reden Sie ohne Hemmungen! Sie wissen, ich bin in der Partei, Sie brauchen also keinerlei diesbezügliche Scheu zu haben. AndererseitsÂ… ich versichere Sie, dass ich Ihnen zuhören werde, als wären Sie mein leiblicher Sohn."

   "Ich habe eine Freundin hier", sagte Holt, und er schaute auf den Anwalt, denn er fürchtete insgeheim, ausgelacht zu werden. "Es ist ein sehr junges Mädchen. Sie heißt Gundel Thieß."

   "Thieß, Thieß?" wiederholte der Anwalt. "Warten Sie. Ich entsinne mich. Das braucht Sie gar nicht zu wundern, ich kenne so gut wie jeden hier. Thieß... Ja, da war ein Vorgang, eine Vormundschaftssache..." - "Das könnte stimmen", sagte Holt eifrig, "denn sie hat keine Eltern mehr..." - "Ich erinnere mich jetzt genau. Sie hat beide Eltern durch... recht unglückliche Umstände verloren. Vor einiger Zeit wurde die Vormundschaft neu verfügt. Womit kann ich Ihnen dienen?"

   "Ich war heut dort, wo sie im Pflichtjahr ist", sagte Holt langsam. Der Anwalt unterbrach ihn abermals. "Sind Sie über die... Ereignisse informiert, die den Tod ihrer Eltern zur Folge hatten? Ja? Dann erlauben Sie mir zunächst die Frage, ob Sie sich nicht veranlasst sehen, die Verbindung zu dem Mädchen zu lösen."

   "Wenn Sie das von mir erwarten", sagte Holt heiser, und er war enttäuscht, "dann..." - "Nichts, gar nichts erwarte ich", entgegnete der Anwalt ruhig. "Ich frage nur. Sie sehen Sich also nicht veranlasst. Gut. Es passt zu dem Bilde, das Sepp von Ihnen zeichnete. Nun weiter. Bitte."

   "Ich war heut dort. Sie können sich das Milieu kaum vorstellen, und die Menschen..." - "Ich kann es mir vorstellen", sagte der Anwalt. "Ich kenne den Herrn. Er ist in einer bestimmten Abteilung der Gefangenen-Anstalt beschäftigt. Er genießt auch sonst den Ruf, ein... beispielhafter Nationalsozialist zu sein. Ãœberdies ist er der Vormund des Mädchens. Gewisse Bestrebungen, dies zu verhindern, waren nach Lage der Dinge zum Scheitern verurteilt."

   "Kann man sie dort nicht wegholen?" fragte Holt. "Kann man ihr nicht helfen?"

   Der Anwalt antwortete unumwunden: "Nein. Jura noscit curia. Glauben Sie mir, da ist keine Möglichkeit, überhaupt keine, vorerst nicht. Es gibt viele solcher oder ähnlicher Fälle", sagte er und blickte zur holzgetäfelten Decke. "Es gibt weitaus schlimmere. Sie können sich nur in das Heer der Wartenden einreihen."

   "Warten", sagte Holt, "worauf?"

   Der Anwalt strich sich durch das schüttere Haar. "Credo rem integram restitutum iri", flüsterte er. Dann lächelte er schwach und sagte: "Dass der Märchenprinz unser verwunschenes Kind bald befreie!"

   Sepp riss die Tür auf. Holt erhob sich. "Ich danke vielmals, Herr Doktor." Der Anwalt sagte: "Sie sollen sich nicht sorgen, lieber Werner Holt. Das Mädchen ist nicht so völlig verlassen, wie Sie glauben." Er begleitete die beiden Jungen bis an die Gartentür.

   Holt grübelte. Manches Wort des Anwalts blieb unklar. Er sagte zu Gomulka: "Ich finde deinen Vater großartig, Sepp!" Gomulka erwiderte nachdenklich: "Ja... Ich versteh mich ja auch mit ihm. Nur manchmal... da ist es mir zu einfach, was er sagt. Es ist in Wirklichkeit viel komplizierter."

   Wolzow saß inmitten der Unordnung seines Zimmers und las in den schwarzen Heften. Sein Rucksack stand gepackt an der Tür. Er sagte: "Wir fahren achtzehn Uhr, über Prag. Das Nest liegt an der slowakischen Grenze. Vielleicht werden wir gegen Partisanen eingesetzt. Ich hab mit Essen telefoniert, Gottesknecht lässt euch grüßen. Schau nicht so dumm, Sepp, hau ab! Punkt vier treffen wir uns im Cafe am Markt."

   Als Gomulka gegangen war, sagte Holt: "Da hat unser Urlaub ein verdammt schnelles Ende gefunden." Wolzow rauchte und las schweigend weiter. "Diese Tagebücher", sagte Holt, "hätten mich ja auch mal interessiert. Da müssen doch tolle Sachen drinstehen, nicht?" Wolzow legte den Kopf auf die Seite. "Wie meinst da das?" fragte er. "Was soll das heißen?"

   Holt blickte verwundert auf. "Na... nichts! Ich mein bloß so! Dein Vater war Oberst, das muss doch interessant sein, was er da schreibt!" Er schob den Rucksack zur Tür. "Gib mir eine Zigarre. Danke." Er rauchte. "Ich wollte mich über viele Dinge mit dir unterhalten. Zum Beispiel... dieses Attentat. Ich versteh das noch immer nicht."

   Wolzow sprang auf und starrte Holt ins Gesicht, aber dann bückte er sich und holte unter dem Holztisch eine Rotweinflasche hervor. "Jetzt hör mal zu", sagte er, während er zwei Gläser füllte. "Jetzt werd ich dir mal was sagen." Er rief: "Ein Wolzow verabscheut diese Verräter! Ein Wolzow hält seinem Kriegsherrn die Treue!... Mein Onkel ist seit 1930 in der Partei, und wir sind seit 1742 Offiziere, und da hat noch keiner seinen Treueid gebrochen!" Er hielt den Packen der Tagebücher in der Hand. Nun warf er ihn auf den Tisch, dass die Weingläser überschwappten. "Ein Wolzow steht zum Führer", rief er und schlug mit der flachen Hand auf die schwarzen Hefte, "und zeigt, was soldatische Haltung ist! Jetzt beginnt für uns ein neuer Abschnitt, jetzt wird es ernst! Geb´s Gott, dass der Krieg noch zwei Jahre dauert, dann sollst du erleben, was ein deutscher Offizier ist."

   Er weiß, was er will, dachte Holt, wenn er auch Wolzows Erregung nicht recht verstand. Alles oder nichts, die Halben soll der Teufel holen! Sie tranken. "Auf gute Kameradschaft!" rief Wolzow. Er hielt Holt die Parabellum hin. "Zeig sie nicht rum, bis wir mal im Einsatz sind."

   Holt sah auf die Uhr. Er nahm einen Zettel und schrieb die Adresse seines Vaters auf. Er bat Wolzow: "Nimm meinen Rucksack mit, ich komm später." Er lief durch die Straßen zur Parkinsel.

   Holt wartete länger als eine halbe Stunde.

   "Ich muss auf die Kinder aufpassen", sagte Gundel, atemlos vom schnellen Lauf. "Ich hab nur zehn Minuten Zeit..." Er zog sie über die Brücke in die Anlagen und redete auf sie ein. "Denk an alles, was ich dir gesagt hab: ich komm wieder! Ich schreib dir postlagernd, geh ab und zu fragen. Schreib mir, sooft du kannst, ja? Und hier... die Adresse meines Vaters." Sie las den Zettel. "Doktor Richard Holt?" - "Er ist Professor. Aber jetzt hat er eine ganz armselige Stellung, weil er... Ich hab so gut wie keine Verbindung zu ihm. Aber wenn du je im Leben hinkommen solltest, sag, dass wir uns kennen. Du kannst ihm alles erzählen, da wird er dir bestimmt helfen." Er nahm ihre Hand, eine rissige, verarbeitete Kinderhand. "Leb wohl, Gundel!" Sie sagte: "Komm wieder, Werner... Und werd nicht so... so, wie du heute morgen warst!" - "Ich hab doch Theater gespielt!" rief er. "Ich hab meinen Hauptmann nachgeahmt!" - "Ich weiß", sagte sie. "Aber etwas davon ist auch in dir." Er fühlte den Druck ihrer Hand. Sie wandte sich ab. Er rief sie noch einmal zurück, zog das Kästchen aus der Brusttasche und legte Utas Kreuz mit dem Kettchen in ihre Hände. "Ich habs vor einem Jahr geschenkt bekommen, von einem Mädchen, das vielleicht gar nicht mehr lebt..."

   Sie schaute lange auf das rote Gold und flüsterte die Jahreszahl: Sechzehnhundertzweiundneunzig..."

   "Lies, was da steht", bat er. Sie buchstabierte die verschnörkelte winzige Gravierung. Dann lief sie davon.

   Er ging durch die Anlage und schaute über den Fluss.

   Im Cafe saßen Wolzow und Gomulka zwischen den Mädchen. Auch Wurm war dabei. Wolzow führte große Reden, er war angetrunken. Gomulkas Gesicht war gerötet. Wolzow rief: "Die Olle rückt nur Bier raus!... Da hat Stammführer Wurm eine Pulle von daheim geholt! Bist eben doch ein guter Kerl, was?" Er schlug ihm kräftig auf die Schulter. Man drückte Holt ein Glas in die Hand. Jemand rief: "Trinkspruch!" Wolzow sprang auf und brüllte, dass die Adern auf seiner Stirn schwollen: "Schlägt´s dich in Scherben, ich steh für zwei, und geht´s ans Sterben, ich bin dabei!" - "Wir müssen zur Bahn", mahnte Gomulka. Ein Bierglas fiel vom Tisch und zerbrach. Holt warf den Rucksack über die Schulter. Der Stahlhelm klirrte gegen einen Stuhl. Auf einen imaginären Punkt schauen, dort, über der Tür, und: vorwärts, marsch!

   Im Zug holte Wolzow eine Karte aus dem Rucksack. "Mal die Örtlichkeit studieren. Miese Gegend! Berge, Wälder, tief eingeschnittene Schluchten. Günstig für Kleinkrieg! Gut, dass ich das klassische Infanteriewerk von Boguslawski mitgenommen hab!"


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 21.01.2023 - 19:37